gelücke – Historische Spurensuche in der mittelalterlichen Literatur
Überall ist Glück: Wir verschenken es wie Blumen oder Pralinen. Inflationär, zu quasi jedem Anlass, geht uns ein „Viel Glück“ über die Lippen, mit dem wir dem Gegenüber ein besonders günstiges Gelingen, einen guten Ausgang seiner Aktivitäten wünschen und folglich dessen positiven emotionalen Zustand antizipierend herbeisehnen. Exklamationen des Glücks durchziehen unseren Sprachalltag: von der anstehenden Klausur bis zum Sportmatch, privat wie beruflich, im persönlichen Gespräch mit Emphase artikuliert, in der Mail zur Abschlussfloskel geronnen. Glück verschenkt sich schnell und kostengünstig.
Wie den Strauß bunter Blumen überreichen wir den Glücksbegriff dabei zumeist ohne (sprachliche) Wurzeln, was im ersten Fall sicher von Vorteil sein mag (wozu sonst gäbe es Vasen?), im zweiten jedoch bedeutet, ihn jener sprachgeschichtlichen Ursprünge zu beschneiden, die interessante Einsichten in die historische Entwicklung des Glücksbegriffs zutage fördern und zu einem umfassenden Verständnis auch seines heutigen Gebrauchs beitragen können.
Lassen Sie uns daher anhand einiger sprachhistorischer Grabungen folgenden Fragen nachgehen: Auf welchem etymologischen und historischen Nährboden gedeiht das erste ‚Glück‘? Mit welcher Vorstellung verbindet sich der Begriff hier und worin unterscheidet er sich möglicherweise von heutigen Glückskonzeptionen?
Gelücke, saelde, heil
Erstmals im frühen 12. Jahrhundert tritt das mittelhochdeutsche (mhd.) gelücke sprachlich in Erscheinung und erweitert das bis dato durch heil und saelde vertretene Spektrum mittelalterlicher Schicksals- und Vorhersehungsbegriffe. Unterschiedslos stehen sie zunächst nebeneinander und lassen es aufgrund ihres breiten und schillernden Bedeutungsumfangs nahezu unmöglich erscheinen, ihnen eine feste neuhochdeutsche (nhd.) Bedeutung zuzuschreiben.1 Tastend, das zeigt diese Begriffsvielfalt, begibt man sich erst auf die Suche nach einem treffenden Ausdruck in der Volkssprache, nach einer Begriffsbezeichnung, die jenen schicksalhaften, also unvorhersehbaren und vom Wollen des Menschen losgelösten Gang eines Geschehens erfassen sollte.
Vom Rechtsbegriff zur Schicksalsbestimmung
Dass sich gelücke im Mittelhochdeutschen den Schicksalsbegriffen beigesellen konnte, hat es seiner sprachhistorischen Entwicklung zu verdanken. Sie führt, so verzeichnet der Eintrag im Grimm’schen Wörterbuch, von der indogermanischen (idg.) Wurzel *leug- (‚biegen‘) über das germanische (germ.) *lukan (‚(ab)schließen, verengen, beenden‘; in übertragener Bedeutung auch ‚beschließen, festsetzen‘) zu einer altniederfränkischen (altndfrk.) Form *(gi)lukki und mhd. gelücke, die zunächst in rechtlicher Bedeutung als ‚Bestimmung, Festsetzung, Beschluss‘ Verwendung fand.2 Dieser Grundbedeutung wurde dann (angelehnt an das altfranzösische [afrz.] ‚destinée‘) eine schicksalhafte Überhöhung zuteil, die dazu führte, dass nun auch Götter oder Schicksalsmächte beschließen konnten (noch heute sprechen wir daher vom göttlichen Ratschluss).
Von der Rechtssphäre in jene der göttlichen (Un-)Heilszuweisung verlagert, bleibt dem gelücke die prinzipielle Offenheit des Schicksalsausgangs eigen. Als Verlauf mit positivem oder negativem Ergebnis, als günstige wie ungünstige Schicksalsmacht weist der Begriff eine Ambivalenz auf, die er in seiner heutigen Verengung zum ‚guten Geschick‘ weitgehend eingebüßt hat.
