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Sediment und Sedum. Ein Essay ... von Bernd Marcel Gonner
Kann deutschsprachige Literatur noch Landschaft, Natur und bäuerliches Leben besingen, ohne sich dem Verdacht auszusetzen, einer rückwärtsgewandten Heimatideologie zu huldigen? Sie kann. Sie muss sogar, um diese aktuellen, hochpolitischen Themenkreise nicht den Ewiggestrigen zu überlassen.
Mit seinem schmalen, aber thematisch dichten Essay Sediment und Sedum, der 2021 mit dem Deutschen Preis für Nature Writing ausgezeichnet wurde, zeigt Bernd Marcel Gonner, wie es geht. Der in Deutschland lebende Luxemburger fügt sich mit seinem Werk in einen kleinen Kreis von deutschsprachigen Natur-Schreibenden ein, der Autorinnen wie u. a. Ulrike Draesner, Esther Kinsky, Judith Schalansky und Marion Poschmann umfasst. Inspiriert von der angelsächsischen Tradition des Nature Writing, die sich bis vor Henry David Thoreaus Aussteiger-Traktat Walden (1854) zurückführen lässt, entstauben sie das literarische Schreiben von der Natur, führen es weg vom bukolisch-regressiven Idyll und hin zum hochpolitischen Anthropozän-Diskurs: Klimawandel, Artensterben und Globalisierung bilden den thematischen Rahmen dieser neuen deutschsprachigen Natur-Literatur. Auch linguistisch vollzieht sich dieser Wandel, wenn der historisch politisierte Begriff der „Landschaft“ gegen das neutralere „Gelände“ ausgetauscht wird, so geschehen etwa in Esther Kinskys 2009 erschienenem „Geländeroman“ Hain. Auch Gonner beruft sich auf dieses geowissenschaftliche Schlagwort, um seinen Schreibprozess in Sediment und Sedum zu illustrieren: „Der Erzähler liest sein Gelände genau und poetisch, das Zusammenspiel von Terroir und Pflanzengestalten.“
Der kurze Text zeichnet eine Episode aus Gonners Leben nach: Zusammen mit seinem Lebensgefährten hat sich der Autor auf eine abgelegene Hofstelle am Rand des Oberen Taubertals in Baden-Württemberg zurückgezogen. In episodischen Notizen skizziert der Autor den Kauf des Grundstücks, die alltägliche Arbeit zur Erhaltung der Steppenheiden und Magerrasen sowie die Kultur- und Naturgeschichte der Region. Der Titel spielt hierbei auf den symbolischen Dualismus zwischen einem der Vergangenheit zugehörigem „Unten“, dem zu Sediment zerfallenen Muschelkalk des Ur-Meeres, und einem gegenwärtigen „Oben“ an, das durch eine typische Pflanzenart der Region, dem Sedum, verbildlicht wird.
Das von Gonner mit geobotanischer Präzision beschriebene Gebiet ist keine unberührte Wildnis, sondern eine von Menschenhand geprägte Kulturlandschaft. „Ohne Sensen, Schafe oder Ziegen geht nichts in diesem Gelände – oder alles wieder verloren und unter, an gewonnenem Grasland wie blankem Steinrain“, erläutert der Erzähler. Leitbild der Erzählung sind die für die Region charakteristischen Steinriegel: Aufschichtungen von sogenannten „Lesesteinen“, also auf Äckern verstreute Steinfragmente, die bei der Bodenbearbeitung stören und deshalb vom Bauer am Feldrand zu Wällen und Mauern gestapelt werden: „Steinrasseln, hieß es, hießen sie als Kind von Seiten der Erwachsenen. Echsen, sagten wir – und hatten gehörige Angst, jedenfalls Respekt vor den Ungetümen; welche uns in unserem Kinderstand noch höher und mächtiger erschienen, als sie es messbar waren. Drei Meter hoch manche und an die zehn Meter breit. Man muss kraxeln.“ Die über Jahrhunderte von Menschenhand aufgeschichteten Kalksteine werden heute als Naturdenkmale und Biotope angesehen, da sie neuen Lebensraum für zahlreiche Pflanzen und Tierarten bieten.
Dieser kurze Einblick in den Text greift jedoch zu kurz und verkennt Gonners eigentliches Anliegen, das ihn mit seinen Vorgängern im Nature Writing-Genre verbindet: Wie können sowohl geistige wie auch körperliche Naturerfahrungen mit literaturästhetischen Mitteln greifbar gemacht werden? Gonners Antworten auf diese Frage geben dem Text seine experimentelle Form. Sediment und Sedum ist weder autobiografischer Bericht noch Essay, wie der Untertitel glauben lässt, sondern ein hochstilisiertes Textmosaik, das unterschiedlichste Gattungen und Stile zu einem gewollt heterogenen Ganzen verbindet. Gonners eigenes Schreiben ist ein Schreiben der Extreme und Gegensätze, mal karg und lakonisch, mal poetisch, mal grotesk und überbordend. Zu dieser oktavenreichen Stimme gesellen sich rasch weitere Perspektiven hinzu, insbesondere jene des Geologen und Botanikers Hans Scherzer (1889-1943), dessen heimatkundliche und literarische Schriften fragmentarisch in den Text montiert wurden – neben eingestreuten Zitaten von u. a. Andreas Gryphius, August von Platen und Joseph von Eichendorff. So entsteht ein spannungsreicher literarischer Dialog des Autors mit seinen Vorgängern, der sowohl thematische Kontinuitäten als auch Scheidewege herauskristallisiert. Insofern kann Sediment und Sedum nicht nur als autobiografischer Bericht über ein Leben in und mit der Natur gelesen werden, sondern als pointierte Reflexion über den Zwiespalt, mit dem die deutschsprachige Literatur der (deutschen) Landschaft begegnet.
(Erscheint im Killroy media Verlag, 2021, 80 S., 19 €)
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