- Gesellschaft
Gedenkkultur als nationaler Konsens?
Die ‚neue Erinnerungskultur‘ und ihre Fallstricke
„Wir waren nicht alle Helden!“, so eines der ersten Bekenntnisse aus dem Munde des Premierministers, als er die Ergebnisse des „Artuso-Berichts“ vorstellte. 70 Jahre hatte es gedauert, bis in Luxemburg auf Regierungsebene von „Kollaboration“ gesprochen wurde. Der „rapport Artuso“, dem nach seiner Veröffentlichung Nationalisten Einseitigkeit vorwarfen oder die wissenschaftliche Herangehensweise seiner These ganz grundsätzlich in Frage stellten, bildete den Ausgangspunkt eines neuen offiziellen Gedenkens.
Am 9. Juni 2015 entschuldigten sich Premierminister und Regierung in der Chamber offiziell bei der jüdischen Gemeinschaft.1 Auf soziokultureller Ebene war der Film Eng nei Zäit von Viviane Thill (Drehbuch) und Christophe Wagner (Regie), mit dem Untertitel: „Kann ein Land eine Zukunft auf Lügen aufbauen?“, gewissermaßen die kulturelle Antwort zur aktuellen Infragestellung der Vergangenheit.2 Er zeigt, dass die Kollaboration nicht schwarz-weiß abgehandelt werden kann, zeigt Verstrickungen und Grautöne. Das Drama, in dem Luxemburger mit Rang und Namen mitspielen, wurde überwiegend positiv aufgenommen. Gegen das neue Eingeständnis gab es aber auch Widerstand. Das Luxemburger Wort z.B. versuchte, einen „Historikerstreit“ durch prominente Platzierung(en) von Positionen wie die eines Charles Barthel anzustrengen. Durch die von Beginn an existierende Gleichzeitigkeit von offiziellem Schuldeingeständnis und auf Konsens ausgerichteter „Vergangenheitsbewältigung“ fand dies jedoch nur ein begrenztes Echo.
Die Gedenkzeremonie vor dem Luxemburger Bahnhof am 16. Oktober 2016, 75 Jahre nach Abtransport des ersten Konvois mit Juden von Luxemburg ins Ghetto „Litzmannstadt“, war eine weitere symbolisch wichtige Etappe in der „Geschichtsbewältigung“3 Luxemburgs und seiner Rolle im Zweiten Weltkrieg. Bezeichnenderweise leitete Premier Bettel seine Rede anlässlich der Gedenkveranstaltung mit dem bekannten Adorno-Zitat ein: „Nach Auschwitz noch ein Gedicht zu schreiben wäre barbarisch. (…) Die Verbrechen an der Menschlichkeit waren nicht nur Verbrechen ,in einer Zeit‘. Sie wirken bis heute nach und wurden über Generationen weitergetragen.“4 In welcher Form und an wen sie „weitergetragen“ wurden, etwa an die tatsächlichen Nachkommen oder aber an die Gesamtheit der Luxemburger, bleibt dabei unklar. Der Schwierigkeit, einer wie auch immer gearteten Verantwortung in einer Nation mit vielen Zuwanderern wie Luxemburg hier konkreter geschichtlich oder moralisch zu benennen, weicht er aus.
Erinnerungskultur als Therapie
Die in Adornos Diktum gestellte Frage nach dem ob und wie einer sinnstiftenden Kultur angesichts der absoluten Negation wird von Bettel interpretiert als „die Schwierigkeit und Unmöglichkeit, wirklich über die Shoah, den Mord an 6 Millionen europäischen Juden durch die Nazis im Zweiten Weltkrieg zu sprechen.“ Dieser Stille, die wohl auch ein Stück weit die Stille Luxemburgs über seine Vergangenheit erklären soll, setzt Bettel dann die „neue Erinnerungskultur“ entgegen: „Gerade an diesem Erinnerungstag (…) ist es mir wichtig, eine Bestandsaufnahme von ,der neuen Erinnerungskultur‘ an den Zweiten Weltkrieg und seinen Opfern hier in Luxemburg zu skizzieren“.5
Die Elemente dieser neuen Erinnerungskultur stellte Bettel denn auch anlässlich der Gedenkzeremonie vor. Zuerst ist es das mit Gesetz vom 21. Juni 2016 entstandene Comité pour la mémoire de la Deuxième Guerre mondiale. In dieses wurde das frühere Comité directeur pour le souvenir de la résistance, mit Sitz in der Villa Pauly – dem einstigen Folterhaus der Gestapo in Luxemburg – und das frühere Comité directeur pour le souvenir de l’enrôlement forcé, das am Hollericher Bahnhof angesiedelt war, eingegliedert. Beide Häuser, die als „nationale Monumente“ eingestuft sind, sollen ihre Rolle als Erinnerungsorte behalten. Die Villa Pauly wird zum Sitz des neuen Komitees und der Hollericher Bahnhof mit seinem umstrittenen Mahnmal6 soll weiterhin als pädagogisches Zentrum zur Erinnerung an den Krieg dienen. Das Comité pour