Gem-einsam alt werden in Luxemburg

Frau K. (70 Jahre) ist verwitwet und lebt seit über zehn Jahren allein. Ihr Haus, das ihr nach dem Auszug der Kinder und dem Tod ihres Ehemannes viel zu groß war, hat sie verkauft. Jetzt lebt sie in einer kleinen, aber feinen Erdgeschosswohnung in einem Neubau gerade mal zwei Straßen weiter. Mit dem Alleinleben hat sich Frau K. gut arrangiert. „Früher war mein Tag von der ersten bis zur letzten Minute getaktet. Ich habe ausschließlich für die Kinder und meinen Mann gelebt und mich dabei oft sehr einsam gefühlt. Heute genieße ich es sehr, nach meinem eigenen Rhythmus zu leben, meinen Interessen nachgehen zu können und frei zu sein.“

Herr G. (74 Jahre) ist vor 30 Jahren aus beruflichen Gründen mit seiner Frau nach Luxemburg gezogen. „Wir haben keine Kinder, keine nahen Verwandten und nachdem meine Frau schwer erkrankte, hat sich auch unser Freundeskreis dezimiert. Als sie dann starb, ist meine Welt zusammengebrochen. Das war vor fünf Jahren. Seither ist mein Leben einsam und sinnlos geworden. Es fällt mir auch zunehmend schwer, auf Menschen zuzugehen und neue Bekanntschaften zu schließen, obwohl ich es mir sehr wünsche.“

Zwei Lebensgeschichten, die etwas mit der Gestaltung des Älterwerdens und dem Umgang mit existentiellen Veränderungen zu tun haben. Zwei Geschichten, die verdeutlichen, wie einzigartig jeder Mensch und jede Lebenssituation ist und wie schwer es ist, sich dieser komplexen Thematik ganz allgemein zu nähern.

Allein und einsam? Oder einfach nur glücklich mit sich selbst?

Wie aus dem Beispiel von Frau K. ersichtlich, wird ein Alleinleben, für das man sich aus freien Stücken entschieden oder als Lebensform akzeptiert hat, oft als befreiend und wohltuend erlebt. Es gibt viele Menschen, die ohne einen Partner oder eine Familie durchs Leben gehen – aus Überzeugung oder weil es sich so ergeben hat. In Luxemburg bestehen derzeit über ein Drittel der Haushalte aus einer Person. Davon sind 35 Prozent der Alleinlebenden 65 Jahre oder älter.1 Mit zunehmendem Alter steigt die Wahrscheinlichkeit alleine zu leben weiter an. Doch wer all-eine lebt, muss sich nicht zwangsläufig einsam fühlen. Die Haushaltsgröße sagt nichts über die Qualität der Sozialkontakte aus. Ältere Menschen, die über ein intaktes Netz von Sozialkontakten verfügen, empfinden das Alleinleben nicht als Belastung. Im Gegenteil: Das Alleinleben wird dann sogar häufig mit Autonomie, Selbstständigkeit und Unabhängigkeit in Verbindung gebracht.