Das Glück liegt in der Lücke
Diese Ambivalenz, die auf die in der Etymologie des Wortes angelegte ‚Lücke‘ zurückzuführen ist (und sich auch im engl. ‚luck‘ wiederfindet), war demnach notwendiger Bestandteil des mittelalterlichen Glückskonzeptes. Glück, ließe sich anders formulieren, ist nur über die Lücken-Erfahrung zu haben, über Mangel und Entsagung, bewegt sich auf unsicherem Grund zwischen dem erhofften Schließprozess, dem Ausfüllen der Lücke auf der einen und ihrem Bestehenbleiben als Lücke auf der anderen Seite. Nicht nur begriffsgeschichtlich, sondern auch als Denkmotiv ist die Ambivalenz dem mittelalterlichen Glücksbegriff wesenseigen. Aufspüren lässt sie sich in den literarischen Textwelten der Epoche, die in ausdrucksstarken Bildern diese Glücksvorstellung vergegenwärtigen.
Glücksobjekte und -orte in der Literatur des Mittelalters
Fortunarad und Gral, Baumgarten und Minnegrotte bilden vier beispielhafte Motive objekthafter bzw. räumlich konturierter Glückserfahrung, die die mittelalterlichen Dichter immer wieder in ihre Erzählungen einspeisen.
Die Allegorie des Fortunarades (fortunae rotae) symbolisiert im Auf- und Absteigen der daran angebrachten Figuren den Wankelmut des Glücks in konkret-bildlicher Fassbarkeit. Mit der Frage „Weh Rad des Glücks, wann werde ich meinen Platz auf dir finden?“3 bringt Neidhart, einer der bedeutendsten mittelalterlichen Dichter, in seinem Winterlied die Furcht vor diesem Wechselspiel zwischen Glück und Unglück, Fortuna bona und Fortuna mala, zum Ausdruck und macht zugleich deutlich, dass es sich dabei um eine Schicksalsangst handelt, die den Menschen auch in seiner diesseitigen Lebenswelt unmittelbar anlangt. In der Übernahme des Symbols aus der Antike wird die ehemals heidnische Fortuna an die christliche Lebenswelt angepasst und dabei in den göttlichen Einflussbereich überführt. Nicht mehr als Ausdruck der rein zufälligen Laune der Götter, sondern nun als Werkzeug im Dienste der göttlichen Providenz macht das Fortunarad (allen aufkeimenden Versuchen zum Trotz, diese Präsenz zu verhindern) in den mittelalterlichen Text- und Bildwelten Karriere.
In einem Holzschnitt von Georg Pencz (1534) wird Fortuna daher auch mit verbundenen Augen an den Zügeln einer aus dem Himmel reichenden göttlichen Hand gezeigt. Im umlaufenden Rad ist das Schicksal stets in Bewegung begriffen, ist unstaete (unbeständig), unsicher und unberechenbar.
Die Vorstellung eines runden, umlaufenden Glücks findet sich auch in der Darstellung der Minnegrotte, wie sie Gottfried von Straßburg im Tristan-Roman4 (um 1210) entwirft. Von ihr wird berichtet, sie sei (mhd.) „sinewel, wît, hôch unde ûfreht, / snêwîz, alumbe eben und sleht“ (Tr 16708-10) (nhd. rund, weit, hoch aufstrebend, schneeweiß, rundrum eben und glatt). In diesem architektonisch vollendeten Gewölbe können die ehebrecherisch Liebenden ungestört ein und ein (Tr 16857) sein und doch haftet auch dieser Rundung eine unheilvolle Ambivalenz an. Denn die Minnegrotte schließt sich gegen die höfische Welt ab und die Liebenden aus der gesellschaftlichen Ordnung aus. In ihrer Perfektion und Idealität bleibt sie stets auf ein individuelles Liebesglück bezogen, bietet ein wunschleben (in der Natur) und ist Ort der Verbannung (von Kultur und Zivilisation). Nur hier ist das höchste Glück der illegitimen Liebe zwischen Tristan und Isolde möglich, in der Minnegrotte, die ihnen als Refugium zugleich nur für eine begrenzte Zeit zur Verfügung steht.
