Freiheitsentzug: unumgänglich oder obsolet?
eran, eraus ... an elo?
Wenn in der Öffentlichkeit über den Strafvollzug geredet wird, gehen die Meinungen weit auseinander. „Menschenunwürdige Bedingungen, Gefängnisse abschaffen“, sagen die einen. „Die Verbrecher haben es viel zu gut, diesen Hotelvollzug haben sie nicht verdient“, sagen die anderen. Bei kaum einem anderen Thema haben so viele Leute eine so dezidierte Meinung, ohne dass sie jemals in Berührung mit der Justiz oder einem Gefängnis gekommen wären. Gegen die gängige Schwarzweißmalerei wollen wir in diesem Artikel angehen, indem wir zuerst die Situation in den luxemburgischen Gefängnissen beleuchten und die allgemeinen Probleme des Strafvollzugs darstellen. Zuletzt geht es darum, mögliche Alternativen zum Freiheitsentzug und zur aktuellen Strafjustiz aufzuzeigen.
Bestandsaufnahme
Profil der Häftlinge in Luxemburg
Im Aktivitätsbericht des Justizministeriums für das Jahr 20191 kann man Folgendes lesen:
- Geschlecht: Rund 5 % der Gefängnisinsassen in Luxemburg sind weiblich – rund 95 % männlich. Weltweit liegt die Anzahl der weiblichen Insassen zwischen 5 % und 8 %.
- Alter: Das Durchschnittsalter der Insassen lag am 1. Januar 2020 in Luxemburg bei 37,52 Jahren – das mediane Alter lag bei 36 Jahren. Der jüngste Insasse war 18 Jahre und der älteste 82 Jahre alt.
- Herkunft: Fast 70 % der Insassen stammen aus der Europäischen Union – ungefähr 20 % aus Afrika. Von den Insassen aus der Europäischen Union sind: 39 % Luxemburger, 24 % Portugiesen, 13 % Franzosen und 10 % Rumänen.
- Hauptgrund einer Untersuchungshaft: 30 % der Untersuchungshäftlinge kommen in U-Haft wegen eines Drogendelikts.
- Hauptgrund einer Verurteilung: 21,5 % werden wegen eines Verkehrsdeliktes verurteilt.
Anzahl der Gefängnisinsassen in Luxemburg2
Laut SPACE I-2019 Studie geht die Anzahl der Häftlinge in den (westlichen) europäischen Länder seit dem Jahr 2009 ununterbrochen zurück – Luxemburg folgt diesem europäischen Trend. Die Referenzzahl in dieser Hinsicht ist die Anzahl der Häftlinge pro 100.000 Einwohner. Im Jahr 2016 lag diese Zahl noch bei einem sehr hohen Wert von 122,3 (im Vergleich zu unseren Nachbarländern: Frankreich: 102,6, Belgien: 102,7, Deutschland: 78,4). Am 31. Januar 2019 lag diese Zahl bei 108,2 (im Vergleich zu unseren Nachbarländern: Frankreich: 103,2, Belgien: 94,9, Deutschland: 76,7).
Dieser wichtige Indikator liegt in Luxemburg also deutlich höher als in unseren Nachbarländern. Aber auch im europäischen Vergleich schneidet Luxemburg nicht gut ab: Liechtenstein: 31,3, Schweiz: 81,3, Niederlande: 56,4, Norwegen: 60,6, Finnland: 49,8, Dänemark: 68,9.
Es ergibt keinen Sinn, diese Zahl des Europäischen Rates am europäischen Mittelwert (oder Medianwert) zu orientieren, da die Untersuchung auch zahlreiche Länder berücksichtigt, bei denen man nicht unbedingt von einem funktionierenden Rechtsstaat ausgehen kann, wie zum Beispiel: Albanien: 184,4, Russland: 386,1, Türkei: 329.
Besonders sticht die Tatsache hervor, dass Luxemburg einen sehr hohen Anteil an Untersuchungshäftlingen hat – 48,8 % der Insassen sind Untersuchungshäftlinge (im Vergleich zu unseren Nachbarländern: Frankreich: 29 %, Deutschland: 19,9 %).