Alleinsein bezeichnet die Zeit, die man ohne andere Personen verbringt. Auch Alleinsein ist nicht gleichbedeutend mit Einsamsein: Viele sozial gut eingebettete Menschen sind sehr gern und recht viel alleine. Darunter besonders Introvertierte oder Hochsensible, die leichter unter Reizüberflutung leiden und „Inseln der Ruhe“ zum inneren Ausgleich benötigen. Dieses Für-Sich-Sein kann ein Lebensgefühl sein, eine Kraftquelle, eine Chance, eigene Talente zu entdecken und zu entwickeln. Es kann der Selbstbesinnung dienen und – auch für alte Menschen – im Kontext der Lebensbilanzierung große Bedeutung haben. Allerdings kann ungewolltes Alleinsein aber auch zutiefst beunruhigend sein: Wenn man niemanden hat, der einem den Rücken stärkt, mit dem man über seine Gefühle sprechen kann und wenn man sich immer wieder ganz allein aufbauen muss. In Abgrenzung zu Alleinleben und Alleinsein – beides objektiv messbare Phänomene – stellt Einsamkeit eine subjektive Erlebensdimension dar. Einsamkeit ist das „negativ erlebte Alleinsein“ oder Alleinleben und die damit verbundene Leere, Traurigkeit, Enttäuschung und ungestillte Sehnsucht. Einsamkeit als Gefühl des Ausgeschlossenseins kann durchaus auch inmitten einer großen Familie oder anderen sozialen Gruppen empfunden werden – das erfahren schon Schulkinder und spüren auch Bewohner von Wohngemeinschaften oder Altersheimen. Dieses Leiden am Mangel sozialer Integration (auch soziale Einsamkeit) und/oder das Fehlen an festen Vertrauenspersonen (auch emotionale Einsamkeit) fühlen sich schwer und schmerzhaft an. Sie belasten den Körper und die Seele und können auf Dauer krank machen, was sich in einem höheren Risiko für Bluthochdruck oder im höheren Gebrauch von Psychopharmaka2 widerspiegelt.

Einsamkeit im Alter: Triebfeder oder Fußfessel?

Einsamkeit ist an und für sich nichts Schlechtes. Auch wenn sich Einsamkeit nicht gut anfühlt, ist sie aus evolutionärer Sicht durchaus sinnvoll: Wie Hunger oder Durst ist das Gefühl der Einsamkeit ein Warnsignal, eine Triebfeder, die das soziale Tier Mensch aktivieren und zurück in die schützende Truppe treiben soll. Im Psychologenjargon wird dies als „Wiederangliederungs-Motiv“ bezeichnet. Der Wunsch, dazuzugehören, Menschen zu haben, denen man trauen kann und die sich um einen sorgen, ist Ausdruck eines fundamentalen menschlichen Bedürfnisses nach sozialem Anschluss und emotionaler Bindung. Die meisten Menschen finden tatsächlich (schnell) wieder Anschluss – aber nicht alle. Gefährlich wird Einsamkeit, wenn dies aus eigener Kraft nicht mehr gelingt. Wenn Einsamkeit, wie im obengenannten Beispiel, zur Fußfessel wird, beginnt meist ein Teufelskreis: Der Einsame findet keinen Antrieb mehr, um soziale Kontakte aufleben zu lassen oder um neue Wege zu finden, Bekanntschaften zu schließen. Paradoxerweise fokussieren sich Menschen, die lange alleine oder gar einsam sind, oft sehr stark auf sich selbst, was dazu führen kann, sich erst recht einsam zu fühlen. Herr G. aus unserem Beispiel ist kein Einzelfall.

Einsamkeit ist für viele Erwachsene in Luxemburg ein Problem. Laut einer Studie vom Statistischen Amt der Europäischen Union haben 13 Prozent der erwachsenen Bevölkerung in Luxemburg niemanden, an den sie sich wenden können, wenn sie Unterstützung brauchen. Damit liegt Luxemburg mehr als das Doppelte über dem europäischen Durchschnitt. Vor allem Menschen im hohen und sehr hohen Lebensalter riskieren in die Vereinsamung abzurutschen.3 Etwa 5 bis 20 Prozent der Senioren in Deutschland berichten in verschiedenen Studien über ausgeprägte Einsamkeitsgefühle. Laut des Deutschen Zentrums für Altersfragen hat jeder vierte alte Mensch nur noch einmal im Monat Besuch von Freunden oder Bekannten. Ganz zu schweigen von der Dunkelziffer von Seniorinnen und Senioren, die gar keinen Kontakt mehr zu ihrem Umfeld haben. Besonders für stark pflegebedürftige alte Menschen ist der ambulante Pflegedienst oftmals der einzige Kontakt zur Außenwelt, der ihnen noch bleibt. Zwanzig Minuten Pflege-Routine werden zum Lichtblick des Tages. Die verbleibenden fast 23 Stunden Einsamkeit am Tag wiegen schwer auf der Seele. Vor diesem Hintergrund überrascht es kaum, dass in keiner anderen Altersgruppe die Zahl der Suizide so hoch ist wie bei den über 80-Jährigen.

