Prolog
Es ist der 26. Oktober 1998. Der neugewählte Deutsche Bundestag tritt in Bonn zur konstituierenden Sitzung zusammen. Eine Ära geht zu Ende. 16 Jahre war Helmut Kohl Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland gewesen. Seine Meriten um die Einigung Deutschlands und Europas sind unbestritten. Er hatte sich für unbesiegbar gehalten. Selbstzweifel waren nie sein Ding. Deshalb war er zur Bundestagswahl vom 27. September 1998 trotz Bedenken vieler Parteifreunde noch einmal als Kanzlerkandidat von CDU und CSU angetreten.
Doch der Wähler, das undankbare Geschöpf, hatte befunden, nach vier Amtsperioden sei es genug. Mit 35,1 Prozent der Stimmen hatten die Unionsparteien ein historisch schlechtes Ergebnis eingefahren. Die Sozialdemokraten unter dem „Macher“ Gerhard Schröder – der aus heutiger Perspektive verblüffende Ähnlichkeiten mit dem Luxemburger Etienne Schneider aufweist – hatten triumphiert: 40,9 Prozent für die SPD. Damals machte es tatsächlich noch Spaß, Sozialdemokrat zu sein.
Helmut Kohl, der gefallene Riese aus der Pfalz, hatte sich seinen Abgang anders vorgestellt. Er fühlt sich von der Geschichte ungerecht behandelt. Doch bei aller Verbitterung bleibt er auch in der Niederlage souverän. Nach dem Regierungswechsel zu Rot-Grün nimmt der einfache Abgeordnete Kohl in den hinteren Stuhlreihen des Parlamentsplenums Platz. Als Elder Statesman will er sich noch zur Verfügung halten, sollte denn jemand seinen Rat suchen …
1. Phase: Trauer, Wut, Blockade
Es ist der 5. Dezember 2013. Die neugewählte Abgeordnetenkammer tritt in Luxemburg zur konstituierenden Sitzung zusammen. Eine Ära geht zu Ende. 18 Jahre war Jean-Claude Juncker Premierminister des Großherzogtums gewesen. Seine Meriten um das Bruttoinlandsprodukt und die Einigung Europas sind unbestritten. Er hatte sich für unbesiegbar gehalten. Selbstzweifel waren nie sein Ding. Deshalb war er zur vorgezogenen Kammerwahl vom 20. Oktober 2013 trotz ersichtlicher Amtsmüdigkeit noch einmal als Spitzenkandidat der CSV angetreten.
Doch die neue blau-rot-grüne Dreierkoalition, das machthungrige Geschöpf, hatte befunden, nach vier Amtsperioden sei es genug. Zwar hatte die CSV mit 33,7 Prozent der Stimmen ein ganz passables Ergebnis eingefahren und stellte mit 23 Sitzen die mit Abstand stärkste Fraktion. Entsprechend war Juncker am Wahlabend im Fernsehen noch so aufgetreten, als müsste Xavier Bettel ihn jetzt höflichst bitten, sein Juniorpartner werden zu dürfen. Keine 24 Stunden später aber fiel die Nachricht wie ein Hammerschlag: DP, LSAP und Grüne kündigten an, sie wollten gemeinsam eine Koalition bilden. Mutterseelenallein stand die CSV unter der eiskalten Dusche. Das Ende von 35 Jahren ununterbrochener Regierungsbeteiligung kündigte sich an.
Folglich wird Jean-Claude Juncker am Vorabend zu Sankt Nikolaus zum ersten Mal in seinem langen Berufspolitikerleben als Abgeordneter vereidigt. Im Grunde hätte er es ja nicht nötig, sich noch etwas beweisen zu müssen. Als Elder Statesman könnte er seinen Thinktank gründen, jungen Menschen die Welt erklären, Zeit-Herausgeber werden oder ambassadeur de bonne volonté für Unicef. Doch nein: Obgleich kein Mangel an jüngeren Kollegen besteht, die den Job problemlos (wieder) übernehmen könnten – Wiseler, Spautz, Roth, Wolter, … –, lässt Juncker sich zum Präsidenten der CSV-Chamberfraktion küren. In der Fernsehsendung „NZZ Standpunkte“ der Neuen Zürcher Zeitung erklärt er frohen Mutes, er werde jetzt „Oppositionsführer in Luxemburg“. All jene, die sich nicht vorstellen könnten, dass er sich auf den Bänken der Opposition wohlfühlen werde, würden „sich wundern“.
