Bei allem Streit um die richtigen Bildungs- oder Erziehungsziele wird die Frage völlig ausgeklammert, ob diese denn überhaupt notwendig sind und welche Funktion sie für wen erfüllen. Erziehungsziele werden wie selbstverständlich gesetzt von denen, die ein Interesse daran haben, wie die Jugend sein und werden soll. Dabei ist weniger die Pädagogik leitend als vielmehr die Wirtschaft, die Jugendliche mit Schlüsselqualifikationen benötigt, und die Politik, die auf mündige Bürger angewiesen ist. Aber auch Kritiker des Status quo setzen auf Erziehungsziele. Wie die Jugend sein will, wird dabei von Pädagogen egal welcher Schattierung so lange ignoriert, bis diese von sich aus will, was sie ohnehin soll. Erzieherischem Handeln ein Telos vorzuschalten oder nachträglich anzuhängen, abstrahiert immer von dem konkreten Inhalt des jeweiligen Erziehungsakts, dass eine Person einen Wissensvorsprung hat und eine andere davon profitiert. Das tatsächliche Ziel einer erzieherischen Handlung liegt nur in dieser selbst begründet und benötigt keine äußerliche Sinnsetzung. Erziehungsinhalt ist idealerweise nicht viel mehr als das, worauf sich Kind und Lehrer (diese Vereinfachung steht hier stellvertretend für ähnliche pädagogische Arrangements) einigen. Dass in der Realität diese Einigung auf die Inhalte nicht stattfindet, sondern dem Kind der zu lernende Gegenstand bereits vorgegeben ist, resultiert aus der Idee der Erziehungsziele und zeigt damit ihren sich vom Kind entfernenden Charakter. Das Kind soll nicht Dinge lernen, die ihm wichtig, interessant oder zumindest für seine Zwecke nützlich erscheinen, sondern die von ihm gefordert werden. Die Auswahl von Bildungsinhalten ist ebenso Ausfluss von Erziehungszielen wie der jeweils zugehörige didaktische Apparat. Der konkrete Inhalt der Erziehungsziele ist für die Kritik an ihnen zweitrangig. Ob ein Kind nun erzogen wird, um ein solidarischer, kritikfähiger und weltoffener Mensch zu werden (progressiv) oder ein gottesfürchtiger, disziplinierter und heimatverbundener (konservativ), macht auf methodischer Ebene keinen Unterschied, da es in beiden Fällen nicht primär um das Kind geht, sondern um die Idee eines Kindes oder um die Idee eines sozialen Bezugsrahmens, dem sich das Kind ungeachtet seines eigenen Willensinhalts einzugliedern hat. Das pädagogische „um zu“ negiert zwangsläufig jegliche Subjektivität und macht Erziehung zu einer reinen Anpassungsleistung. Das lässt sich gut erkennen, wenn ein Kind das Erziehungsziel nicht teilt. Denn dann muss dem Kind gegen seinen Willen und mit Hilfe von Sanktion deutlich gemacht werden, dass Erzieher mit ihrem Bildungsziel doch das Beste für das Kind wollen. Um ein Erziehungsziel auch gegen den Willen des Kindes durchzusetzen, wird es im schlimmsten Fall gebrochen. Nicht nur das Kind ist hier Opfer des Erziehungsziels, auch Pädagogen müssen, wenn sie institutionalisiert agieren, Erziehungsziele durchsetzen, die sich aus Quellen speisen, auf die sie zumeist keinen Einfluss haben. Viele Schüler übrigens haben den Nutzwertcharakter von Erziehungszielen bereits internalisiert, wenn sie fragen, was der Inhalt der Schulbildung denn für ihr späteres Berufsleben bringen soll.