Wie kann es soweit kommen? Die Gründe sind vielfältig. Wenn das Netz aus Kontakten aus der früheren Berufswelt, aus Familie, Freunden und Vertrauten immer grobmaschiger wird, wenn wichtige Rollen unwiederbringlich verloren gehen, wenn die Energie, sich bei guten Bekannten wieder einmal in Erinnerung zu rufen, nachlässt oder wenn Aktivitäten aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr möglich sind, wird der Einsamkeit leicht Einzug ins eigene Leben geboten.4 Gerade in einem Einwanderungsland wie Luxemburg, wo mehr als 60 Prozent der Einwohner einen Migrationshintergrund haben, ist auch die kulturelle Dimension ins Auge zu fassen. Zwar ist die Studienlage hierzu noch relativ dünn, doch es ist anzunehmen, dass Menschen umso anfälliger für Einsamkeitsgefühle sind, je mehr ihre Kultur auf Gemeinschaft ausgerichtet ist. Dies dürfte besonders spätimmigrierte ältere Menschen (die durch Sprachbarrieren, schmale soziale Netzwerke, geringe finanzielle Ressourcen und kulturelle Unterschiede zu ihrem Gastland verstärkt Gefühlen der sozialen Entwurzelung ausgesetzt sind), vor besondere Herausforderungen stellen.5

Einsamkeit ist wie ein Eisberg

…sie geht tiefer als man sieht, erläuterte der renommierte Einsamkeitsforscher John Cacioppo in einem Interview mit The Guardian. Und genau das stellt man fest, wenn man mit alten Menschen ins Gespräch kommt. Dann werden sie plötzlich laut, die stummen Schreie der Einsamkeit, nicht selten in Begleitung von Schuld- und Schamgefühlen. Doch wie tief geht die Einsamkeit wirklich? Wie viele einsame Menschen gibt es in unserem Umfeld, die wir noch gar nicht ausfindig gemacht haben? Wie können sie erreicht werden? Und wie könnten konkrete präventive Maßnahmen aussehen? Die Beantwortung dieser Fragen in „Wort und Tat“ gehört zu den großen Zielsetzungen der Cellule de recherche des Zentrums für Altersfragen in Itzig. Vor etwas mehr als fünf Jahren wurde mit dem von der Europäischen Union geförderten INTERREG Projekt „SeNS – Seniors Network Support“ der Grundstein zur nachhaltigen Stabilisierung sozialer Netzwerke auf kommunaler Ebene gelegt.

„Hinter jeder Tür könnte ein einsamer Mensch leben. Folglich müssen wir hinter jeder Tür nachsehen.“