Nun, niemand wird sich wundern, wie unwohl er sich dort fühlt. Juncker war 31 Jahre Regierungsmitglied gewesen, hatte alle Großen dieser Welt geherzt und seinen Platz in den Geschichtsbüchern längst sicher – als „Junior“ von Helmut Kohl, Held von Dublin, Retter Griechenlands und Träger des Karlspreises zu Aachen. Er galt als Kathedralenbauer der Wirtschafts- und Währungsunion, als moderner Apostel Europas, der „europäische Geschichte und europäische Geographie miteinander versöhnt“ hatte. Einen wie ihn beschleicht im kleingeistig-plüschigen Ambiente der Luxemburger Chamber ganz zwangsläufig die Angst vor intellektueller Verzwergung.
Den Großteil seiner Zeit als Fraktionschef ist Juncker gar nicht anwesend. Und falls doch, ergreift er im Plenum nur wenige Male das Wort. Dabei versucht er mit Vorliebe, die neue Regierung als Verfälscher des Wählerwillens und dilettantische Deppen vorzuführen. Bei der Schlüsselübergabe im Staatsministerium hatte er seinem Nachfolger Xavier Bettel noch hervorstechende Qualitäten für das neue Amt bescheinigt („Energie, Intelligenz und Zugang zu den Menschen“) und dabei den Wunsch geäußert, „dass das Volk den neuen Premier gut aufnimmt“.
In den Monaten danach aber tut Juncker alles, um die Erfüllung dieses Wunsches nach Kräften zu torpedieren. Nie und nimmer hätte er sich vorstellen können, nicht souverän und selbstbestimmt über Zeitpunkt und Drehbuch seines Abgangs entscheiden zu können. An der Spitze der CSV-Fraktion hadert ein tief verletzter Mensch mit einem Schicksal, das er nicht begreifen mag. Schon während der Geheimdienstaffäre, als deren erstes Opfer er sich sah, hatte er sein Heil im Eskapismus gesucht. So auch jetzt.
In die Rolle des De-facto-Fraktionschefs schlüpft währenddessen Junckers Stellvertreter Claude Wiseler. Der langjährige Minister ist von Natur aus kein Hitzkopf. Er lässt sich nicht von wallenden Emotionen leiten, gilt als besonnen, umgänglich, pragmatisch und konsensorientiert. Ohne viel Aufhebens um seine Person nimmt er sich also der Aufgabe an, die von akutem Heulen und Zähneknirschen heimgesuchte CSV-Fraktion zu therapieren, damit sie ihre den Luxemburger Naturgesetzen widersprechende Rolle als Opposition demütig annehme und bestmöglich arbeitsfähig bleibe.
Viele andere in der CSV sind zu diesem Zeitpunkt weder willens noch fähig, den Machtwechsel zu „Gambia“ als vorläufig unabänderlichen Fakt im Rahmen der von Verfassung und Wahlgesetz gezeichneten Spielräume parlamentarischer Demokratie zu begreifen. Als Gipfel der Häresie weisen sie den Gedanken von sich, dass nach all den Turbulenzen um Wickreng/Léiweng, Cargolux/Qatar, den Bommeleeër-Krimi und die SREL-Machenschaften, wo es schon mal vorgekommen war, dass diese oder jene CSV-Grande die Gebote von intellektueller Redlichkeit und rechtsstaatlicher Unstrittigkeit allzu dehnbar interpretiert hatte, niemand mehr richtig Lust verspürte, die durchgelegenen Matratzen im Koalitionsbett mit der Juncker-Partei zu teilen.
Ganz schlimm trifft es jene Christlichsozialen, die sich in Anbetracht ihrer gefühlten Wichtigkeit allzu sehr an Privilegien und Annehmlichkeiten des Ministerdaseins gewöhnt hatten und sich mit der Rückkehr in die Sterblichkeit schwertun. Schluss mit Dienstwagen, Chauffeur und freiem Parkplatz vor allen VIP-Zelten. Schluss auch mit den flotten Spritzfahrten nach Brüssel: keine Fotos mehr mit EU-Amtskollegen, kein roter Teppich, kein Blaulicht, keine Personenschützer mit Ohrknopf … Ende der Traumfabrik!
Schuld an der Misere, so das vorgekaute Narrativ, ist einzig und allein das undemokratische „Gambia“-Bündnis. Es habe der CSV den Wahlsieg gestohlen, sei zum Regieren nicht legitimiert und mache alles falsch. Juncker witzelt – völlig daneben liegt er nicht – über die „Chaostruppe“. Damit hält er die Parteibasis bei Laune und auf Kurs.
