Gemeinsam sind wir stark

Wie in Ostbelgien das Parlament auf die Bürger:Innen zugeht

Im September 2019 startete im Parlament der deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens in Eupen ein weltweit bislang einmaliges Experiment. Einmalig, weil hier Bürger:Innenbeteiligung über ein Gesetz institutionalisiert wurde und diese auf Dauer angelegt ist (also nicht als one shot konzipiert wurde). Einmalig auch, weil das ostbelgische Parlament wirkliche Befugnisse und Kompetenzen an die neu geschaffene Institution „Bürgerversammlung“ abgegeben hat und sich nicht einfach nur beraten lässt. Ohne Gegenstimme haben die Abgeordneten das entsprechende Gesetz im Frühjahr 2019 verabschiedet und etwas eingeleitet, was politische Institutionen normalerweise scheuen wie der Teufel das Weihwasser: Macht freiwillig mit Akteuren zu teilen, die sie nicht kontrollieren.

Einer derjenigen, die diesen Durchbruch vorangetrieben haben, der ehemalige Parlamentspräsident Alexander Miesen (36 Jahre alt, Berufspolitiker und Mitglied der liberalen Partei für Freiheit und Fortschritt), war Mitte Dezember auf Einladung der ASTI in Luxemburg zu Gast (siehe www.asti.lu für die Videoaufzeichnung). Die Gründe, die den ostbelgischen Gesetzgeber bewogen haben, eine permanente „Bürger­versammlung“ einzuberufen, waren für Alexander Miesen einerseits die Sorge, dem sinkenden Vertrauen der Bürger:Innen in die demokratischen Institutionen etwas entgegenzustellen, und andererseits der Wunsch, das Verständnis der Bürger:Innen über die komplexen politischen Entscheidungsprozesse zu fördern.
Die „Bürgerversammlungen“ funktionieren zweistufig: Es gibt die eigentliche Versammlung, die jeweils zwischen 50 und 100 Personen zusammenbringt und die während eines oder mehrerer Wochen­enden an einem Thema arbeitet. Unter allen Einwohner:Innen der Region wird ausgelost, wer für eine „Bürgerversammlung“ angeschrieben wird. Unter jenen, die daraufhin eine positive Rückmeldung geben, wird entsprechend einer gewissen Repräsentativität (Alter, Bildung, Geschlecht) schließlich ausgewählt, wer mitmacht. Die Versammlung wird begleitet von einer professionellen Moderation, erhält zum jeweiligen Thema Expertise durch eingeladene Fachleute und soll nach internen Debatten zu Schlussfolgerungen kommen, die in konkrete Empfehlungen an das Parlament münden. Das Parlament muss sich mit den Empfehlungen auseinandersetzen, Wege finden, um diese umzusetzen, und begründen, wenn es auf einzelne Vorschläge nicht eingeht.

Das Ganze wird gesteuert von einem zweiten Gremium, dem „Bürgerrat“, der ebenfalls durch Los bestimmt, aus ehemaligen Teilnehmer:Innen vorhergehender „Bürgerversammlungen“ zusammengesetzt ist. Der „Bürgerrat“ bestimmt souverän die Themen, die Modalitäten und die Dauer der „Bürgerversammlung“, beauftragt die Moderation und sucht die einzuladenden Expert:Innen. Er wird dabei unterstützt durch ein professionelles, permanentes Sekretariat, das als drittes Element ins Spiel kommt.

Das Parlament der deutschsprachigen Region Belgiens lässt sich bei diesem Experiment wissenschaftlich beraten durch eine Gruppe um den belgischen Historiker David Van Reybrouck, die unter dem Titel G1000 weltweit das Konzept der „Bürgerversammlungen“ vorantreibt (siehe www.g1000.org). Die Gruppe ist nach eigener Darstellung eine internationale Plattform für demokratische Erneuerung, die die repräsentative Demokratie über ein Mehr an Bürger:Innenbeteiligung stärken möchte. Van Reybrouk hatte seine Gedanken 2016 in einem kleinen Büchlein Gegen Wahlen auf den Punkt gebracht, in dem er argumentierte, dass ein durch Los bestimmtes Parlament (neben einer gewählten Kammer) zu besseren politischen Ergebnissen und zu einer größeren Identifikation der Bürger:Innen mit dem demokratischen System führen würde.