Die Gründe hierfür sind sicherlich vielfältig. Zum einen zieht sich die Zeitspanne von einer Inhaftierung bis zu einem Prozess in Luxemburg sehr lange hin. Eine Wartezeit von zwei bis drei Jahren bei mittelschweren Kriminalfällen ist die Regel. Zum anderen gilt die Fluchtgefahr bei einem Untersuchungshäftling als einer der drei Haftgründe (neben der Verdunkelungsgefahr und der Wiederholungsgefahr), und natürlich ist diese in einem kleinen Land besonders groß. Eine kürzere Dauer bis zum Prozess, das Einziehen des Passes sowie die Möglichkeit eines europäischen Haftbefehles könnten diese Situation jedoch entschärfen.
Seit dem Inkrafttreten des Gesetzes N°627 vom 28. Juli 2018 besteht außerdem die Möglichkeit, die Inhaftierung eines Untersuchungshäftlings durch eine Fußfessel zu ersetzen. Auf Nachfrage bei der Pressestelle der Justizverwaltung wurde uns jedoch bestätigt, dass noch niemals auf diese Möglichkeit zurückgegriffen wurde.
Gefängnisplätze in Luxemburg
CPL: 597 Plätze
CPG: 113 Plätze
CPU: 300 Plätze vorgesehen
Unisec: 12 Plätze
Gesamtzahl der Gefängnisplätze in Luxemburg: 1.0223
Mit über 1.000 Gefängnisplätzen für 620.000 Einwohner liegen wir ohne Zweifel im europäischen Spitzenfeld. Fairerweise muss jedoch erwähnt werden, dass es Pläne gibt, die Zahl der Gefängnisplätze im CPL um die Hälfte zu reduzieren. Der vorherige Justizminister Felix Braz (déi gréng) hatte von einem Rückbau des CPL gesprochen, sobald der CPU im Jahre 2023 in Betrieb sei. Die aktuelle Justizministerin Sam Tanson hat sich für einen kompletten Abriss des CPL ausgesprochen.4 Anschließend würde dann ein kleineres, zeitgemäßes Gefängnis an dieser Stelle errichtet. Die Frage muss jedoch erlaubt sein, ob die sehr hohen Investitionen (u. a. CPU: 155 Millionen Euro zusätzlich zu den sehr hohen Personalkosten) der letzten Jahre nicht an anderer Stelle (soziale Begleitung, Schulen, Krankenhäuser) sinnvoller gewesen wären.
Der Hauptgrund, das Gefängnis in Sanem (CPU) in Planung zu nehmen, war der Wunsch, Untersuchungshäftlinge und verurteilte Häftlinge getrennt voneinander unterbringen zu können. In einer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage des Abgeordneten Marc Baum5 antwortete die Justizministerin jedoch Folgendes: „Au CPU, il n’y aura pas de blocs réservés aux femmes alors que celles-ci resteront incarcérées au CPL.“
Der folgenden Bemerkung aus dem Bericht des Ombudsmans6, Claudia Monti, aus dem Jahr 2017 bleibt nichts hinzuzufügen: „Le Médiateur a eu connaissance qu’il n’est pas prévu de transférer les femmes prévenues au CPU. Le Médiateur se demande s’il ne s’agit pas d’une différence de traitement et d’une discrimination difficilement justifiables.“
Welchen Einfluss die Kapazität an Gefängnisplätzen auf die Anzahl der Häftlinge haben kann, belegt eindrucksvoll die Periode 2002-2006: Nach dem Ausbau des CPL erhöhte sich die Anzahl der Insassen von fast 300 auf fast 700 innerhalb von vier Jahren. Dank der neuen Gesetzgebung des Jahres 2018 dürfte eine ähnliche Evolution nicht mehr möglich sein – das gefürchtete Prinzip, plus on construit, plus on remplit, muss auf jeden Fall verhindert werden, zumal die Kriminalitätsrate in Luxemburg in den letzten (und hoffentlich auch in den nächsten) Jahren eher stabil ist.
