Frisch gedruckt

19 10 PM. Points de rencontre littéraire

Fotografien von Philippe Matsas, hg. v. Ludivine Jehin & Claude D. Conter, Mersch, CNL, 2020, 256 S., € 35,-.

„Der Luxemburger Schriftsteller neigt dazu, ein weißer alter Mann zu sein.“ Zu diesem Ergebnis kam neulich der Rezensent vom Lëtzebue­rger Land anlässlich seiner Besprechung des hier vorgestellten Buches. Da hat er sich etwas verrechnet. Von den 32 Autor*innen, die in diesem Band vertreten sind, ist fast ein Drittel weiblich. Und wenn Nora Wagener, Elise Schmit, Antoine Pohu, Carla Lucarelli oder Anna Leader alt sind, was sind denn dann Lambert Schlechter und Anise Koltz? Nein, der Band entfaltet ein recht diverses Panorama des Luxemburger Literaturbetriebs. Und er tut das unter einer sehr präzisen Aufgabenstellung: Der Fotograf Philippe Matsas wurde vom Centre national de littérature (CNL) beauftragt, die 32 Autor*innen zuhause zu besuchen und in ihrem natürlichen Habitat zu fotografieren. Die Porträtierten haben dann im Oktober 2019 ein Tagebuch geführt und es für das Buch zur Verfügung gestellt. In den spannenden Momenten liest sich das nun wie ein multiperspektivischer Roman, wenn die Protagonist*innen das gleiche Ereignis aus ihrer jeweiligen Sicht schildern, in den langweiligen Momenten erfährt man etwas über kulinarische Vorlieben.

Also: Was bringt das Ganze? Es ist im Prinzip komplett überflüssig. Die Welt hätte sehr gut ohne dieses Buch auskommen können. Aber – auch ohne Wein ist ein Leben möglich. Es wäre jedoch weniger schön. So verhält es sich auch mit dieser Publikation: Man hätte sie nicht gebraucht, aber sie durchzublättern macht großen Spaß. 19 10 PM ist ein schönes Coffeetable-Book, das man gerne anschaut. Matsas hat die Autor*innen meisterhaft in Szene gesetzt. Alle Posen sind dabei: Autorin im Fenster­rahmen, Autor mit Katze, Autor am Schreibtisch, Autorin am Schreibtisch, Autorin auf Sofa, aufgeräumtes Wohnzimmer, Chaos auf dem Tisch, Autorin im Park, Autor in der Subway, Mann auf Zebrastreifen, Mann an Straßenschildern, Hund auf Teppich, Zigarette im Mund, Bleistift im Aschenbecher, und immer wieder eine Gitarre im Ständer. Die Autor*innen selbst wählen für ihr Tagebuch die unterschiedlichsten Herangehensweisen. Jeff Schinker stellt seinen ellenlangen Aufzeichnungen eine ebenfalls ziemlich lange Vorbemerkung voran, die sein Vorgehen erläutert, während Samuel Hamen sich so lustig über das Ansinnen des CNL macht, dass man Herausgeberin und Herausgeber dankbar ist, dass sie den Text überhaupt aufgenommen haben. Einige führen kurze Listen, andere schreiben lange Texte. Und was haben die Leser*innen davon? Der Voyeurist wird befriedigt (wer lebt wie? wer telefoniert mit wem? wer ärgert sich über wen?), die Rezeptionsforscherin kann nachvollziehen, wer wann was gelesen hat, und alle anderen können sich an schönen Fotos erfreuen und etwas über den Alltag luxemburgischer Schriftsteller*innen erfahren.

Literatursoziologisch ist vieles natürlich interessant. Um Netzwerke von Personen nachzuvollziehen, ist die Forschung auf Tagebücher, Briefwechsel, Notizbücher etc. angewiesen. Der Vorwurf der Inszenierung und Selbststilisierung trifft nicht, denn dann könnte man kein einziges Ego-Dokument in der Wissenschaft fruchtbar machen. Mit dem Authentizitätsbegriff arbeitet ja sowieso niemand mehr. Und: Von Interesse ist ja nicht nur, was war, sondern auch, wie sich ein*e Autor*in darstellt, und in dieser Hinsicht kann der Band mit vielen Informationen aufwarten.

Was wir u. v. a. lernen: dass Ulrike Bail fast jeden Tag einen ganzen Lyrik-Band liest, dass Raoul Biltgen einen grünen Daumen hat, dass Ian De Toffoli seinen romantischen Blick perfektioniert, dass Anja Di Bartolomeo ihre Manuskripte gemütlich auf dem Sofa tippt, dass Tullio Forgiarini Elise Schmits En Haus wéi en Haus mag, dass Pol Greisch Zuflucht bei Pessoa findet, dass Roland Harsch Probleme mit seinem Ballenzeh hat, dass Guy Helminger nach einer stressigen Fußballübertragung beim Marquis de Sade entspannt, dass Jhemp Hoscheit sich über die Reklame bei Capitani ärgert, dass Pierre Joris nicht nicht an Celan denken kann, dass Francis Kirps nichts von der Frankfurter Buchmesse hält, dass Anna Leader über Anise Koltz arbeitet, dass Roland Meyer bei Gartenarbeit entspannt, dass Tom Nisse mit Schreibblockaden kämpft, dass Gilles Ortlieb Giorgos Seferis übersetzt, dass eine indische Doktorandin über Lambert Schlechter arbeitet, dass Nora Wagener viel von der Fünftage­woche hält. Die größte Erkenntnis aber aus der Lektüre lautet: Wer viel liest, schreibt auch besser.

Mit diesem Band hat Claude D. Conter sich und allen „léif Frënn vun der Literatur“, wie er die Gäste bei jeder CNL-Veranstaltung in den vergangenen Jahren begrüßte, unbeabsichtigt ein prächtiges Abschiedsgeschenk gemacht, das seinen Übergang vom Direktor des CNL zum Direktor der Nationalbibliothek auf schöne Art und Weise begleitet. Für die „Frënn vun der Literatur“ gibt diese Publikation Einblicke hinter verschlossene Türen. Nicht mehr und nicht weniger.

 

Als partizipative Debattenzeitschrift und Diskussionsplattform, treten wir für den freien Zugang zu unseren Veröffentlichungen ein, sind jedoch als Verein ohne Gewinnzweck (ASBL) auf Unterstützung angewiesen.

Sie können uns auf direktem Wege eine kleine Spende über folgenden Code zukommen lassen, für größere Unterstützung, schauen Sie doch gerne in der passenden Rubrik vorbei. Wir freuen uns über Ihre Spende!

Spenden QR Code