la mémoire werde aus drei Säulen bestehen, erklärte Bettel, wobei das wirklich Neue für Luxemburg sei, dass die jüdische Kommunität jetzt auf dem selben Niveau vertreten sei wie die Resistenz und die Zwangsrekrutierung. So ist das Komitee aus 18 Vertretern paritätisch besetzt mit sechs Vertretern der jüdischen Gemeinschaft, sechs Vertretern der Résistance und sechs Zwangsrekrutierten. Dem Gremium wurden verschiedene Missionen übertragen, wie die Erinnerung zu erhalten, Gedenkveranstaltungen auszuarbeiten und die Öffentlichkeit zu sensibilisieren. Die Gründung einer Fondation de la mémoire de la Shoah, deren Hauptaufgabe im Bereich der „Pädagogik der Erinnerung“ liegen wird, ist ein weiteres Element. Am Ende soll ein neues, erstmals nationales Mahnmal an die Shoah erinnern. Dieses soll 2018 im Regierungsviertel installiert werden, unweit der Stelle, an der die erste Synagoge um 1840 stand. Die Erinnerung an die Shoah erhält so erstmals einen eigenen, zentralen Ort, der zugleich eingereiht wird in ein nationales Gemeinsames.
Ein Gremium für alle
Zum ersten Mal sind es also nicht mehr nur die „eigenen“ Opfer der Kriege, derer heroisch gedacht wird und die trauernd beklagt werden. Andere Opfer der NS-Verbrechen werden ebenfalls in die Verantwortung der kollaborierenden Staaten und Gesellschaften mit einbezogen. „Erinnerung darf sich nicht auf Triumphe beschränken“, betonte zudem der Premierminister anlässlich der Eröffnung einer internationalen Fachtagung in Esch7, die Ende Januar dieses Jahres statt fand. Letztlich gebe es auch die Wahrheit der Überlebenden. Doch wird ein Komitee, in dem Angehörige der Résistance, Zwangsrekrutierte und Vertreter der jüdischen Gemeinschaft einvernehmlich Erinnerungsveranstaltungen ausarbeiten und so der „neuen Gedenkkultur“ ein Gesicht geben sollen, funktionieren? Was wäre das für „ein“ Gesicht, das hier unterschiedliche Perspektiven zusammenbringen – wenn nicht gar vereinen – soll? Ist es nicht eine Zumutung für die Nachfahren jüdischer Deportierter, dass sie zusammen mit Mittätern „eine Wahrheit“ einbringen sollen? „Ich habe nach zwei Sitzungen das Gefühl, dass man wieder den Deckel drauflegen will. Dabei haben wir noch gar nicht angefangen (…) Der Diskurs ‚Wir waren alle Opfer‘ persistiert“, äußerte sich Henri Juda, Präsident von MemoShoah und Mitglied der jüdischen Opfergruppe des neuen Komitees anlässlich der Escher Konferenz zu deren Arbeit.
Widerstände, am Mythos der nationalen Resistenz zu kratzen, waren gleich zu Beginn aus den Reihen des neuen Gremiums wahrnehmbar. So erklärte deren Präsident, Albert Hansen, in einem Interview im Luxemburger Wort: „In allem, was die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg betrifft, spricht in Zukunft das Comité pour la mémoire offiziell mit einer Stimme für alle drei Organisationen, für die Resistenz, für die Zwangsrekrutierten und für die jüdische Gemeinde.“8 In besagtem Interview äußerte Hansen auch, dass, wenn man die Zeitspanne als Luxemburger betrache, die Frage erlaubt sein müsse, „ob das Thema Kollaboration wirklich das wichtigste Thema der Epoche ist“. Es habe keinen Grund gegeben, dieses Thema prioritär zu behandeln. Den „Resistenzlern“ sei es wichtig gewesen, dass das Land befreit wurde und dass die Menschen wieder ein normales Leben führen konnten. „Eine Gesellschaft funktioniert nur, wenn sie in ihrem Inneren kohärent ist. Wenn sie aber in derart sensiblen Punkten gespalten ist, dann wird sie auseinanderbrechen.“ Sehr deutlich formuliert Hansen hier den Anspruch, selbst von einer prioritären Position aus über die Vergangenheit zu urteilen, als legitimer Vertreter eines nationalen Kollektivs. Der Aufruf zur Einheitlichkeit ist hierbei aber eher als Drohung zu verstehen. Gegenüber wem, ist kaum misszuverstehen. Auf dem Escher Kolloquium legte Hansen nach: „Für die Luxemburger war der Angriff auf Polen sehr weit entfernt. Es herrschte Krieg. Wir waren besetzt. (…) Ich weiß nicht, ob der 2. Weltkrieg heute noch so relevant ist.“ – Äußerungen, die für Shoah-Überlebende schwer erträglich sind und ihn als Präsidenten des Komitees eigentlich disqualifizieren.