Schwachstellen der Resozialisierung
Im Gesetz N°626 vom 28. Juli 2018 steht Folgendes: „L’objectif de la mise en œuvre des peines privatives de liberté est de concilier la protection de la société, la sanction du condamné et les intérêts de la victime avec la nécessité de préparer l’insertion de la personne détenue afin de lui permettre de mener une vie responsable et de prévenir la commission de nouvelles infractions.“
Neben den Interessen der Opfer, der Verbüßung der Schuld und dem Schutz der Gesellschaft dient der Strafvollzug also dem Ziel, die Gefangenen zu befähigen, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen. Eine Vorbereitung auf das Leben in Freiheit – und das in Unfreiheit – ist natürlich sehr schwierig, und oft begünstigen die Haftbedingungen das Rückfallrisiko sogar noch, anstatt ihm entgegenzuwirken.
Die Resozialisierung eines Straftäters ist ein sehr komplexes Unterfangen – es gibt nicht wenige Leute, die behaupten, dass eine solche Änderung zum Positiven eines Menschen gar nicht möglich sei und vor allem nicht mit der bestehenden Auffassung des Strafvollzugs. Auf jeden Fall ist Resozialisierung nur möglich, wenn die Schwachstellen des Vollzugs klar benannt werden und auch in Luxemburg versucht wird, diese zu beheben. Die Liste der Punkte, die in Luxemburg nicht optimal funktionieren, ist zu lang für diesen Artikel. Aus diesem Grund wollen wir uns auf folgende zwei Aspekte beschränken: Gefängnis macht einsam – Gefängnis macht arm7.
Vereinsamung
Fast alle Straftäter kommen irgendwann wieder auf freien Fuß. Wenn aber die Wiedereingliederung in die Gesellschaft funktionieren soll, dann benötigen die meisten Häftlinge dafür Freunde und Familie. Es muss also während der Haft alles Mögliche getan werden, um die Beziehungen zur Familie und zu den Freunden aufrechtzuerhalten.
In Luxemburg scheitert dieses Unterfangen an den desaströsen Infrastrukturen der Besucherräume – es stehen nur zwei karge Räume im CPL zur Verfügung, wo die Besuche in einer unpersönlichen Atmosphäre stattfinden. Auch Besuchsmöglichkeiten, die bei Eheleuten die Gelegenheit zu intimen Kontakten einschließen, fehlen in Luxemburg. Auch Eltern-Kind-Programme, wie sie in vielen anderen europäischen Ländern üblich sind, werden in Luxemburg nur halbherzig umgesetzt.
Das Gesetz N° 626 vom 28. Juli 2018 sieht Folgendes vor: „Les visites ont lieu soit en la présence, soit hors la présence d’un membre du personnel de l’administration pénitentiaire.“ Dieses Gesetz hat also den Weg frei gemacht für eine zeitgemäße Besucherorganisation. Die Abteilung Contrôle externe des lieux privatifs de liberté des Ombudsmans schrieb hierzu: „Cette disposition est positive pour deux raisons, alors qu’elle permettra d’abord aux détenus de rencontrer leurs proches et surtout leurs enfants dans un cadre plus adapté. Ceci contribue assurément au maintien des relations essentielles entre la mère ou le père détenu(e)s et son ou ses enfants. […] En deuxième lieu, cette disposition ouvre la possibilité à accorder aux personnes détenues des visites dites ,intimes‘. Il s’agit certainement d’une avancée appréciable et les expériences faites à l’étranger en la matière s’avèrent très positives pourvu que la possibilité de recevoir des visites ,intimes‘ soit bien définie.“8 Die positiven Punkte dieses Gesetzes wurden allerdings bis dato nicht umgesetzt.
Viele Häftlinge verlieren auch ihren Freundeskreis – in einem kleinen Land wie Luxemburg spricht es sich schnell herum, dass man im Gefängnis sitzt. Die übertriebenen und auf Skandal getrimmten Berichterstattungen der Luxemburger Presse tragen ihr Übriges dazu bei, dass viele Leute einen straffälligen Freund eher fallen lassen, als ihn zu unterstützen oder wenigstens mal zu hinterfragen, ob das, was „so erzählt“ wird, auch wirklich stimmt. Dazu kommt, dass viele Häftlinge im Gefängnis die falschen Leute kennenlernen, mit denen sie sich dann zusammentun, weil die sogenannten Freunde von draußen sich auf einmal nicht mehr melden.
