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… la volonté de la Chambre qui est la volonté du pays
… la volonté de la Chambre qui est la volonté du pays
von Claude Frieseisen/Marie-Paule Jungblut/Michel Pauly (Hg.), Luxemburg, Chambre des députés, 2019, 456 S., € 20,-.
Mit dem Referendum vom 28. September und den Kammerwahlen vom 26. Oktober 1919 vollzog sich eine Zeitenwende im Großherzogtum Luxemburg: Zum ersten Mal durften alle StaatsbürgerInnen, unabhängig von Geschlecht und sozialem Stand, an demokratischen Wahlen teilnehmen. Das allgemeine Wahlrecht war geboren, das diskriminierende Zensuswahlrecht für vermögende Männer abgeschafft. Fortan galt der Grundsatz: Die Abgeordnetenkammer ist das Abbild der Nation, ihr Wille reflektiert den Willen des Landes.
Pünktlich zum hundertsten Geburtstag des epochalen Ereignisses publiziert das Sekretariat der Chamber gemeinsam mit dem Institut für Geschichte der Universität Luxemburg einen bunten Strauß („un florilège“) von Beiträgen über bedeutsame, historisch weichenstellende Debatten, die im Hohen Hause von dessen Anbeginn 1848 bis ins Jahr 2008 geführt wurden. Nicht in allen Fällen, aber je nach Domäne entzündeten sich wahre Redeschlachten, die unter Aufgebot höchster rhetorischer Kunstfertigkeit und prozeduraler Raffinesse ausgefochten wurden und von kämpferischer Meinungsmache in der parteipolitisch kalibrierten Presse begleitet waren.
Der Titel des Buches bezieht sich auf den Appell des liberalen Urgesteins Eugène Schaus, der sich im November 1966, nachdem der junge CSV-Abgeordnete Jean Spautz mit seinem handstreichartigen Überraschungscoup die von allen Fraktionen begrüßte Initiative zur Abschaffung der Wehrpflicht ergriffen hatte, mit folgenden Worten an den widerspenstigen christlichsozialen Armeeminister Marcel Fischbach richtete: „(…) nous vous demandons à l’unanimité, nous, la Chambre, que vous soyez également conforme à la volonté de la Chambre qui est la volonté du pays.“
Teils in Deutsch, teils in Französisch unternehmen die 23 AutorInnen – vierzehn HistorikerInnen, sieben JuristInnen, ein Soziolinguist, ein Psychiater – auf 456 Seiten einen abwechslungsreichen, lesenswerten Streifzug durch die nationale Parlamentsgeschichte. Einige fokussieren sich auf markante Tagesdebatten, andere beleuchten den legislativen Prozess in seinem evolutiven Werdegang über mehrere Jahrzehnte hinweg.
Diverse Fakten stechen bei der Lektüre ins Auge, so etwa der aus heutiger Sicht befremdlich wirkende Sprachgebrauch im Plenum. Nachdem der 1896 gewählte Freigeist Caspar Mathias Spoo mit seiner Jungfernrede auf Luxemburgisch für einen Eklat gesorgt hatte, wurde das „idiome du pays“ als Sitzungssprache untersagt. Erst nach 1945 entwickelte es sich zur gleichberechtigten, ab den 1980er Jahren dann zur quasi exklusiven mündlichen Parlamentssprache. Folglich kommen im Buch viele Zitate im geschliffenen Akademiker-Französisch einer privilegierten Klasse von Besitz- und Bildungsbürgern daherstolziert, die sich gegenseitig, den patriarchalen Umständen entsprechend, mit „Messieurs“ anredeten (und sich ungeniert als Spiegelbild des Volkes verstanden).
Ein zweiter Punkt betrifft eine Partikularität, die möglicherweise unserem Dasein als Kleinstaat geschuldet ist. Nicht nur, dass der einheimische Gesetzgeber oft pragmatisch und schlau bei befreundeten Nationen die Texte kopiert. Auffallender noch ist die Tatsache, dass man sich bei kontroversen Kammerdebatten stets gerne auf das Exempel des benachbarten Auslands beruft… und zwar so, wie es politisch gerade in den Kram passt: Entweder mögen die Deputiertenkollegen zur Kenntnis nehmen, dass Luxemburg endlich, wie alle Großen, den Weg ins Licht des Fortschritts beschreiten sollte, oder aber man warnt eindringlich, wir könnten es uns als kleines Land nicht erlauben, im Alleingang nach vorne zu preschen, weshalb es vorteilhafter wäre, erst einmal abzuwarten, bis alle anderen (bzw. „Europa“) den ersten Schritt getan hätten.
Zum Dritten straft das Buch die weitverbreitete Ansicht Lügen, wonach es das Geld und seine Verteilung ist, an dem sich die Geister am ehesten scheiden. Wie die emotional aufgeladenen Diskussionen um z.B. Todesstrafe, Abtreibung und Euthanasie zeigen, ist das Gegenteil der Fall. Beim Wirtschaften ist man sich in Luxemburg in der Regel rasch einig, bei existenziellen Fragen umso weniger. Somit verdeutlichen die rezensierten Debatten, dass die signifikanteste Bruchlinie der Luxemburger Demokratie nicht der Konflikt Arbeit/Kapital ist, sondern bis in die jüngste Gegenwart hinein der Kulturkampf zwischen Catholica und Antiklerikalen. Bleibt die Frage, ob dieses Modell – und damit einhergehend die etablierte Parteienlandschaft – unverändert zukunftstauglich ist. lop
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