Hansens scharfe Töne dürften nicht im Interesse Bettels und der „neuen Erinnerungskultur“ sein. Mit den Elementen einer Stiftung, deren Hauptaufgabe im Bereich der Pädagogik liegen soll, nationalem Mahnmal und Konsenskomitee zeigt diese durchaus Parallelen zur deutschen Diskussion über die „Bewältigung der Vergangenheit“. Das Ziel besteht somit darin, durch Anerkennung eine Befriedung herbeizuführen und eine irgendwie geartete gemeinsame nationale Erzählung über die Vergangenheit zu erzeugen, die vereint – möglichst Opfer und Kollaborateur. Noch ist es zu früh, um zu sagen, ob diese Gratwanderung gelingt. Diesem Ansatz wohnt jedoch die Gefahr inne, dass der Punkt erreicht wird, an dem es heißt, „Nun haben wir genug geredet, jetzt seid auch mal zufrieden.“ „Geschichtsbewältigung“ kann nach dieser Lesart an ein Ende kommen.
Schlussstrich unter ein unliebsames Kapitel der Geschichte?
Was Gedenkkultur im Allgemeinen angeht, so stellt sich die Frage: Wie angemessen gedenken, was erinnern, was vergessen? Warum es in Luxemburg zu solch einer Verspätung bei der Geschichtsaufarbeitung gekommen ist, darauf gibt es bislang nur teilweise Antworten. In Fünfbrunnen gab es ein Mahnmal, aber davor und danach sei Stille gewesen, beklagt die Historikerin Renée Wagener während der Tagung in Esch, während Claude Marx hervorhebt, dass es einen Schutz der Eliten gab und der Verfasser des Artuso-Berichts monierte, dass der Zugang zu Quellen immer schwieriger werde.9 Auch im Geschichtsunterricht in Luxemburg spiele die klassische Auseinandersetzung mit Quellen keinerlei Rolle, berichtet der Student Tom Zago anlässlich eines Rundtischgesprächs zu „Jugend und Erinnerungsarbeit“ und wies darauf hin, dass ihm die Auseinandersetzung mit der komplexen Luxemburger Geschichte in seiner Schulzeit nicht möglich war. Die Schulbücher seien entweder deutsche oder französische gewesen und in Luxemburg bekäme man daher entweder das Geschichtsbild der deutschen oder der französischen Nachbarn vermittelt.
Klar ist, dass von verschiedenen Formen des Erinnerns ausgegangen werden muss. Persönliche und kollektive Erinnerungen ergänzen sich. Erinnern ist zudem ein Prozess, der in den nächsten Jahrzehnten wahrscheinlich zunehmend mediatisiert werden wird.10 Und da die letzten Zeitzeugen der Shoah bald nicht mehr da sein werden, bedarf es ihrer Stimmen zumindest über digitale Kanäle. Diese Wortbeiträge sind äußerst kostbar, denn mit der vierten und fünften Generation nach dem Holocaust verschwindet die unmittelbare generationelle Verbindung zum Geschehenen. Wenn keine Zeitzeugen mehr da sind, wird es eben auch keine „direkte Überlieferung“ mehr geben. Entscheidende Anstöße, die Vergangenheit aufzuarbeiten gingen in den letzten Jahren ohne Zweifel vom Verein MemoShoah aus. Deren Veranstaltungen sind als Initiative aus der Zivilgesellschaft in Luxemburg nicht mehr wegzudenken. Ihre Arbeit ist ein wichtiger Baustein der kritischen Erinnerungsaufarbeitung.