Die Isolierung eines Straftäters wird aber auch durch die fehlende Digitalisierung im Gefängnis gefördert. Straftäter müssen aber digitale Kompetenzen für das Leben nach der Haft erlernen. Schon die ersten Schritte nach der Entlassung – Job- und Wohnungshilfe – erfordern digitale Fähigkeiten. Ein Konzept zur Förderung derselben in luxemburgischen Gefängnissen müsste sehr schnell ausgearbeitet und umgesetzt werden.
Ein letzter Punkt ist das mangelhafte Angebot kultureller Programme in den luxemburgischen Gefängnissen. Das spärliche Angebot ohne durchdachtes Konzept reicht nicht aus, um die Resozialisierung durch Kultur zu fördern. Im Ausland ist die sogenannte Knastkultur seit vielen Jahren als wesentlicher Baustein der Resozialisierung etabliert.
Armut
Eine Person, die in den Knast kommt, verliert zwangsläufig ihren Arbeitsplatz und damit meistens auch ihre Haupteinnahmequelle. Hohe Anwalts- und Gerichtskosten sowie teilweise auch hohe Ansprüche der Zivilklage führen sehr häufig in eine Situation des finanziellen Ruins, von der sich sehr viele Häftlinge zeitlebens nicht mehr erholen. Verlässt ein Insasse das Gefängnis ohne finanzielle Polster, ist die Gefahr, rückfällig zu werden, besonders hoch. Je weniger Geld die Inhaftierten nach der Haft haben, desto höher das Risiko.
Ein Ausweg aus dieser Lage wäre sicherlich, dass die erbrachte Arbeit der Häftlinge im Gefängnis angemessen bezahlt würde. Ob jetzt sofort der gesetzlich festgeschriebene Mindestlohn gezahlt werden muss, darüber lässt sich streiten – dass jedoch viele Häftlinge in Luxemburg einen Stundenlohn von unter zwei Euro bekommen, ist sicherlich nicht mehr der heutigen Zeit angepasst. Der Rechtsstaat verpasst hier die Chance, etwas ganz Wichtiges zu vermitteln: dass sich ehrliche Arbeit lohnt!
Neben der fehlenden Basis für einen erfolgreichen Start in das Leben nach dem Gefängnis fehlt vielen Häftlingen zudem das Geld, um ihre Familie während der Haftdauer finanziell zu unterstützen. Es gibt zahlreiche Fälle von Insassen, die nicht in der Lage sind, Unterhalt für ihre Kinder zu bezahlen.
An dieser Stelle muss auch das leidige Thema der Rentenbeiträge erwähnt werden. Während der Haftdauer ist es Häftlingen zurzeit nicht möglich, in die staatliche Rentenkasse einzuzahlen. Dies bedeutet vor allem für Häftlinge mit längeren Haftstrafen, dass sie in ihrem letzten Lebensabschnitt keine Rente bekommen, mit der sie über die Runden kommen, was eine zusätzliche Hürde bei der Resozialisierung darstellt.
Ein letzter beschämender Punkt ist das fehlende Angebot an Ausbildungsmöglichkeiten in Schrassig. In den Mindestgrundsätzen der Vereinten Nationen für die Behandlung der Gefangenen (Nelson-Mandela-Regeln) lautet Regel 98/2: „Für Gefangene, die daraus Nutzen ziehen können, insbesondere für junge Gefangene, ist eine Berufsausbildung in nützlichen Berufen anzubieten.“ Die Möglichkeit, eine Ausbildung zu absolvieren, ist ein wichtiger Bestandteil einer erfolgreichen Wiedereingliederung in die Gesellschaft – und dies insbesondere für junge Häftlinge mit mehrjährigen Haftstrafen.
In Schrassig gibt es genügend Werkstätten (Buchbinderei, Küche, Atelier für Mechanik usw.) und ausgebildetes Personal (die sogenannten maîtres d’enseignement techniques), das ohne zusätzliche Maßnahmen sofort mit der Ausbildung in den verschiedenen Berufen anfangen könnte – wie es übrigens bis vor ein paar Jahren die Regel war. In Luxemburg aber wird nicht viel Wert auf die Einhaltung der Regel 98 der Mindestgrundsätze der Vereinten Nationen für die Behandlung der Gefangenen gelegt – im neuen Gefängnis in Sanem sind zum Beispiel nicht einmal Werkstätten vorgesehen.
