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"Réhumanisez-moi. 9 vies en suspens" von Association Passerell

Réhumanisez-moi. 9 vies en suspens.
von Association Passerell, Luxemburg, Maison Moderne, 2020, 117 S., € 25,-.

Die Bilder der sogenannten „Flüchtlingskrise“ mit Hunderten von Menschen, die über Feldwege wandern, auf Booten zusammengepfercht sind oder in Lagern ausharren, haben unsere Wahrnehmung nachhaltig geprägt. Und doch gab es auch Versuche, den Geflüchteten auf Fotos, in Porträts, Interviews, auf Internetplattformen, in Büchern, sogar Filmen ein Gesicht zu geben, sie aus dem Strom einer anonymisierten Masse herauszuheben und für sich selbst sprechen zu lassen. Diese Versuche hat es auch in Luxemburg gegeben, punktuell, mal mehr, mal weniger medienwirksam. Das, was der 2016 gegründete Verein „Passerell“ in seinem kürzlich erschienen Buch Réhumanisez-moi. 9 vies en suspens leistet, ist trotzdem anders.

Erzählt werden neun von insgesamt über 700 Geschichten, die die Mitglieder des luxemburgischen Vereins in den nunmehr fast vier Jahren ihrer Arbeit mit Menschen, die ihre Heimat verlassen mussten, gehört haben. Es sind Berichte über neun Menschen, deren Namen anonymisiert wurden, übermittelt und gerahmt aus der Perspektive jener, die sie stellvertretend wiedergeben. So unterschiedlich die einzelnen Lebensläufe auch sind, sie alle kommen in den Akten der Einwanderungsbehörde zusammen, von wo aus sie lückenlos rekonstruiert und einer gnadenlosen Prüfung um Echtheit, Authentizität, Glaubwürdigkeit unterzogen werden müssen. Einige dieser Geschichten finden aber eben auch ihren Weg zu Passerell. In den geschilderten Martyrien um Zwangsrekrutierung, Verfolgung, Sklaverei, Menschenhandel, Zwangsarbeit, Organraub und -handel, Genitalverstümmlung, Vergewaltigung, Altersnot, Krankheit, bestialische Gewalt und Tortur sucht man vergeblich nach Menschlichkeit.

Die Aufforderung „Réhumanisez-moi“ impliziert sprachlich gesehen zweierlei: Die Wiederherstellung oder Revidierung eines ehemaligen Zustandes, in erster Linie aber eben auch den Verlust der Menschlichkeit, jener Eigenschaft, die dem Menschen als wesenseigen und unveräußerlich, und deren Schutz als gesetzlich verbürgt gilt. Sie ist als eine doppelte Aufforderung zu verstehen: Das Einzelschicksal hinter dem Asylantrag anzuerkennen und die Rechtspraxis des Asylrechts zu humanisieren, das letztlich zum Prüfstein unseres Rechtsstaates wird, der sich daran messen lassen muss, wie sehr er die Rechte der Schwächsten achtet. Für diese Diskrepanz zwischen Rechtstheorie und Rechtspraxis will der Verein sensibilisieren, um den Menschen hinter dem „Pink Paper“ – in Anlehnung an die Asylantragsbescheinigung, die in Luxemburg auf rosa Papier ausgestellt wird – durch Beratung, Aufklärung, Vermittlung und Vernetzung dabei zu helfen, ihre Rechte geltend zu machen.

Passerell hält mit seiner Einschätzung der Dinge nicht hinter dem Berg. So zum Beispiel, wenn der Verein in der Einleitung zum Buch einen Ausschnitt aus einem Beschluss des Verwaltungsgerichts zitiert und mit dem zuständigen Richter hart ins Gericht geht. Und die Unverblümtheit der offenen, direkten und präzisen Kritik überrascht. Sie richtet sich an unterschiedliche Akteure und stellt u. a. die Arbeitsethik der i.d.R. kostenlosen Rechtsvertretung in Frage, offenbart den unverfrorenen Zynismus der Einwanderungsbehörde und prangert die Fehlbarkeit eines Systems an, das an dem Einzelnen versagt, wenn es fragmentarische Erinnerungen aus Angst verzerrter, durch Traumata verdrängter oder aus Scham ausgesparter Erlebnisse als Inkongruenzen in den Lebensnarrativen derer wertet, die unter Generalverdacht stehen, jenen Behördenapparat austricksen zu wollen, der selber vor menschlichem Versagen, kulturell bedingten Fehlinterpretationen, Amts- und Übersetzungsfehlern nicht gefeit ist. Und dennoch ist Réhumanisez-moi kein Rundumschlag, sondern ein wichtiges Dokument der luxemburgischen Asylpolitik, das einer gewissen Brisanz nicht entbehrt und ein zusätzliches Licht auf ein System wirft, das Einzelfälle nur soweit berücksichtigen kann, solange sie nicht zum Präzedenzfall für andere werden. SC

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