Frisch gedruckt
Zeeechen von Samuel Hamen und Marc Angel
Zahlenfanatiker werden ihre wahre Freude haben an diesem Buch. Samuel Hamen hat drei Geschichten aus der Perspektive eines namenlosen Erzählers zusammengestellt, deren Titel allesamt aus nur drei Buchstaben bestehen: Bal, Elo, Djö. Marc Angel hat, inspiriert von diesen Erzählungen, drei mit Tusche gezeichnete Geschichten beigesteuert, die die Motive und Themen des Textes aufnehmen und kongenial weiterführen. Im Alter von 9 Jahren wird der Erzähler insgesamt 33 Mal von Bienen gestochen. Im Haus eines Mädchens, das aus finanziell ärmeren Verhältnissen stammt als der Erzähler, erscheint diesem alles dreimal so klein wie im eigenen Zuhause: Der Flur, der Fernseher, das ganze Haus. Und im Titel des wunderschön gestalteten Buches entdeckt man ein drittes „e“: Zeeechen. Und während man das Buch so liest, kommt einem unweigerlich die Einteilung des Lebens in drei Phasen von Aristoteles in den Sinn: Wachstum, Stillstand und Niedergang.
In den drei episodenhaft angelegten und narrativ fragmentiert konzipierten Erzählungen erinnert sich der in der Erzählzeit 30jährige Protagonist an seine Kindheit, also die Phase des Wachstums, im Nord-Luxemburg der 90er und 00er Jahre. Er entdeckt die eigene Sexualität, knüpft Freundschaften, muss lernen, mit Verlusten umzugehen. Den Stillstand beobachtet er bei den Erwachsenen, die mit den schönsten Schimpfwörtern bedacht werden. Niedergang schließlich erfährt der Junge nicht nur in einer Best-Buddy-Variante des Films My Girl, in der Bienen dem „ganze Summer mat sengem Zauber“ ein Ende bereiten, er begegnet ihm auch durch die Berufe seiner Eltern. Auf den Straßen, die der Vater für die Administration des ponts et chaussées bauen lässt, kommt es zu tödlichen Unfällen, für die die als Untersuchungsrichterin arbeitende Mutter nachts aus dem Bett geklingelt wird.
Die drei Geschichten, die zuvor bereits als eigenständige Texte in Les Cahiers Luxembourgeois erschienen waren, schlagen aus der Anordnung im Buch existenzielle Funken. Diese Anordnung zeigt einen fragilen Möglichkeitsraum für gelingendes Leben auf. Möglich könnte ein „echtes“ Leben im Jetzt sein (Elo). Die zentrale Geschichte wird gerahmt durch Bal und Djö (für dieu), also durch das Warten auf das „echte Leben“ (Bal) und dem Ausruf, dass etwas so richtig daneben gegangen ist (Djö). Aber Hamen verdunkelt und begrenzt seinem Protagonisten diesen Möglichkeitsraum zwischen Warten und Scheitern. Das „elo“ in der gleichnamigen Geschichte bezieht sich nicht auf den Ausbruch aus dem Gewohnten, nicht darauf, dem Leben der Erwachsenen etwas entgegenstellen zu können, sondern auf den Einbruch des Niedergangs schon in die Kinderwelt. Der beste Freund des Erzählers kündigt seine regelmäßigen, nicht zu unterdrückenden Brechanfälle stets durch ein „elo“ an, und der Versuch eines sommerlichen Abenteuers endet in der Katastrophe. Die fatalistische Weltsicht des Erzählers findet ihren Höhepunkt am Ende des Bandes. Hier ist die ganze Tragik der menschlichen Existenz, aus der gewissermaßen die Luft entweicht, ohne dass ein Loch zu entdecken und also zu stopfen wäre, im Bild einer Hüpfburg eingefangen. Und so besteht die Gedankenwelt des Protagonisten aus dem Warten auf den richtigen Moment. Aber in der Welt, in der er groß wird, ist damit nicht zu rechnen.
Vielleicht ist das der Grund für das dritte „e“ im Titel. Vielleicht sucht das Buch nach einer Neubezeichnung der Welt. So wie das „e“ das Wort Ze(e)echen sprengt, kann Sprache, die die Welt ja nicht nur beschreibt, sondern benennt und damit herstellt, diese auch umgestalten. Und wenn der Welt die Luft ausgeht, ohne dass wir das zu stopfende Loch finden („Kee Lach, keng Léisung – a kee Kollaps“, heißt es in Djö, und ein Djö hat die Welt ja schließlich erschaffen), müssen wir die Welt vielleicht neu erzählen. „A wat bleift engem do anescht iwwreg, wéi propper a riicht schreiwen ze léieren, fir d’Zäit mat Zeilen doutzeschloen?“, fragt sich der Erzähler ganz zum Schluss. Wer schreibt und damit bezeichnet, steht nicht still. Samuel Hamen, vor einem Monat mit dem ersten Preis des Concours littéraire national ausgezeichnet, steht nicht still. In der Aristoteleschen Lebenseinteilung ist er noch in Phase 1. Ein Glück für die luxemburgische Literatur. HM
Als partizipative Debattenzeitschrift und Diskussionsplattform, treten wir für den freien Zugang zu unseren Veröffentlichungen ein, sind jedoch als Verein ohne Gewinnzweck (ASBL) auf Unterstützung angewiesen.
Sie können uns auf direktem Wege eine kleine Spende über folgenden Code zukommen lassen, für größere Unterstützung, schauen Sie doch gerne in der passenden Rubrik vorbei. Wir freuen uns über Ihre Spende!