Auch mit den literarischen Baumgärten mittelalterlicher Epen geht ein Glücksversprechen einher, das rückwärtsgewandt die Vorstellung vom biblischen Paradies, dem Garten Eden, aufruft. Als Ideallandschaft, herrlich bepflanzt, mit frühlingshaftem Klima, südlicher Obstfülle, bunten Blumen und lieblichen Klängen, umgibt den locus amoenus vielfach eine sichtbare (eine Rundmauer, eine Wolke) oder unsichtbare (ein Bann) Grenze, die zugleich deren Übertretung provoziert:
hœret ihr iht gerne sagen
wâ mite der boumgarte
beslozzen waere sô harte? (…)
man sach ein wolke drumbe gân
dâ niemen durch mohte komen
(Ec 8745-8753)
(Wollt ihr nicht hören, womit der Baumgarten so fest umschlossen war? Man sah eine Wolke rundherum gehen, durch die niemand hindurchdringen konnte; Übersetzung: A.B.)
Im höfischen Roman Erec5 (um 1180) Hartmanns von Aue finden Gefahr und Schrecken dieser Grenzüberschreitung in den auf Pfählen aufgespießten Häuptern erschlagener Ritter ihren Ausdruck. Ihre Absicht, sich Zugang zum privaten Gartenbereich zu verschaffen, in den sich der Riese Mabonagrin mit seiner Freundin zurückgezogen hat, mussten sie mit dem Leben bezahlen. Erst dem Artusritter Erec gelingt es, die bedingungslos Liebenden aus ihrer Isolation und von ihrem falschen Liebesverhalten zu befreien. Das Aufrufen derartiger Paradiesvorstellungen aktiviert die ganze dem heilsgeschichtlichen Narrativ eingeschriebene Doppeldeutigkeit: das Schema von Verbot, Übertretung und Sündenfall einerseits, wie das von Harmonie, Buße und Erlösung andererseits.
Als letzten (Un)Glücksort soll an die Gralsburg Munsalvaesche in Wolframs von Eschenbach Parzival6 (um 1200/1210) erinnert werden, an den Ort also, an dem der Gral aufbewahrt wird, ein Ding, das als Lenkungsinstrument des göttlichen Willens Einsatz findet und sich durch wundersame Kräfte auszeichnet: jungbrunnengleich verleiht es immerwährende Jugendlichkeit oder bringt, dem märchenhaften Tischlein-deck-dich Motiv folgend, Speis und Trank im Übermaß hervor.
Dass ihn Wolfram daher als das höchste, schier unbegreifliche Glück (mhd. saelden fruht, Pz 238,21) beschreibt, erscheint durchaus nachvollziehbar, als ein Glück jedoch, das ebenfalls Beschränkungen unterliegt. Nicht nur ist die Gralsburg auf unbestimmte Weise vom Rest der erzählten Welt abgetrennt, auch ist der Zugang zu ihr und zum Gral nur dem von Gott dazu Bestimmten überhaupt vergönnt. Aus eigener Kraft kann der Gral nicht ‚erstritten‘ werden, wie es im Werk heißt:
ir jeht, ir sent iuch um den grâl:
ir tumber man, daz muoz ich klagen.
jâ enmac den grâl nieman bejagen,
wan der ze himele ist sô bekannt,
daz er zem grâle sî benant. (Pz 468,10)
(Ihr sagt, ihr sehnt euch nach dem Gral. Wie seid ihr unverständig, das kann ich nur bedauern. Der Gral lässt sich doch nur von demjenigen erkämpfen, den der Himmel auserwählt und dann zum Gral beruft; Übersetzung: A.B.)