Die Grundpfeiler heutiger Erziehungswissenschaft sind durchzogen von teleologischer Kindferne. Beispielhaft kann Immanuel Kant stehen, dem es nicht um Vermittlung von Fertigkeiten als Selbstzweck ging, sondern um eine Erziehung zur Moralität im Sinne einer aufgeklärten Pflichtenlehre. Dabei hat Kant entgegen seinen eigenen Grundannahmen regelrecht Angst vor einer Freiheit, die den Menschen nicht als Mittel zum Zweck setzt. Des Kindes Freiheit ist ihm suspekt, wenn sie nicht pädagogisch gezähmt wird. Eine erste Stufe der Zivilisierung in Kants Pädagogik beschreibt Peter Kauder als Notwendigkeit, das Kind dahin zu bringen, „seinen ursprünglich in Wildheit ausufernden Freiheitsdrang in sozusagen zivile Ketten zu legen“1. Diese Ketten, die sich Kant wie andere Pädagogen schönredet, sind die Erziehungsziele. Auch jegliche Reformpädagogik, die sich abgrenzen wollte von der jeweils herrschenden Pädagogik und ihren gesellschaftlich vorgegebenen Erziehungszielen, warb zwar damit, das Kind in den Mittelpunkt zu stellen. Tatsächlich aber stand im Mittelpunkt immer ein Telos, dem das Kind dienen, sich unterordnen sollte. Für Maria Montessori war das Ziel eine katholische Sozialhierarchie, für Rudolf Steiner die Durchsetzung okkult-kosmischer Gesetze, für A.S. Makarenko die kommunistische Utopie, etc. Auch die Antipädagogik, die Erziehung nicht Erziehung nennt, rahmt den Umgang mit dem Kind ideologisch. Janusz Korczak erkannte das Problem der Erziehungsziele in Anlehnung an Schleiermacher als Zeitfaktor und formulierte sein Recht des Kindes auf den heutigen Tag in Abgrenzung zu dem, was man aus ihm machen möchte. Doch auch Korczak kommt dabei nicht ohne eigene Ziele aus: „Wer die Kindheit überspringen will und dabei in die fernliegende Zukunft zielt – wird sein Ziel verfehlen.“2
Gut lässt sich das Problem der Erziehungsziele bei Paulo Freire erkennen, der am 19. September dieses Jahres 100 Jahre alt würde. Freire war ein brasilianischer Befreiungspädagoge, dem Erfolge bei der Erwachsenen-Alphabetisierung Lateinamerikas zugeschrieben werden. Seine Methodik war, von dem konkreten Lernstoff weg zu gehen und ihn in einen größeren Sinnzusammenhang einzuordnen. Auch ein ideologisch aufgeladenes Wort gilt ihm erst dann als gelernt, wenn der Sinn verinnerlicht ist. Wer „Boden“ lesen kann, ohne „Spekulation“ mitzudenken, kann nach Freire noch nicht richtig lesen. Nicht um das Lesen lernen ging es ihm also, sondern um das Lesen lernen als Mittel zum Zweck, ein kritisches Bewusstsein auszubilden. Der Paternalismus dieser Herangehensweise liegt auf der Hand: anstatt ein Werkzeug für das Verständnis der Welt zu vermitteln, gibt Freire direkt das für ihn richtige Verständnis vor und entmündigt somit seine Schüler. Diese Kritik hätte er zwar von sich gewiesen, da ihm ein dialogischer Prozess im Erziehungshandeln wichtig war. Aber es bleibt doch, dass er mit der Bewusstseinsbildung ein Ziel hatte, das bereits vor der erzieherischen Betätigung feststand. Damit sprach er seinen Zöglingen den Bewusstseinsstatus loser Marionetten zu, solange sie noch nicht mit seiner Pädagogik in Berührung gekommen waren. Freire wollte keine Bildung, die Wissen in den Schülern nur anhäuft. Aber was sollte daran falsch sein, den Schülern möglichst viel beizubringen und ihnen selbst zu überlassen, was sie damit machen? Es zeigt sich bei Freire, was auch bei anderen fortschrittlichen Pädagogen sichtbar ist: auch ein kritisches, humanistisches oder wie auch immer progressives Erziehungsziel bleibt in erster Linie ein von außen oktroyiertes, das dem Schüler die Möglichkeit einer eigenen Zielsetzung erschwert.
Dem Kind soll durch egal welche Erziehungsziele die Fähigkeit genommen werden, das, in was es ohnehin hineinwächst, vorurteilsfrei beurteilen und damit auch ablehnen und verändern zu können. Dass Pädagogik dabei glücklicherweise bei vielen Kindern scheitert, liegt an ihrer begrenzten Wirksamkeit. Verhalten determinieren kann sie nicht: ein freier Wille auch Minderjähriger ist zwar argumentativ zugänglich, lässt sich aber nicht steuern.
