Falls es die Disziplin „kulinarische Linguistik“ noch nicht gibt, so sollte man sie in Anbetracht von Kochbuch- und Rezepttiteln aus dem Großherzogtum definitiv erfinden. Welche Schlüsse zögen Forscher:innen wohl aus Schriftzügen wie Das Gelbe vom Ei. Huhnglaubliche Rezepte oder Tutorials zu Luxembourgish Rieslingspaschtéit with a little twist? Und in welchem Verhältnis stünden die „Pizza Poubelle“, die „Heizungswurscht“ und der „Croque Monsieur à la Belval“ dazu? Zumindest auf letztere Frage kann man schon antworten, bevor die Uni Luxemburg den neuen Fachbereich einrichtet: Während erstere Beispiele auf luxemburgische Sternchen-Köchinnen zurück gehen, die Geld mit foodporn vor der Kamera verdienen, entstanden die drei anderen – weit weniger mit fancyness gewürzten –Wortschöpfungen sozusagen im Hinterzimmer. Jenseits von Kitchenaids, Thermomix und kalorienzählenden Armbanduhren. Die Köch:innen, welche in Gudden Appetit zu Wort kommen, stammen zuvorderst aus dem Schmelzarbeiter-Milieu und dem sozialen Umfeld der Angestellten der Arbed. Viele unter ihnen immigrierten zu einer Zeit, in der noch keine Rede von Expats war. Statt in zentral gelegenen Luxus-Wohnschläuchen, hauste man in Kléng Italien oder im Quartier Gasfabrik. Kurze Arbeitswege dienten eher der florierenden Industrie als dass man dabei den Schutz bereits verblühender Landschaften im Sinne gehabt hätte. Einer jener damals geläufigen Sprüche „Iess wéi s de schaffs. Lues a net vill“ kommt ironisch daher. Denn Portionierung und Nährwert bestimmten, ob man bei der 16-Stunden-Schicht am Hochofen wegkippte oder nicht.
Das im Eigenverlag publizierte Werk stellt weit mehr als ein Kochbuch dar. Dem DKollektiv und FerroForum ist es gelungen, einen historischen Rückblick auf das Zusammenspiel zwischen Arbeit in Stahlwerken und Gastronomie zu konzipieren, dem es weder an Wissenschaftlichkeit noch an Experimentierfreude und Verspieltheit fehlt. Der Inhalt speist sich unter anderem aus Analysen des Industriehistorikers Luciano Pagliarini, bisher kaum erforschtem Archivmaterial und handgeschriebenen, von Generation zu Generation weitergereichten Rezepten. Außerdem hält es verschriftlichte Gespräche mit denjenigen bereit, die Hunger hatten sowie jenen, die ihn stillten. Hier kommt eine Multiperspektivität zum Tragen, die ihresgleichen sucht. Beleuchtet werden nämlich nicht nur verschiedene Esskultur(en), Tagesabläufe und Rituale der Arbeiter. Auch die 1938 geborene Félice Sbarra erzählt von ihren Bot:innen-Gängen, im Rahmen derer sie ihrem Vater pünktlich zur „Mëttegpaus um Hutbierg“ Essen vorbeibrachte. Ebenso würdigt der Elektromechaniker Serge Molitor die „Spaghetti al Tonno“ seiner Nonna Giulia und merkt an, diese hätten praktischerweise fantastisch geschmeckt und gleichzeitig den „klenge Portmonni“ entlastetet. Bei der Lektüre wird ersichtlich, wie eng Ernährungs- und Sozialgeschichte miteinander verwoben sind. Zwischen den Rezeptzeilen lässt sich herauslesen, inwiefern niedrige Löhne, ein unappetitliches Arbeitsrecht und Ausbeutung das Trinkverhalten des ein oder anderen sowie die Lebens- und Speisepläne ganzer Familien mitprägten. Trotz dieses durchaus notwendigen Blicks auf die Schattenseiten des Sektors, verschafft die Publikation ihrer Leser:innenschaft auch mehr als einen erheiternden Moment. So zum Beispiel, wenn Jerry Frantz als Kind eines Arbed-Chemikers davon berichtet, wie er als Knirps einmal glaubte, eine Explosion kündige sich an und das Schicksal des ganzen Landes läge in seinen kleinen Händen… Bis er begriff, dass das, was er roch, lediglich eine „saucisse à la façon de l’alchemiste“ war, die sein Vater im Labor zubereitete. Des Weiteren kann man sich bei einigen der „wotlech[en] Erzielungen“ von „verblatzte Videobänner“ ein Lachen nicht verkneifen. Das abschließende Kapitel bildet einzelne Stationen des Events „Alerte gourmande“ ab, das 2019 im Atelier des DKollektiv in der Hall Fondouq in Düdelingen stattfand. Mit dabei sind unter anderem Rezept-Performances sowie eine Anleitung für eine DIY-Nudelwalzwerkstraße. An dieser Stelle wird auch das Mysterium um die eingangs erwähnte „Heizungswurscht“ gelüftet. Sie ist nämlich das Resultat einer spannenden Zweckentfremdung von am Arbeitsplatz befindlichen Gegenständen. Allen voran der Fotograf Romain Girtgen hielt an diesem Abend besondere Momente des intergenerationellen Austausches fest. „Kachen a Brachen“ im schönsten Sinne des Ausdrucks. Mit diesem Buch wurde auf eine äußerst kreative und herrlich unprätentiöse Art und Weise eine Dokumentationsbasis für eine Forschungslücke geschaffen, die es zu füllen gilt. Man kann dem Team nur danken für das Projekt, in dem, wie einer der Macher es ausdrückt, viel „Häerzblutt a Cholesterol“ steckt.
Absolut empfehlenswert ist auch das auditive Dreigänge-Menu, das Kerstin Thalau für Radio 100,7 zusammengestellt hat. Ihre Interviews mit Menschen, die an dem Buch mitgearbeitet haben, sind ein wahrhaftiger Ohrenschmaus. Um die Bestellung abzugeben, muss man nur „Gudden Appetit“ in die Suchleiste der Radio-Mediathek eingeben. Wohl bekomm’s!
Das Buch kann bezogen werden über die Adresse guddenappetit@gmail.com.
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