Laut einer Eurobarometer-Umfrage1 von März 2019 im Vorfeld der Europawahlen ist das Thema „Einwanderung“ in der Prioritätenrangfolge der Unionsbürger auf den dritten Platz gerutscht. Abgelöst wird das einstige Topthema von Wirtschafts- und Wachstumsfragen an erster und Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit an zweiter Stelle. Während Themen zu Umweltschutz und Bekämpfung des Klimawandels derzeit einen klar erkennbaren Aufwärtstrend verzeichnen, dürften die Flüchtlingsbewegungen, die 2015 ihren vorläufigen Höhepunkt erreichten, wohl auch angesichts der inzwischen stark rückläufigen Zahlen der Mittelmeer- und Landankünfte, die laut Angaben vom UN-Flüchtlingshilfswerk von 1.032.408 in 2015 auf nur noch 141.472 in 20182 drastisch gesunken sind, im Bewusstsein der Bürger ihre Schreckenswirkung verloren haben. Angesichts der größten Massenbewegung Schutzsuchender, die den europäischen Kontinent je erreicht hat, hat die EU auf das gesteigerte Sicherheitsbedürfnis reagiert und ihre Schutzmaßnahmen erhöht. Zwar nicht zugunsten der Schutzsuchenden, dafür aber zugunsten ihrer eigenen Bürger und der von ihnen als invasiv empfundenen Bedrohung von jenseits der Außengrenzen. Der verschärften EU-Sicherheitspolitik könnte dann der in der gleichen Umfrage angedeutete Abwärtstrend in Sachen Terrorismusbekämpfung, im April 2018 noch an erster, im März des darauffolgenden Jahres dann nur noch an fünfter Stelle der Prioritätenrangliste, entsprechen. Während sich die öffentliche Debatte der Jahre 2015-2017 hauptsächlich um die sozialen Auswirkungen der Einwanderung drehte, offenbart die aktuelle Kontroverse um die Seenotrettung im Mittelmeer aber eine viel grundsätzlichere Problematik.
An den Grenzen des Rechts
Im Spannungsfeld zwischen internationalem Flüchtlingsrecht, den internationalen und europäischen Menschenrechten sowie nationalem Recht verstricken sich die grundlegenden juristischen Referenzwerke in ausweglose Aporien, die in der Praxis zu abstrusen Situationen wie z.B. der Auferlegung einer Rettungspflicht von Schiffsbrüchigen an Schiffskapitäne bei gleichzeitigem Einfahrtsverbot in nationale Hoheitsgewässer führen, die zur Bergung ebendieser logischerweise letztlich aber notwendig ist. So kann es dann schon mal vorkommen, dass das Retten von Menschenleben als Beihilfe zur illegalen Einwanderung ausgelegt wird. Und selbst die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), die als Grundlagentext des internationalen Flüchtlingsrechts gilt und in ihrem Titel den Anspruch führt, die „Rechtsstellung der Flüchtlinge“ regeln zu wollen, offenbart gravierende elementare Regelungslücken, die eben nicht, wie es der eigentliche Wortsinn des Begriffes „Flüchtling“ nahelegt, den Status jener Personen klärt, die zur Flucht aufbrechen oder sich auf der Flucht befinden, sondern lediglich den derer, die bereits andernorts angekommen sind und aufgenommen wurden. Die gegenseitige Vereinbarung um Rechte und Pflichten zwischen Geflüchteten und ihren Aufnahmeländern, wie sie die GFK etabliert, ist nämlich an den rechtlichen Flüchtlingsstatus gekoppelt und resultiert erst aus dessen amtlicher Anerkennung.
Das eigentliche Problem beginnt aber schon bei der Definition des Begriffes „Flüchtling“ selbst. Indem die GFK den „Flüchtling“ als eine Person definiert, die sich aus unterschiedlichen, als rechtmäßig anzuerkennenden Gründen „außerhalb des Landes befindet, in welchem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte“3, impliziert sie die Flucht an sich nur per Umkehrschluss und als eine bereits ergriffene Maßnahme, über deren Rechtmäßigkeit erst das jeweilige Aufnahmeland a posteriori befinden wird. In der Logik des Rechts berechtigt die GFK streng genommen also nicht zur Flucht, sondern rechtfertigt allenfalls rückwirkend eine bereits vollzogene Flucht, indem sie Rechtfertigungsgründe liefert, die die Rechtswidrigkeit der Tat ausschließen und so eine eigentlich unerlaubte Handlung oder etwaig begangenes Unrecht relativieren. Ein Recht auf Flucht, wie es in der öffentlichen Debatte oft als gegeben vorausgesetzt wird und nicht nur die Ausreise aus dem Heimatland, sondern eben auch die Einreise in ein anderes Land impliziert, wird an keiner Stelle der Konvention explizit ausformuliert bzw. eingeräumt. Dem Recht auf Flucht aus dem Heimatland entspricht also kein Recht auf Aufnahme im Gastland, ohne die das Recht auf Schutz wiederum nicht greifen kann.
Ein transnationales Weltbürgerrecht?