Das erste Oppositionsjahr wäre für die stolze Volkspartei durch und durch bedrückend, stünden nicht am 25. Mai 2014 die nunmehr endlich von den Nationalwahlen getrennten Europawahlen auf dem Programm. An der Spitze des von der CSV ins Rennen geschickten „Kompetenzteams“ steht Viviane Reding. Als Mitglied der Europäischen Kommission seit 1999 hat sie sich einen guten Namen erarbeitet. Mit der Senkung und späteren Abschaffung der Roaminggebühren für Mobilfunk glaubt sie, die verdrossenen Bürger mit der EU versöhnen zu können. 2010 war sie zur Vizepräsidentin der Brüsseler Behörde avanciert und hatte das Ressort „Justiz, Grundrechte und Bürgerschaft“ übernommen. Wegen ihres unerschrockenen Auftretens zur Verteidigung bedrohter Bürgerrechte in der Union (unter Viktor Orbán in Ungarn säße sie vermutlich im Gefängnis) und einer auch ansonsten beeindruckenden Bilanz hatten Berlaymont-Insider sie zu den Topfavoriten für die Nachfolge des blassen Kommissionspräsidenten José Manuel Barroso gezählt. Doch nicht zum ersten Mal in ihrer langen Karriere macht ihr ein Parteifreund namens Juncker – gewollt oder ungewollt – einen Strich durch die Rechnung.
Den NZZ-Journalisten hatte dieser zwar noch am 17. November 2013 im Schweizer Fernsehen erklärt: „Man soll nicht 2014 etwas tun, was man 2004 hätte machen können.“ Nach acht langen Jahren als Vorsitzender der Eurogruppe wolle er „jetzt gern eine europäische Ruhepause“. Und mit einem Anflug gespielter Juncker’scher Entrüstung hatte er auf wiederholtes Nachbohren sogar insistiert: „Also ich schließe völlig aus, dass ich für die Europäische Volkspartei als Spitzenkandidat zur Europawahl antrete. Völlig ausgeschlossen.“
Nun ja, zur Wahl im direkten Sinne des Wortes tritt der Meister der politischen Chuzpe tatsächlich nicht an. Schließlich will er im Zweifelsfall nicht als einer von 751 zahnlosen Löwen in der Straßburger Masse untergehen. Da er aber auch dem freudlosen Dasein als einer von 60 Provinzhonoratioren auf Krautmarkt nichts Aufregendes abgewinnen kann, lässt er, der verkappte Sozialdemokrat, sich schließlich am 7. März 2014 beim EVP-Kongress in Dublin zum Spitzenkandidaten des europäischen Mitte-rechts-Sammelbeckens wählen. Sein Konkurrent, EU-Binnenmarktkommissar Michel Barnier, zieht den Kürzeren. Fortan heißt es wieder „Juncker on Tour“ – und das europaweit, mit Ausnahme des Vereinigten Königreichs.
Für die CSV gilt die Europawahl als Nagelprobe. Ihr Wahlkampf kommt ohne schrille Posaunenklänge aus, man solle es den schurkischen Regierungsparteien heimzahlen. Wegen etlicher peinlicher Fauxpas stehen deren Karten eh schlecht. Viele bürgerliche Wähler, die sich eine CSV/DP-Regierung gewünscht und deshalb die Liberalen gestärkt hatten, sind wütend auf die Bettel-Bande. Hinzu kommt der Nationalstolz auf den kontinentalen Spitzenkandidaten Juncker und die unterschwellige Frage, welcher aufrechte Luxemburger denn schon Martin Schulz oder den Belgier Guy Verhofstadt als Kommissionspräsident präferiert.
Was allgemein erwartet wurde, tritt ein: Am Abend der Europawahl steht die CSV mit 37,65 Prozent der Stimmen und drei soliden Sitzen als strahlender Sieger da. Nicht auszudenken, was passiert wäre, hätten auch die Namen Juncker und Lulling auf der Liste gestanden!