Der langjährige Gefängnisdirektor und Autor Thomas Galli zeichnet in seinem neuen Buch ein eher düsteres Bild der Resozialisierung: „Aus den Gefängnissen werden mehrheitlich keine Menschen entlassen, die etwas Sinnvolles gelernt und die notwendigen Fähigkeiten erworben haben, um künftig ein straffreies Leben zu führen. Es werden frustrierte, gedemütigte, verbitterte, geschwächte, teils lethargische oder aggressive Menschen entlassen.“9
In den meisten Gefängnissen verpasst der Staat die Chance, Menschen mit Schwierigkeiten zu helfen und ihnen einen neuen Lebensweg zu ermöglichen, weil er sie nicht mit Respekt behandelt und ihnen nicht vorlebt, wie man sich außerhalb der Gefängnismauern benimmt. Es ist also wahrlich eine Herausforderung für die Politik, die Resozialisierung der Strafgefangenen grundlegend zu verbessern.
Der Übergang
Ein letzter wichtiger Punkt bei den Schwachstellen der Resozialisierung ist das Übergangs-Management zwischen dem Leben im und dem Leben nach dem Gefängnis. Das geplante, aber bisher nicht realisierte Projekt maisons de transition wurde im Regierungsprogramm von 2018 durchaus erwähnt: „Les travaux relatifs à la création de maisons de transition seront poursuivis afin de continuer à promouvoir la réinsertion sociale des détenus.“10
In Luxemburg kann man davon ausgehen, dass pro Jahr 50 bis 60 Personen das Gefängnis verlassen, ohne eine angemessene Wohngelegenheit zu haben. Dieses Übergangs-Management wäre also ohne Zweifel ein zentraler Aspekt bei der erfolgreichen Resozialisierung haftentlassener Menschen.
Caritas acceuil et solidarité ASBL legte im Jahr 2018 ein ausführliches Konzept11 vor, das die Schaffung solcher halfway houses in Luxemburg vorsah. Im April desselben Jahres wurde während der Veranstaltung Conférence et Journées d’études au sujet des Maisons de transition der ideologische Grundstein für dieses mehr als nötige Konzept erarbeitet. In den drauffolgenden Monaten wurde von Caritas acceuil et solidarité ASBL alles Mögliche unternommen um die maisons de transition voranzubringen. Es ist unverständlich, warum das Justiz- und das Familienministerium bis heute noch immer kein grünes Licht für dieses Projekt gegeben haben.
Alternativen zum Strafvollzug
Jemand, der kriminell geworden ist, der ein Problem hat, die Regeln der Gesellschaft zu befolgen, muss für seine Taten verantwortlich gemacht werden. Die Frage ist, ob man weiterhin das „Strafen durch Freiheitsentzug“ in den Vordergrund stellen will. Müssten nicht unter anderem die hohen Rückfallquoten Ansporn sein, verstärkt auf Alternativen zum Vollzug zurückzugreifen?
In verschiedenen Ländern wird bereits verstärkt auf alternative Strafen gesetzt – und zwar ohne dass es einen erheblichen Einfluss auf die Kriminalitätsstatistik respektiv das Sicherheitsgefühl hätte. Herausragendes Beispiel hierfür sind ohne Zweifel die Niederlande: Hauptgrund für die leer stehenden niederländischen Gefängnisse ist, Experten zufolge, die Tatsache, dass weniger auf Freiheitsstrafen und mehr auf alternative Strafen gesetzt wird. Bei leichten Delikten ohne Gewalt – und die machen den größten Teil aller Straftaten aus – versuchen es die Niederländer erst einmal im Guten: mit Verwarnungen, Geldbußen, Arbeitsstrafen oder elektronischer Fußfessel. Bei den allerschwersten Delikten, also Mord und Totschlag, verhängen niederländische Richter zwar härtere Strafen als ihre europäischen Kollegen, aber sobald keine Gewalt im Spiel ist, fallen die Haftstrafen relativ milde aus.