Miesen sieht die Eupener „Bürgerversammlung“ jedoch nicht als Kritik an der repräsentativen Demokratie. Diese hätte seit dem Zweiten Weltkrieg Enormes an politischer Konsensfindung geleistet, nur sei sie anders als etwa das Wirtschafts-, das Pensions- oder das Gesundheitssystem nie reformiert worden. Die repräsentative, parlamentarische Demokratie muss für ihn jedoch weiterentwickelt werden, damit sie ihre Aufgabe in Zeiten von Populismus, Fake News und Social Media erfüllen kann – nämlich konsensfähige politische Lösungen für widerstreitende gesellschaftliche Interessen zu finden. Durch Los bestimmte „Bürgerversammlungen“ sind für Alexander Miesen denn auch kein Ersatz für aus Wahlen hervorgegangene Parlamente, sondern eine wichtige Ergänzung, die einen inhaltlichen Input der Bürger:Innen im Laufe einer Legislatur­periode ermöglicht. Denn die Wahlen allein geben in der Parteiendemokratie den Bürger:Innen wenig Gelegenheit, sich zu einzelnen Sachthemen konkret zu äußern. Ihnen wird von den Parteien in der Regel ein Gesamtpaket vorgelegt, zusammengestellt aus Inhalten und Personen. Bei einem Referendum ist die Situation sogar noch extremer: Die Bürger:Innen haben nur die Wahl zwischen zwei Optionen, die kaum den in der Regel sehr komplexen Problemstellungen gerecht werden. Sowohl bei Parlamentswahlen als auch bei Referenden ist die Folge noch dazu, dass das Volk danach gespalten in Gewinner und Verlierer auseinanderfällt. All diese Nachteile haben „Bürgerversammlungen“ nicht: Die Antworten können nuanciert sein, die Entscheidungsfindung sieht Kompromisse vor, die Suche nach Konsens steht im Vordergrund. Folgen den Empfehlungen dann auch konkrete Reaktionen von Seiten der Politik, ist die Erfahrung rundheraus positiv und strahlt von den einzelnen Teilnehmer:Innen hinaus in den Familien- und den Freundeskreis.

Alexander Miesen ist sich bewusst, dass die überschaubare Größe der ostbelgischen Bevölkerung (rund 77.000 Personen) und die langjährigen Erfahrungen mit allen möglichen Formen der Bürger:Innenbeteiligung seine Region für ein solches Modell prädestiniert, doch er sieht keinen Grund, warum etwas Vergleichbares nicht für weniger homogene und größere Gemeinwesen funktionieren sollte. Für Laura Zuccoli, Präsidentin der ASTI, hätte ein solches Modell einer „Bürgerversammlung“ für Luxemburg den großen Vorteil, dass es auch nicht-wahlberechtigte Einwohner:Innen und – warum nicht? – auch Grenzgänger einschließen könnte: Bevölkerungsgruppen, die bislang in Luxemburg politisch ohne Stimme sind. Dass Konsultativorgane jedoch keineswegs der Weisheit letzter Schluss sind, zumindest wenn sie keine wirklichen Befugnisse haben, bedauerte während der ASTI-Veranstaltung ein Teilnehmer aus dem Publikum. Der dahinsiechende Conseil National des Étrangers ist ein beredtes Beispiel dafür, wie die offizielle Politik in Luxemburg konsultative Institutionen souverän ignoriert (der CNE hat übrigens noch nicht einmal eine eigene Internet­seite…). Einen völlig anderen Standpunkt vertraten die Abgeordneten Claude Wiseler (CSV, auf dem Podium) und Alex Bodry (LSAP, im Publikum), die die Ausführungen des Gastes aus Ostbelgien einigermaßen exotisch fanden und auf die Gefahren für die reine Lehre, d.h. für die ungetrübte, repräsentative Demokratie aufmerksam machten. Das Misstrauen gegenüber den Bürger:Innen, die entweder ihre Interessen gar nicht wirklich verstehen und wenn doch, dann nur Interesse zeigen bei Infrastrukturprojekten in ihrer unmittelbaren Nähe (hier musste Alexander Miesen zustimmen), ist seit dem Referendum von 2015 in Luxemburg nicht gerade gesunken. Die drei ebenfalls anwesenden grünen Mitglieder der Chamber wollten sich lieber gar nicht äußern. Man mochte es ihnen nicht verdenken, denn die Begeisterung bei déi gréng für Bürger:Innenpartizipation hat sich im Laufe der Jahre, in der sie in der Regierung sind, stark gelegt. Während in Ostbelgien die Einsetzung einer „Bürgerversammlung“ eine Initiative von oben, d.h. vom Parlament selber war, darf man wetten, dass etwas Vergleichbares in Luxemburg nur von unten zu realisieren wäre – durch eine Form der Selbstermächtigung der Zivilgesellschaft.

Ende November wurde übrigens in Eupen das Thema für die erste „Bürgerversammlung“ im Konsens durch den „Bürgerrat“ bestimmt. Es wird um die Altenpflege gehen, sowohl aus der Perspektive der Betreuten als auch der Betreuer:Innen.

Weitere Informationen unter
www.buergerdialog.be

Als partizipative Debattenzeitschrift und Diskussionsplattform, treten wir für den freien Zugang zu unseren Veröffentlichungen ein, sind jedoch als Verein ohne Gewinnzweck (ASBL) auf Unterstützung angewiesen.

Sie können uns auf direktem Wege eine kleine Spende über folgenden Code zukommen lassen, für größere Unterstützung, schauen Sie doch gerne in der passenden Rubrik vorbei. Wir freuen uns über Ihre Spende!

Spenden QR Code