Was für eine Nachricht kann also von „Erinnerung“ ausgehen?, fragte auch Xavier Bettel anlässlich der Gedenkzeremonie am 16. Oktober 2016. Als Antwort fiel Bettel allerdings nur ein allgemeines Plädoyer zur Humanität ein. Das Plädoyer des ehemaligen Präsidenten des jüdischen Konsistoriums, Claude Marx, fällt nuancierter aus. Er sieht Mahnmale und Erinnerungszeremonien als notwendige „Stiche zur Erinnerung“ und in der Pädagogik den Schlüssel.11 Nur das, was in Museen ausgestellt, in Denkmälern verkörpert und in Schulbüchern vermittelt wird, kann an nachwachsende Generationen weitergegeben werden.12 Um der aus Luxemburg deportierten Menschen zu gedenken, stellten Schüler im Rahmen der Gedenkzeremonie am 16. Oktober dann auch am Hauptbahnhof 323 Koffer mit den Namen der Deportierten ab. Deren Namen wurden verlesen und Berichte von drei Zeitzeugen während der Zeremonie vorgetragen. Es handelt sich um ein an Schulen und von Schulklassen ausgearbeitetes Konzept, das als solches sicherlich Sinn macht. Doch sollte man den Deportierten gedenken, indem man Staatsmänner mit nachgebastelten Pappkoffern ausstattet und medienwirksam inszeniert?
Angesichts dieses von manchen so empfundenen „Holocaust-Kitsches“, der teilweise sich ritualisierenden Zeremonien und der Einbettung in die Rechtfertigung heutiger Politik, zum Beispiel für die EU, wird mit Verweis auf Enzo Traverso die Gefahr heraufbeschworen, dass die Erinnerung an die Shoah eine legitimierende „Alltags“- oder „Zivilreligion“ westlicher Staaten ist. Abgesehen davon, dass dieser Einwand am Beginn einer „Geschichtsbewältigung“ in Luxemburg, bei der bislang nicht einmal über individuelle Entschädigungen gesprochen wurde, etwas Anmaßendes hat, ist dieser Gefahr gut zu begegnen: Wenn die entscheidende Perspektive, um die Vergangenheit zu verstehen, diejenige der Opfer ist, dann entzieht sie sich der harmonisierenden Erzählung.
1 Offizielle Entschuldigung bei der Jüdischen Gemeinschaft, Déclaration du Gouvernement vom 9. Juni: «Le Gouvernement entend rendre justice aux membres de la communauté juive (…) Dans ce contexte, le Gouvernement présente ses excuses à la com- munauté juive pour les souffrances qui leur furent infligées et pour
les injustices commises à son endroit et reconnaît la responsabilité de certains représentants de l’autorité publique dans l’incommensu- rable qui a été commis. », SIP, 2015.
2 Filmstart in Luxemburg: 14. Oktober 2015; Assmann, Aleida: Das neue Unbehagen in der Erinnerungskultur, Verlag Beck, München 2013, S. 21.
3 Vor den Termini „Geschichtsbewältigung“ und „Vergangenheits- aufarbeitung“ sollte auch im luxemburgischen Kontext gewarnt wer- den, da diese Begriffe immer die Gefahr bergen, dass ein Schluss- strich unter den deutschen Massenmord an sechs Millionen Juden gezogen wird und damit die eigene Geschichte gewissermaßen wie- der „repariert“ wird.
4 Rede des Premierministers Xavier Bettel anlässlich der Erinne- rungszeremonie am 16. Oktober 2016.
5 Ebd.
6 Ebd.; Das Denkmal in Hollerich erinnert lediglich an die „Luxem- burger Zwangsrekrutierten“. Bettel spricht von einem „parcours mémoriel“: „Sou gëtt de parcours mémoriel tëschent der Gëlle Frau, déi d’Nazien am Oktober 1940 nidderlee geloos hun, an dem Monument de la Solidarité nationale um Kanounenhiwwel, dat 1971 gebaut gouf, ëm en drëtt wichtegt Element erweidert.“
7 Die internationale Fachtagung „Fragen zur Zukunft der Gedenk- und Erinnerungsarbeit“ fand vom 20.-21. Januar 2017 in Esch-sur- Alzette statt und wurde organisiert vom Resistenzmuseum, der Escher Kulturfabrik, den Freunden des Resistenzmuseums, den Témoins de la 2e génération sowie MemoShoah.
8 Schumacher, Dani: „Neue Wege der Erinnerung“, Interview mit Albert Hansen im Luxemburger Wort vom 9. Dezember 2016, S. 2-3.
9 Alle Zitate stammen von der Table Ronde: „Gedenken an den Holocaust“, die im Rahmen der Escher Konferenz (im Januar 2017) stattfand.
10 AufdievonDr.AndreasFickers,DirektordesCenterforContem- porary and Digital History der Uni Luxemburg, gestellte Frage nach zukünftigen Herausforderungen der Erinnerungsarbeit im digitalen Zeitalter gingen die Teilnehmer eines Rundtischgesprächs leider kaum ein.
11 Rede des ehemaligen Präsidenten des Jüdischen Konsistoriums Claude Marx anlässlich der Gedenkveranstaltung am 16. Oktober 2016.
12 Assmann (2013).
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