So lautet der Leitsatz dieses Projektes, das in drei Pilot-Gemeinden in Luxemburg durchgeführt wurde. Dabei wurden zunächst alle Bürger im Alter 70+ von der Gemeinde schriftlich über das Angebot der „aufsuchenden Hausbesuche“ informiert und auf telefonischem Weg Terminabsprachen vereinbart. Durchgeführt wurden die Hausbesuche von geschulten ehrenamtlichen Senioren mit der Zielsetzung, in geselligem Zusammensein, mit den alleinlebenden älteren Menschen über ihre Lebenssituation, ihre Wünsche und Bedürfnisse und ggf. Ängste und Nöte zu sprechen. Sollten die Besuchten Unterstützung benötigen, wurden diese nicht nur über die bestehenden Möglichkeiten informiert. Bei Bedarf wurde auch die passende Hilfe vermittelt bzw. konkrete Empfehlungen an die Verantwortlichen innerhalb der Gemeinde rückgemeldet. Im Rahmen dieses SeNS-Modellprojektes, das wissenschaftlich begleitet wurde, sind best practice-Ansätze zur Stärkung des sozialen Miteinanders auf lokaler Ebene entwickelt worden, die landesweit auf großes Interesse bei den Gemeinden stießen. Denn entgegen den Vorhersagen einer einseitig optimistischen happy gerontology – wonach alternde Menschen trotz Schmerz und Verlusten wie „Stehaufmännchen“ lösungsorientiert durchs Alter schreiten – gibt es auch hierzulande die anderen, die weniger „erfolgreich“ altern. In den SeNS-Stichproben kristallisierten sich deutliche Risikokonstellationen heraus: 10 bis 15 Prozent der Befragten gaben an, keinen oder wenig Kontakt zu Familie, Freunden und Nachbarschaft zu haben, keine Vertrauensperson benennen zu können, sich einsam zu fühlen und/oder sehr unzufrieden mit ihrer sozialen Situation zu sein. Dabei ist Einsamkeit tückisch. Mal erscheint sie in einem anderen Gewand (z.B. in Form von diffusen Beschwerden) und entpuppt sich erst nach und nach im Gespräch. Mal begegnet man ihr bei Menschen, von denen man es nicht erwartet hätte. Eins wurde jedoch klar: Was diese alten Personen wirklich brauchen, sind keine weiteren kulturellen oder sportlichen Aktivitätsangebote, die sie (noch) nicht nutzen, sondern in erster Linie jemanden zum Reden. Einen Türöffner zum Ausstieg aus der emotionalen Isolation.

„Früh übt sich…“ – Gemeinsam gegen Einsamkeit vorgehen

Mit dem SeNS-Projekt wurde der Grundstein gelegt, um die soziale Lebenssituation älterer Menschen auf Gemeindeebene systematisch zu erörtern und gezielt zu verbessern. In einer zweiten Phase geht es nun darum, diese positiven Entwicklungen „am Leben“ zu halten. Daher wird in der Cellule de recherche momentan an „SeNSPLUS“ gearbeitet, einem Folgeprojekt, das in Zusammenarbeit mit dem Centre de prévention suicide (CIP) und der Gemeinde Hesperange neben ehrenamtlichen Hausbesuchen diesmal auch Besuche bei Altenheimbewohnern mit einschließt. Denn Einsamkeit kann auch dort entstehen, wo viele (einsame) Menschen zusammenleben. Präventive Maßnahmen, wie reguläre Hausbesuche, niedrigschwellige aufsuchende Beratungs- und Unterstützungsangebote können hier wichtige Gatekeeper-Funktionen erfüllen. Auch könnten zusätzlich telefonische Kontakte (oder „Wohlfühlanrufe“) von ehrenamt-lichen Senioren für alte Menschen organisiert werden. Ziel sollte es sein, Menschen, die sich einsam fühlen, mit regelmäßigen Gesprächen wieder das Gefühl zu geben, dazuzugehören, wertgeschätzt und gebraucht zu werden.

[1] Eurostat newsrelease (2015). Neue Eurostat-Flaggschiff-Veröffentlichung. Die Bevölkerung der EU. (Vollständiger Text abrufbar auf der Eurostat Webseite http://ec.europa.eu/eurostat/news/news-releases).
[2] Boehlen, F., Herzog, W., Quinzler, R., et al. (2015). „Loneliness in the elderly is associated with the use of psychotropic drugs.“ International Journal of Geriatric Psychiatry, 30(9), 957-964.
[3] Dykstra, P.A. (2009). „Older adult loneliness: Myths and realities.“ European Journal of Ageing, 6, 91-100.
[4] Pinquart, M. & Sörensen, S. (2001). „Influences on loneliness in older adults: A meta-analysis.“ Basic and Applied Social Psychology, 23(4), 245-266.
[5] vgl. Zeman, P. (2009). „Alternde Menschen mit Migrationshintergrund.“ Soziale Arbeit, 11-12, 435-445.

 

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