Sieht die christlichsoziale Welt im Frühsommer 2014 damit schon wieder freundlicher aus? Nicht ganz. Denn Juncker, dem der Brüsseler Spitzenposten nicht mehr zu nehmen ist, entpuppt sich als Kaskoversicherungspolitiker der klebrigen Sorte: Bis zum 1. Oktober bleibt er „Oppositionsführer“ in der Chamber – obwohl er bereits am 15. Juli vom Europaparlament als Kommissionspräsident bestätigt wurde und seine ganze Zeit mit der Aufstellung seines Teams in Brüssel verbringt. Erst am 1. November, dem Tag des Amtsantritts im Berlaymont, demissioniert er als Abgeordneter in Luxemburg. Ein Jahr lang war die CSV-Fraktion faktisch blockiert, jetzt wird sie von einer bleiernen Last befreit. Der rührige, um seinen Job nicht zu beneidende Generalsekretär Laurent Zeimet darf in die Chamber nachrücken.
2. Phase: Introspektion
Zu den Wesensmerkmalen einer paternalistischen Partei, deren kulturelle Wurzeln im Katholizismus liegen, gehört die Angst der Zentrale vor Kontrollverlust an der Peripherie. Macht beruht auf dem Glauben an die natürliche Autorität von Obrigkeit. Will heißen: Die Führung gibt die Richtung vor, die Basis empfängt die Botschaft und verkündet sie in Stadt und Land. Im Zweifelsfall gilt: Roma locuta, causa finita.
In der Politik funktioniert dieses Schema ganz wunderbar, solange die Partei Erfolg hat, Wahlen gewinnt, Posten verteilen kann. Erfolge sind der beste Garant für pensée unique. Läuft es mal nicht so gut, so dass Macht und Diäten verloren gehen, besteht das Risiko, dass die einheitliche Sprachregelung hinterfragt wird. Spätestens dann sollten in den oberen Parteietagen die Alarmglocken läuten.
Anfang Januar 2014 entzündet sich in der CSV das Feuerchen der taktvollen Kontestation. Eine bis dahin völlig unbekannte und eher informell organisierte Gruppe tritt auf den Plan. Im Kern besteht sie aus angegrauten Alt-CSJlern und ehrgeizigen Jungtürken (darunter Serge Wilmes), nennt sich Dräikinneksgrupp und pflegt einen für CSV-Verhältnisse ungewohnt akademischen Diskurs. Unter dem Titel „C wie Centrum“ veröffentlicht das Luxemburger Wort das Ergebnis ihrer Reflexionen. Darin wird die CSV aufgerufen, einen tiefgreifenden, partizipativen Prozess der Selbstfindung und Erneuerung zu lancieren. Die „Breedewee“-Generation – so benannt nach einem ikonografischen Plakatfoto von 1984, auf dem die damals Jungen Wilden der CSV (Jean-Claude Juncker, Viviane Reding, François Biltgen, Marie-Josée Jacobs, Lucien Weiler u.a.m.) zielstrebig über die Pflastersteine des Breedewee vom Grund in die Oberstadt marschieren – habe ihre Pflichten für Land und Partei erfüllt. Doch jetzt sei es an der Zeit, die alten Gewissheiten, vor allem aber einen zur selbstverliebt-eigensüchtigen Pose erstarrten Habitus in Frage zu stellen.
Die CSV-Spitze reagiert nach altbewährtem Rezept: Totschweigen ist die beste Verteidigung. Bei der interessierten Öffentlichkeit aber landet die Denksportgruppe dank freier Presse und neuer Medien einen Aufmerksamkeitserfolg.
Beim Nationalkongress am 8. Februar 2014 wird Marc Spautz als Nachfolger des hartschädeligen Michel Wolter zum neuen Parteipräsidenten gewählt. Spautz ist ein bauernschlauer Politprofi, der, in Anwandlung an das Gattopardo-Prinzip, begriffen hat, dass vieles in der CSV sich ändern muss, damit alles beim Alten bleibt. Und so stimmt der Kongress dann auch einmütig eine Resolution, die den Weg zu einer behutsamen, neues Wahlglück versprechen den Erneuerung ebnen soll.