Professor emeritus Peter Tak aus Nimwegen, Experte für vergleichendes Strafrecht in Europa, sagt hierzu: „Dahinter steckt die Überzeugung, dass Gefängnisaufenthalte nicht unbedingt sinnvoll sind. Dass es sehr oft nicht nötig ist, jemanden hinter Gitter zu bringen, eben weil es Alternativen gibt, mit denen sich sein Verhalten sehr viel besser korrigieren und beeinflussen lässt.“12
Sogar die Europäische Union hat in ihrem Amtsblatt vom 16. Dezember 2019 empfohlen, den Freiheitsentzug verstärkt durch alternative Sanktionen und Maßnahmen zu ersetzen. Der Freiheitsentzug solle nur als letztes Mittel (Ultima Ratio) eingesetzt werden. Alternative Maßnahmen zum Freiheitsentzug sollen die Resozialisierung von Straftätern fördern und damit einer Rückfälligkeit entgegenwirken. Dies ist nicht nur im Interesse der Straftäter, sondern auch im Interesse der Gesellschaft. Alternative Maßnahmen sind Bewährungsstrafen, gemeinnützige Arbeit, finanzielle Sanktionen und elektronische Überwachung.
Leider können wir im Rahmen dieses Artikels nicht näher auf alle Alternativen zum Freiheitsentzug eingehen. Trotzdem wollen wir kurz auf die „moderne“ Variante des Strafvollzugs, und zwar den elektronisch überwachten Hausarrest eingehen. Die Vorteile dieser Maßnahme liegen auf der Hand: Der elektronisch überwachte Straftäter kann weiter für sich sorgen, seinen Lohn empfangen und seine sozialen Kosten tragen. Dazu kann er den Kontakt zu seiner Familie halten und für seine Kinder da sein. Er wird eben nicht durch die Inhaftierung aus seinem familiären und beruflichen Umfeld herausgerissen.
Den (wenigen) Kritikern der elektronischen Fußfessel ist diese Maßnahme nicht streng genug – sie finden, dass der Straftäter hierdurch nicht genug leidet. Durch den kurzen COVID-Lockdown (knapp drei Monate) dieses Jahres, haben jedoch sehr viele Leute bemerkt, dass es sich bei dieser Alternative sicherlich nicht um eine Art Kuschelvollzug handelt. Deshalb ist es umso unverständlicher, dass diese sinnvolle und wesentlich billigere Maßnahme in Luxemburg nicht häufiger eingesetzt wird. Laut Jahresbericht des Justizministeriums sind im Jahr 2019 nur 55 Straftäter durch eine elektronische Fußfessel überwacht worden – was eine Abnahme von ungefähr 30 % zu den Jahren 2015/16 bedeutet, und dies, obwohl diese Möglichkeit durch das Gesetz N°627 vom 28. Juli 2018 verstärkt angewandt werden sollte.
Neben den Alternativen zum klassischen Strafvollzug muss auch über eine Individualisierung der Strafe nachgedacht werden. Anstatt allen Straftätern, egal welcher Straftat sie sich schuldig gemacht haben, dieselben Strafen aufzubürden, müssten die Strafen stärker an die jeweilige Persönlichkeit und berufliche Situation des Täters angepasst sein. Ist es sinnvoll, einen Straftäter mit fester Anstellung für eine Haftstrafe von vier Jahren aus seinem Beruf zu reißen? Oder wäre es nicht besser, wenn er tagsüber seiner Arbeit nachgehen und die restliche Zeit im offenen Vollzug verbringen könnte.
Eine solche Individualisierung der Strafe ist jedoch nur möglich mit einer angepassten architektonischen Gefängnisstruktur – der Bau von kleineren Strukturen (maximal 50 Häftlinge) wäre in dieser Hinsicht sinnvoll und zeitgemäß. Der Ombudsman sah das in seinem Bericht von 2017 ähnlich: „La première [piste] serait de planifier, à moyen ou long terme, la conception d’une deuxième prison semi-ouverte, d’une taille plus ou moins identique, voire inférieure à celle du CPG. Il serait par exemple imaginable qu’une pareille structure soit conçue pour prendre en charge les détenus auxquels une semi-liberté a été accordée.“13
Alternative zur Strafjustiz: Restaurative Justiz
Die restaurative Justiz steht für einen Paradigmenwechsel in der Strafjustiz: das Befinden der Opfer wird in den Mittelpunkt gestellt und nicht die Bestrafung des Täters.