Der Kontakt zum Gral liegt auf der Schwelle zwischen Sünde und Erlösung, Schuld und Gnade. Dieser Schwellenzustand wird am Helden Parzival sichtbar, der über weite Strecken unwissend und kindlich-tölpelhaft durch die Erzählung stolpert. Versäumt er es bei seinem ersten Gralsburgbesuch auch noch den kranken König nach seinem Leid zu fragen und wird dadurch zur Umkehr gezwungen, gelingt es ihm im zweiten Anlauf die Gralsgesellschaft zu erlösen.
Historische Glücksambivalenz und aktuelle Folgen
Die meisten LeserInnen werden die genannten Motive weniger aus der mittelalterlichen Literatur kennen, wohl aber aus neuzeitlichen Adaptionen (den Gral aus Dan Browns Sakrileg) oder materiellen Repräsentationen an kirchlichen Bauwerken (das Fortunarad mit sechs sich empor- bzw. herabschwingenden Königen bestückt am Westgiebel der Kirche St. Zeno in Verona oder das Radfenster im Basler Münster). Gerade die Rückführung auf die literarhistorische Bearbeitung der Motive jedoch kündet von deren überdauernder Präsenz und Faszinationskraft. Zugleich lässt sie das ‚Glück‘ in jener (sprachhistorisch angelegten) Doppeldeutigkeit wieder erkennbar werden, die die Bedeutungsverengung der neuzeitlichen Semantik mitunter verstellt: Ist dem Begriff in seiner historischen Gewordenheit zunächst die Vorstellung vom Aufreißen einer Lücke immanent, deren Füllung noch ungewiss ist, verhandeln wir Glück heute eher als bereits ‚positives Endprodukt‘. Dass ein solches, als vollkommen begriffenes Glück in der diesseitigen Welt des Mittelalters nicht zu haben war, leitet sich schon aus der tiefen Religiosität ab, die diese Zeit prägte. Mit ihr verbindet sich eine dualistische Lebensauffassung vom Menschen als geistigem wie natürlichem Wesen und damit die Vorstellung, dass vollendetes Glück im irdischen Sein nicht erlangt werden kann. Das Mittelalter brauchte die Lücke also gewissermaßen, um Jenseits und Diesseits aufeinander zu beziehen. Zugleich zeigt der Blick in die historische Epoche, dass das Schicksalsdenken aufs Engste mit der Welthaltung und den Grundkonzepten menschlicher Existenz verknüpft ist. Auch weil unsere Weltanschauung heute eine andere geworden ist und der Glücksbegriff entsprechend seine ursprüngliche Ambivalenz verloren hat, können Sie weiterhin gerne Glücksgeschenke in die Welt tragen. Passen Sie dabei trotzdem auf, dass sie die (etymologische) Wurzel sauber abschneiden: Viel Glück!
- Vgl. Willy Sanders, Glück. Zur Herkunft und Bedeutungsentwicklung eines mittelalterlichen Schicksalsbegriffs, Köln/Graz, Böhlau, 1965, bes. S. 50ff.
- http://woerterbuchnetz.de/cgi-bin/WBNetz/wbgui_py?sigle=DWB&mode=Vernetzung&hitlist=&patternlist=&lemid=GG20069#XGG20070 (letzter Aufruf: 25.10.2019).
- Neidhart, WL 25/VI (mhd. wê, gelückes rat, wenne sol ich mînen stat ûf dir vinden?), in: Die Lieder Neidharts, Tübingen, Niemeyer, 1999.
- Gottfried von Straßburg, Tristan, Band 1: Text, Berlin/New York, De Gruyter, 2004 (Zit. unter der Sigle Tr).
- Hartmann von Aue, Erec, Tübingen, Niemeyer, 2006 (Zit. unter der Sigle Ec).
- Wolfram von Eschenbach, Parzival, Berlin/New York, De Gruyter, 2003 (Zit. unter der Sigle Pz).
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