Es soll ein kontrollierter Top-down-Prozess werden. Zwei als unbefangen präsentierte Experten, der renommierte Rechtsanwalt Marc Thewes und der Kommunikationsberater Marc Glesener, werden mit der Erstellung eines Berichts über Ist-Zustand und Reformpotential der CSV beauftragt. Die beiden nehmen sich Zeit, führen Sondierungsgespräche in die tiefsten Verästelungen der Volkspartei hinein, treffen sich sogar mit dem Dräikinneksgrupp. Letzterer publiziert im Januar 2015 ein Buch mit dem Titel „C wéi Choix. Chrëschtlech-sozial Perspektiven op Politik, Gesellschaft a Partei“. Auf 220 Seiten kommen 18 Autoren zu Wort. Deren Essays behandeln Themen wie Parteireform, Religionspolitik und Laizismus, Nachhaltigkeit, Familien- und Sozialpolitik. Zeitgleich erscheint der Thewes/Glesener-Bericht „Perspektiven für eine moderne und lebendige Volkspartei. Reformpisten für die CSV“. Was hier auf 30 Seiten zu lesen ist, soll niemandem auf den Schlips treten. Aus ihren Sondierungen ziehen die Autoren den Schluss: „Jean-Claude Juncker ist und bleibt unantastbar.“ Dennoch lassen sie keinen Zweifel daran, dass die traditionelle Regierungspartei CSV in der Vergangenheit zu einer Art „Staats-CSV“ mutierte, in der wenige führende Köpfe die Richtung vorgaben, wogegen die Mitglieder sich oft vernachlässigt, ja zu Statisten degradiert fühlten. Durch Mitsprache und neue Beteiligungsmöglichkeiten müsse wieder deutlich werden, dass aktives Engagement sich lohne. „Mitgliederpartei“ lautet das Zauberwort auf dem Weg zurück in die Ministerien. Fast beiläufig taucht im Thewes/Glesener-Papier zum ersten Mal der Name eines künftigen Programm-Manifests auf: „Unser Plan für Luxemburg“.
Nicht alle Erkenntnisse aus der Introspektionsphase 2014-2015, wo die CSV, aus guten Gründen, vor allem mit sich selbst beschäftigt ist, werden in den dreieinhalb Jahren bis zu den Parlamentswahlen 2018 umgesetzt. Doch die missmutige Stimmung in der Partei hat sich gedreht. Die Umfragewerte zeigen nach oben. Das von der Dreierkoalition initiierte Referendum vom 7. Juni 2015 erscheint wie ein Geschenk des Himmels.
3. Phase: Verantwortungsethik
Nun könnte die CSV das Referendum zum „Einwohnerwahlrecht“ für Nicht-Luxemburger bei Parlamentswahlen ja für allerlei Stimmungsmache und gefährlichen Unfug nutzen. Sie könnte in den Frontalangriffsmodus umschalten, der ihr am Ende der Oppositionsjahre 1974-1979 ein triumphales Comeback beschert hatte. Das Luxemburger Wort schoss damals aus allen Rohren, manchmal weit übers Ziel hinaus, fast täglich brachte der Luussert mit seiner Kolumne Lénks geluusst die sozialliberalen Eliten zur Hyperventilation.
Doch die Zeiten haben sich grundlegend gewandelt, nicht nur im LW. Wenn Juncker ein Verdienst gebührt, dann das, dass er seinen Truppen die Versuchungen des Rechtspopulismus ausgetrieben hat. Bayerischer CSU-Klamauk? In der Wiseler-CSV ein No-Go!
Dennoch weiß die Partei, dass selbst im angeblich so kosmopolitischen Luxemburg die Sterne für einen solch radikalen Paradigmenwechsel wie „Wahlrecht für alle“ ungünstig stehen. Ihrer Einschätzung nach lassen die Dreierkoalitionäre sich vom Wunschdenken einer urbanen Bildungsbürgerschicht leiten, die keineswegs repräsentativ fürs ganze Land ist. Für die politische Kultur Luxemburgs, für das Gleichgewicht der Demokratie könnte es letzten Endes verheerend sein, würden die vier etablierten Parteien in dieser Frage kollektiv vom Volk desavouiert. Also gibt die CSV die „Nein“-Parole heraus, wohlwissend, dass sie damit eine gesellschaftliche Verantwortung übernimmt, die vorprogrammierten identitären Emotionen, die allenthalben hochzukochen drohen, in zivilisiert-gesittete Bahnen zu lenken. Zugleich spricht sich die gesinnungsethisch kalibrierte CSJ (wie übrigens auch LCGB, Luxemburger Wort und der Erzbischof) mit Verweis auf christlichsoziale Grundsätze für ein „Ja“ beim Referendum aus. Im Nachhinein betrachtet ein dialektischer Glücksfall, über den die CSV-Spitze alles andere als amüsiert ist.
