Die Lombardi-Affäre
von Guy Helminger, Mersch, capybarabooks, 2020, 136 S., € 17,95
Es klingt nach dem absurdesten Mordmotiv überhaupt: Der Schriftsteller und Moderator Georges Husen, Ich-Erzähler des neuen Romans von Guy Helminger, glaubt, dass „alles miteinander verbunden“ ist, und ersticht seinen Nachbarn Klaus Bernaz, um so „die Verstrickungen“ zu lockern und die „Fäden des Spinnennetzes“ zu durchtrennen. Das zumindest erzählt er dem Psychologen Dr. Laurent, der ein psychologisches Gutachten über den Angeklagten erstellen soll.
Husen beharrt vehement auf dem Zusammenhang aller Dinge, glaubt, dass sogar der Zweite Weltkrieg und die Französische Revolution ihn bei seiner Tat beeinflusst haben. Die Annahme einer solchen Weltsicht hat entscheidende Konsequenzen. Denn wäre es so, dass eine Kausalverkettung aller Ereignisse bestünde, wären letztere vorhersehbar und es könnte keinen freien Willen geben. Dann wiederum könnte man Husen keine wirkliche Verantwortung für sein Handeln zuschreiben. Überraschenderweise leugnet dieser aber gerade nicht die Willensfreiheit und betont, den Nachbarn aus einer freien Entscheidung heraus getötet zu haben. Helminger gelingt es damit, Interesse an den großen philosophischen Fragen zu wecken, zu denen auch die Rolle der Sprache und ihr Verhältnis zur Wirklichkeit gehören.
Der Roman beleuchtet aber keineswegs nur Abstrakta, denn er erfüllt ebenso, was er selbst von zeitgenössischer Kunst fordert: eine Auseinandersetzung mit den aktuellen Problemen in Politik und Gesellschaft. Husen, der viele Etappen seiner Laufbahn mit Helminger teilt, beklagt, dass genau diese Art der Kunst nicht angemessen wertgeschätzt werde, geht in diesem Zusammenhang auch näher auf die sogenannte Lunghi-, im Roman Lombardi-Affäre genannt, ein: „Lombardi sollte weg. […] Das MuzeiKu sollte zurückgepfiffen werden, Kandinsky, Picasso, ja, aber danach sollte Schluss sein. Dann würden auch Besucher kommen. Wer wollte schon diese tätowierten Schweine von Wim Delvoye sehen oder eine Maschine, die Scheiße produziert.“ Es lohnt, an den Vorfall zu erinnern, denn er gliedert sich nicht nur in die Diskussion ein, ob Kunst generell verkannt und geringgeschätzt wird, sondern wirft auch die Frage auf, ob manche Kunstformen gegenüber anderen bevorzugt werden bzw. werden sollten. Husen bejaht das und stellt der Kunst die Kultur gegenüber, glaubt, dass letztere Vorrangstellung genießt, weil sie bequem sei, vor allem für die Politik, weil sie im Dienste des Nation Brandings und des Konsums stehe, unterhaltend sei, anstatt zu stören. Das trifft durchaus einen wahren Kern, es fragt sich nur, ob hier nicht ein zu negativer Kultur- und ein zu enger Kunstbegriff präsentiert werden. Husen betont, dass auch ein Einkaufswagen Kultur sei, bespricht aber zu keiner Zeit den Wert der Landessprachen, der hiesigen Museen oder Denkmäler, und als Leser*in vermisst man eine Gegenstimme, die ihm widerspricht, etwa, wenn er Musicals nicht ganz vorurteilsfrei auf ihren Unterhaltungscharakter reduziert.
Der oder dem Leser*in stellt sich letztlich das Problem, mit nur einer Weltsicht, nämlich derjenigen Husens, konfrontiert zu sein, die gleich in mehreren Hinsichten problematisch ist: 1. Es ist die Weltsicht eines Mörders und Ich-Erzählers mit zweifelhafter Zuverlässigkeit. 2. Sie ist Teil einer Rechtfertigung. 3. Sie setzt die Koexistenz des Zusammenhangs aller Dinge und der Willensfreiheit voraus, obwohl diese meist als inkompatibel angesehen werden. 4. Die Darlegung der kausalen Zusammenhänge wird durch Überspitzung stellenweise ad absurdum geführt. Nun kann man diese Weltsicht natürlich hinterfragen, das wäre aber dem dargelegten Plädoyer für die Kunst abträglich, denn auch dieses wird aus Husens Perspektive geschildert. Zudem ergeben sich problematische Folgen für die Deutung des Romans, wenn man die Willensfreiheit oder den Determinismus anzweifelt. Denn die Willensfreiheit zu negieren, bedeutet, Husen wie auch allen Involvierten der „Lombardi-Affäre“ Verantwortung für ihr Verhalten abzusprechen. Bestreitet man als Leser*in hingegen den Zusammenhang aller Dinge, reduziert man die „Fäden“, die man selbst in der Hand hält, räumt sich weniger Einfluss ein, nach der Lektüre der vermittelten Botschaft nachzukommen und sich verstärkt für die Kunst einzusetzen. Auch hier fehlt eine Figur, die mittels einer alternativen Weltsicht eine Möglichkeit aufzeigen könnte, dieses Dilemma zu entwirren. Vielleicht ist es aber gerade die Kunst von Die Lombardi-Affäre, seine Rezipient*innen mit nicht eindeutig lösbaren Fragen zu konfrontieren. Denn auch das ist eine nicht unwichtige Eigenschaft wahrer Kunst, verschiedene Deutungen zuzulassen, statt eindeutige Antworten an die Hand zu geben. Die kurzweilige, inhaltlich dichte Lektüre wird dadurch erst zu einer, die nachwirkt. Übrigens werden auch alle, die sich für das Dossier-Thema dieses Heftes, Digitalisierungswahn, interessieren, auf ihre Kosten kommen, denn das Darknet spielt eine nicht unwichtige Rolle – und es taucht „ein Verrückter“ auf, der vor tödlichem „Elektrosmog“ warnt.
CM
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