Für das Konzept der restaurativen Justiz gibt es eine Vielzahl von Definitionen. Eine umfängliche Definition wird von Gene Sharp geboten: „Restaurative Justiz (RJ) ist eine Art Justiz, die ihre Energie auf die Zukunft richtet, nicht auf das, was in der Vergangenheit liegt. RJ konzentriert sich auf das, was geheilt, zurückgezahlt und nach einem Verbrechen erlernt werden muss. Das Ziel ist zu stärken, was gestärkt werden muss, damit solche Dinge nicht wieder passieren.“14
Das Konzept der restaurativen Justiz hat es auch in das luxemburgische Koalitionsabkommen von 2018 geschafft: „La mise en œuvre de la justice restaurative prévue à l’article 8.1 du code de procédure pénale sera poursuivie. Elle vise à proposer, en règle générale après la fin du procès, des entretiens sur une base volontaire entre victimes et auteurs au centre desquels se situe la responsabilité personnelle à l’égard des victimes jusqu’à la réparation des préjudices causés. La mise en place de la justice restaurative sera poursuivie afin de créer un cadre adéquat dans lequel la victime et l’auteur d’une infraction peuvent travailler ensemble et de façon volontaire sur une réparation aussi complète que possible des préjudices causés par l’infraction.“15 Leider hat man, mit Ausnahmen bei kleineren Delikten, noch nicht viel von der konkreten Umsetzung dieser Idee gehört.
Vielleicht spielt das Strafen noch immer eine zu große Rolle in der heutigen Justiz. Weder die Abschaffung der Todesstrafe noch das Verbot der Prügelstrafe für Kinder hat unsere Gesellschaft in eine Katastrophe geführt – im Gegenteil: Ein Rechtsstaat, der weniger Gewalt ausübt, erntet in der Regel eine gewaltfreiere Gesellschaft. Wäre es also nicht an der Zeit, das aktuelle Verständnis des Strafens durch Freiheitsentzug auch in Luxemburg grundlegend zu überdenken?
- https://gouvernement.lu/fr/publications/rapport-activite/minist-justice/mjust/2019-rapport-activite-mjust.html, S. 507f. (alle Internetseiten, auf die in diesem Beitrag verwiesen wird, wurden zuletzt am 27. Oktober 2020 aufgerufen).
- Alle Zahlen dieses Kapitels stammen aus der letzten Studie des Europäischen Rates: SPACE I-2019 – Prison Population.
- Vgl. die Info-Box auf S. 32.
- https://www.wort.lu/fr/luxembourg/la-prison-de-schrassig-entierement-reconstruite-5e4122ffda2cc1784e355e2d
- www.chd.lu: Question parlementaire N°2597.
- www.ombudsman.lu: Rapport de visite 3 janvier au 31 mars 2017, S. 12.
- Auch der sehr zentrale Punkt, dass Gefängnis krank macht, kann in diesem Artikel leider nicht behandelt werden.
- www.ombudsman.lu: Rapport de visite 3 janvier au 31 mars 2017, S. 35
- Thomas Galli, Weggesperrt. Warum Gefängnisse niemanden nützen, Hamburg, Edition Körber, 2020, S. 49.
- https://gouvernement.lu/fr/publications/accord-coalition/2018-2023.html, S. 25.
- Caritas acceuil et solidarité ASBL, Description détaillée du projet pilote des „Maisons de Transition“, Luxembourg, 2018.
- https://www.deutschlandfunk.de/leere-haftanstalten-in-den-niederlanden-frueher-gefaengnis.795.de.html?dram:article_id=460284
- www.ombudsman.lu: Rapport de visite 3 janvier au 31 mars 2017, S. 39.
- https://www.swissrjforum.ch/deutsch/defini.html
- https://gouvernement.lu/fr/publications/accord-coalition/2018-2023.html, S. 25.
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