Selbst nach dem für die Regierung so verheerenden 80/20-Schock bleibt die größte Oppositionspartei auf dem Teppich. Wie von Claude Wiseler im Vorfeld angekündigt, macht sie Ernst mit der Konsensbereitschaft im Hinblick auf ein neues Nationalitätsgesetz, das die Erlangung der Staatsbürgerschaft vereinfachen und dazu beitragen soll, demokratische Defizite im Land wenigstens teilweise zu beheben. Ein Kernpunkt ist das Ius soli (droit du sol): Wer in Luxemburg geboren ist und hier lebt, wird mit 18 Jahren automatisch Luxemburger. Das in vielerlei Hinsicht revolutionäre Gesetz vom 8. März 2017, ebenso wie die generell konstruktive Haltung der CSV in der Flüchtlingsdebatte, gilt als zeitgenössisches Paradebeispiel Luxemburger Konkordanzdemokratie. Wer Opposition um der Opposition willen erwartet hatte, ist bei Wiseler an der falschen Adresse.
Vielleicht ist es diese ruhige, unaufgeregte und an Sachfragen orientierte Art, die den Ausschlag dafür gibt, dass der studierte Literaturwissenschaftler – man bemerke die Ähnlichkeiten mit dem 1959 verstorbenen CSV-Staatsminister, Humanisten und Universalgelehrten Pierre Frieden – sich im parteiinternen Auswahlverfahren gegen den früheren Dauphin Luc Frieden, Alleskönnerin Viviane Reding und die nassforsch-schneidige Martine Hansen als CSV-Spitzenkandidat durchsetzt. Beim Konvent am 8. Oktober 2017 wird die Vorentscheidung des Nationalrats mit 98 Prozent Zustimmung bestätigt. Die CSV hat jetzt ganz offiziell einen neuen Leader, auf den sich alle Hoffnungen richten.
Viele Fraktionskollegen und Parteimitglieder hatten es Luc Frieden übelgenommen, dass er Mitte 2014, nach wenigen Monaten auf der Oppositionsbank, sein Abgeordnetenmandat niedergelegt und zur Deutschen Bank nach London abgedampft war. Als Vice Chairman muss er dort über die nötige Zeit verfügt haben, um ein aufschlussreiches Buch mit dem Titel „Europa 5.0. Ein Geschäftsmodell für unseren Kontinent“ zu schreiben. Es liest sich wie ein Aktionsprogramm der turbokapitalistischen Hochfinanz. Von daher erhebt es auch nicht den Anspruch, mit der katholischen Soziallehre kompatibel zu sein. Frieden kehrt Anfang 2016, nach nur anderthalb Jahren, nach Luxemburg zurück, wird Bankier, Zeitungsverleger und Geschäftsanwalt. 2019 will er Juncker in der EU-Kommission beerben.
Hat die CSV den Frust über ihr Annus horribilis 2013 überwunden? Hat sie zu sich selbst gefunden, um mit der richtigen Mischung aus Demut, Sachverstand und visionärer Kraft wieder Regierungsverantwortung zu übernehmen? Tatsache ist: Claude Wiseler ist die Dinge positiv angegangen. Opposition ist wichtig, Opposition bietet Chancen, Opposition kann auch Spaß machen – so oder so ähnlich hielt er die christlichsozialen Bataillone beisammen. Hätte Wiseler heute überhaupt die Chance, Premierminister zu werden, wenn die Dinge 2013 nach Gusto der Juncker-CSV verlaufen wären?
Andere Frage: Wäre es der CSV ohne Gang durch die Opposition bei den Kommunalwahlen vom 8. Oktober 2017 gelungen, den ewigen Konkurrenten LSAP im Rennen um die meisten Gemeinderatssitze in den Proporzgemeinden glattweg zu deklassieren? Wäre Serge Wilmes heute Erster Schöffe der Stadt Luxemburg? Wäre Georges Mischo Bürgermeister von Esch? Tatsache ist: Viele CSV-Gemeinderäte, -Schöffen und -Bürgermeister haben begriffen, dass der nationale Machtwechsel von 2013 ihren lokalen Ambitionen von 2017 keineswegs geschadet hat. Im Gegenteil.
Als partizipative Debattenzeitschrift und Diskussionsplattform, treten wir für den freien Zugang zu unseren Veröffentlichungen ein, sind jedoch als Verein ohne Gewinnzweck (ASBL) auf Unterstützung angewiesen.
Sie können uns auf direktem Wege eine kleine Spende über folgenden Code zukommen lassen, für größere Unterstützung, schauen Sie doch gerne in der passenden Rubrik vorbei. Wir freuen uns über Ihre Spende!