Die Erziehungswissenschaft weiß um die historische und geografische Relativität von Erziehungszielen. Trotzdem gelten ihr die jeweils herrschenden als zumindest im Kern ideal und nicht hinterfragbar. Welche Richtung im pädagogischen Pluralismus von politisch rechts bis politisch links wollte schon derzeit auf Mündigkeit oder Lebenstauglichkeit als Bildungsziel verzichten? Erziehungsziele haben also nicht inhaltlich, aber normativ etwas Absolutes. So heißt es in einem Standard-Wörterbuch der Pädagogik über von Staat, Gesellschaft oder Kirche vorgegebene Ziele, es komme darauf an, „dass diese Ziele in einem argumentativen Diskurs legitimiert und dem Zögling einsichtig begründet werden […]“3. Legitimiert und begründet werden sollen die Ziele zwar schon, ihre Kritik oder eine Notwendigkeit ihrer Veränderung wird allerdings nicht erwähnt.
Dass nicht der Wille des Kindes, sondern der pädagogische und damit gesellschaftliche Zeitgeist sich durchsetzen soll, durchzieht alle Facetten und Disziplinen der Pädagogik. Besonders in der Sozialpädagogik wird das Problem sichtbar, beispielsweise in der Jugendarbeit. Hier werden Jugendliche nicht begleitet, damit man ihnen beistehen kann, wenn sie Hilfe brauchen, sondern um sie zu nützlichen Mitgliedern des Bestehenden zu machen. Dabei stellt genau dies für die Zielgruppen sozialer Arbeit zumeist ein Hindernis der Entwicklung dar. Begründet wird Anpassungsforderung damit, dass sich Jugendliche am besten entwickeln können, wenn sie ausgerechnet Teil dessen werden, das ihnen Schwierigkeiten bereitet. Was das Beste ist, wird ohne die Jugendlichen festgelegt und ist vielmehr eine Verpflichtung auf die jeweilige Gesellschaftsordnung. Häufig ist das, was die Jugendlichen wollen sollen, sogar Rechtsnorm und lässt sich juristisch ableiten. Die Freiheit subjektiver Zielsetzung reduziert sich für Jugendliche dadurch auf ein Minimum. Erziehungsziele treten hier als Schranken der jugendlichen Entwicklung auf. Die Ableitung eines Erziehungsziels aus dem Recht kontrastiert mit seinem hohen anthropologischen Anspruch. Wo es heißt, dass sich Erziehungsziele am Wesen des Menschen orientieren sollen, bleibt letztlich nur, dass sie sich an politisch gesetzten Schulverordnungen oder anderen Rechtsquellen als Handlungsinstrumenten des Staates orientieren. Denn mit dem Erkennen des Wesens der Menschen übernehmen sich die Erziehungsziele setzenden Institutionen Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Freerk Huisken kommt u. a. bei der Betrachtung von Erziehungszielen zu dem Schluss, dass „die Erziehungswissenschaft von der Lebenslüge zehrt, die Zurichtung des Menschen für die Anforderungen einer demokratischen Marktwirtschaft, die ihn benutzt, sei die Entfaltung der Menschennatur selbst“4. Sozialpädagogik mit ihrem doppelten Mandat, einerseits die Interessen des Klientels zu vertreten, andererseits die des Staates, folgt dieser Funktionssetzung, wenn sie die Herstellung sozial erwünschten Verhaltens unter Rückgriff auf Erziehungsziele als Dienst am konkreten Menschen präsentiert.
Es spricht also nichts dafür, Kindern und Jugendlichen Erziehungsziele vorzusetzen. Ihnen mit dem Wissen um Fertigkeiten und Techniken zur Seite zu stehen, während sie sich orientieren und Sinnsetzungen selbst ausloten, ist der einzige Weg, der Kinder und Jugendliche als Selbstzweck ernst nimmt.
- Peter Kauder/Wolfgang Fischer, Immanuel Kant über Pädagogik, Baltmannsweiler, Schneider Verlag Hohengehren, 1999, S. 164.
- Korczak, zit. nach Wolfgang Pelzer, Janusz Korczak, Hamburg, Rowohlt Verlag, 2002, S. 52.
- Wilfried Böhm, Wörterbuch der Pädagogik, Stuttgart, Alfred Kröner Verlag, 2005, S. 190.
- Freerk Huisken, Erziehung im Kapitalismus, Hamburg, VSA-Verlag, 2016, S. 36.
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