Solche und ähnliche Leerstellen im Rechtssystem setzen das Moment der Selbstermächtigung implizit voraus, insofern als das „Recht auf Migration, das Recht auf Bewegungsfreiheit […] noch vor seiner politischen Institutionalisierung durch die Praxis derjenigen [entsteht], die es sich nehmen, auch wenn es ihnen von offizieller Seite nicht zugestanden wird.“4 Begreift man den unerlaubten Grenzübertritt als eine Subversionspraxis jener, die ihr Recht einfordern, wird sich diese kaum nur auf das Nichteinhalten geltender Einreisebestimmungen beschränken, sondern auch das Nichtnachkommen der Ausreisepflicht bei einmal abgelehntem Asylantrag umfassen. Diese Schlussfolgerung legt zumindest die Unverhältnismäßigkeit in der Anzahl zwischen gestellten und abgelehnten Asylanträgen einerseits und tatsächlich vollzogenen Abschiebungen andererseits nahe. Sie belegt jedes Jahr die Präsenz einer beachtlichen Anzahl an Menschen in der gesamten Europäischen Union, die sich nicht abschieben lässt. Diese „setzen damit implizit den Anspruch auf globale Rechte für alle auf die politische Agenda“5 und „praktizieren […] unter prekären Bedingungen ein transnationales, mithin sogar Weltbürgerrecht, das es offiziell noch nicht gibt.“6 Es sind abgelehnte und ausreisepflichtige Asylbewerber, die durch unterschiedliche Widerstandshandlungen ggf. eine jahrelange Duldung, ein Bleiberecht oder vielleicht sogar eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung erreichen. Diese Widerstandshandlungen können darin bestehen, die Registrierung zu umgehen, der Ausreisepflicht nicht nachzukommen, die Identität zu verschleiern, die Kooperation mit den Behörden zu verweigern, Berufungsmöglichkeiten auszureizen, temporär unterzutauchen oder aber nach erfolgter Abschiebung wieder einzureisen. Mit diesen Praktiken weisen sie die Rolle des Geflüchteten zurück, indem sie versuchen, sich das Recht auf den Zugang zu Rechten zu nehmen. Angesichts dieser Sachlage hätte eine grundsätzliche Revision der GFK in letzter Konsequenz ein Menschenrecht zur Folge, das die Einführung der Freizügigkeit und des Bleiberechts für alle bedeuten würde – eben nicht nur für Geflüchtete, sondern auch für Migranten.
Während es eigentlich immer noch um Definitionsfragen und Gesetzesauslegungen geht, geht es im Mittelmeer und in vielen Partnerstaaten außerhalb der EU um Leben und Tod. Davon zeugen nicht erst die absolut verstörenden Berichte des UN-Flüchtlingshilfswerkes über die gravierenden Menschenrechtsverletzungen in Libyen. Es geht längst nicht mehr um die Frage einer bloß humanitären oder moralischen Verpflichtung. Es geht um Grundsätzliches, es geht um Millionen Menschen, die im 21. Jahrhundert de facto vogelfrei sind.
Überblick
Victor Weitzel plädiert in seinem differenzierten Beitrag für eine striktere und wirklich europäische Asylpolitik, in der Recht, Menschlichkeit und Dauerhaftigkeit die zentralen Achsen wären.
Lucas Oesch, Léa Lemaire (Forscher am Institut für Geografie und Raumplanung der Universität Luxemburg) und Lorenzo Viarelli (Forscher an der Universität Exeter) untersuchen die Rolle nationaler und lokaler Akteure bei der Aufnahme und Unterbringung von Geflüchteten in Luxemburg.
Der Theologe Jean-Marie Weber geht der Frage nach, inwiefern die Bibel und die christliche Sozialethik Antworten auf die Herausforderungen der Gegenwart im Umgang mit Fremdheit und Migration bieten können und stellt den Motiven der Not und Flucht die zentralen christlichen Leittugenden der Gastfreundschaft und Nächstenliebe entgegen.
Im Interview erklärt die Anwältin Laura Urbany, inwiefern Recht immer auch eine Auslegungssache ist und welchen Spielraum Gesetze bieten. Zwar könnten die Mitgliedsstaaten die allgemeinen Kriterien, nach denen Recht auf Asyl besteht, nicht selbst bestimmen, jedoch sind sie frei in ihrer Interpretation, ab wann diese als erfüllt gelten.
Der Lehrauftrag am Lycée technique du Centre reicht weit über den bloßen Unterricht hinaus. Was es bedeutet, junge Geflüchtete zu betreuen und ihnen trotz ungewisser Bleibeaussichten Zukunftsperspektiven aufzuzeigen, erzählen Karolina Markiewicz und Tania Wenzel im zweiten, sehr lesenswerten Interview der vorliegenden Ausgabe.
Auf welche Weise existenzielle Erlebnisse, die mit der Fluchterfahrung einhergehen, im Film thematisiert werden, macht Viviane Thill an einer überzeugenden Auswahl unterschiedlicher Filme deutlich.
Schließlich verdeutlicht Anina Valle Thiele in ihrer Besprechung der 58. Kunstbiennale in Venedig, in der sie u.a. auch auf den luxemburgischen Beitrag des Künstlers Marco Godhino unter dem Motto Written by Water eingeht, wie stark das Thema Flucht in der Kunst zwischen humanitärem Engagement und Selbstinszenierung oszillieren kann. SC
- http://www.europarl.europa.eu/at-your-service/de/be-heard/eurobarometer/closer-to-the-citizens-closer-to-the-ballot (letzter Aufruf: 30. August 2019).
- https://data2.unhcr.org/en/situations/mediterranean (letzter Aufruf: 30. August 2019).
- United Nations High Commissioner for Refugees (UNHCR), Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (Art. 1 A Nr. 2).
- Miltiadis Oulios, „Die Grenzen der Menschlichkeit. Warum Abschiebung keine Zukunft hat“, in: Kursbuch 183 (Wohin flüchten?), 2015, S. 75-88, hier S. 79.
- Ebd. S. 81.
- Ebd. S. 80f.
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