Gesundheit, Sicherheit und gesellschaftlicher Zusammenhalt
31 Vorschläge für eine Politik der Resilienz
Das Regierungsprogramm von 2018 ist ganz offenkundig nicht mehr Grundlage der Regierungsentscheidungen. Stattdessen entfaltet sich vor unseren Augen ein komplett neues Programm, das durch keine Wahl, keine Koalitionsverhandlung und auch nicht durch eine öffentliche Debatte legitimiert ist. Es basiert zwar auf einer akuten Notlage, die jede Entscheidung schon im Voraus und automatisch zu rechtfertigen scheint. Doch wenn ein Kleinstaat von 2500 km2 und 600.000 EinwohnerInnen über zehn Milliarden Euro in die Hand nimmt, dann sind damit langfristige Weichenstellungen verbunden und man sollte voraussetzen, dass die Parlamentskommissionen und Arbeitsgruppen in den Parteien ununterbrochen tagen, um die Stimmigkeit der Maßnahmen zu überprüfen. Denn die staatlichen Unterstützungen von Unternehmen, die öffentlichen Investitionen, die Innovationsförderung und die Konsumanreize, schließlich die anstehende Neugestaltung der Steuerlandschaft, all diese Antworten auf die Coronakrise geben auch Antwort auf die Frage, wie wir unsere Zukunft gestalten wollen. Zivilgesellschaft, Umweltverbände, Unternehmergruppen, Parteien und Gewerkschaften versuchen sich langsam im Chaos Gehör zu verschaffen – jeder in dem Versuch, diese Zukunft in seinem Sinne zu beeinflussen.
Was vernünftig und sinnvoll wäre – nicht im Interesse der Rückkehr zu einer trügerischen Vergangenheit, sondern zur Vorbereitung einer Zukunft, die von Klimawandel, digitaler Transformation, sozialen Verwerfungen und ungewissen Beziehungen zu unseren Nachbarländern geprägt ist –, haben wir im Folgenden versucht, in 31 Punkten zusammenzufassen. Die Vorschläge sind abwechselnd banal, dann wieder radikal oder scheinen einfach nicht umsetzbar oder alles zusammen – sie gehen aber von der Zukunft aus und nicht von der Vergangenheit, und sie versuchen die strukturellen Veränderungen ernst zu nehmen, die uns in den kommenden Jahren bevorstehen.
JST / F.L-B
UMWELT UND GESUNDHEIT
- Der Zustand der heimischen Biodiversität ist der beste Indikator für die langfristige Resilienz und Lebensfähigkeit eines Landes, und dieser Zustand hat sich mittlerweile dramatisch verschlechtert. Die Erhitzung der Landschaften und Städte muss großflächig aufgehalten werden durch die sorgsame Bewirtschaftung der Wälder und Parks, durch den Aufbau von grünen Korridoren, durch die großflächige Begrünung der Städte und urbanen Lebensräume, durch den Schutz, das Anlegen und die Ausweitung von Feuchtgebieten, durch die Anerkennung des Wassers als strategische, öffentliche Ressource, die auch Eingriffe in Privatrechte rechtfertigt, durch die Ausweisung weiterer Naturschutzzonen usw.
- Die Agrar(förder)- und Ernährungspolitik sollte unter strategischen, ökologischen und energetischen Gesichtspunkten völlig neu aufgestellt werden. Eine Jahrhundertaufgabe, die im Rahmen des neu zu schaffenden Ernährungsrates diskutiert werden kann.
- Agrarland muss geschützt werden. Zum Verkauf stehende Agrarböden sollten soweit wie möglich vom Staat gekauft, in einen Fonds überführt (vgl. die Aufgaben der SAFER in Frankreich) und den Landwirten unter Umweltauflagen zugänglich gemacht werden.
- Ausgehend von den Trinkwasserkarten sollte das Land in Schutzzonen eingeteilt werden, in denen schnell sowohl die Umweltauflagen als auch die Förderung so gestaltet werden, dass sich nur noch naturnahe Landwirtschaft rechnet.
- Die Luxemburger Umwelt-, Wasser- und Agrarpolitik kann sich nicht auf die Landesgrenzen zurückziehen. Sie muss mit den unmittelbaren Grenzregionen Partnerschaften zum Aufbau gemeinsamer Standards und Schutzzonen eingehen.
- Für die Sicherung der strategischen Güter (Grundnahrungsmittel, Wasser und Energie) muss die Großregion der Bezugsrahmen werden. Hier müssen Produktion und Lieferketten analysiert werden. Es kann nicht schaden, dazu eine Taskforce einzurichten, die schon heute eine Risikoabschätzung vornimmt und Szenarien entwickelt.
- Es hat sich in den letzten Wochen bestätigt, dass das Luxemburger Gesundheitssystem ein erstrangiges Standortargument darstellt. Das Ziel dieses Gesundheitssystems muss geklärt werden und darauf aufbauend seine Finanzierung. Die regionale Vernetzung muss ausgebaut werden, und die in direkter Nachbarschaft zu Luxemburg lebenden Bevölkerungen (die das Luxemburger Gesundheitssystem maßgeblich mitfinanzieren) müssen in die zukünftigen Planungen eingerechnet werden. Die Sicherstellung von genügend medizinischem Personal sowohl in Normal- wie in Krisenzeiten ist eine der Hauptherausforderungen für die Zukunft und muss strategische Bedeutung erhalten.
WIRTSCHAFT UND FINANZEN
- Luxemburg sollte sich als Vorreiter bei der Umsetzung des europäischen New Green Deal positionieren. Wir sollten unbedingt sicherstellen, dass staatliche Unterstützung und Investitionen im Rahmen der aktuellen Wirtschaftshilfen nicht in fossile Industrien fließen, sondern dezidiert grüne Innovation fördern wie etwa die Umgestaltung unserer Energielandschaft.
- Beteiligungen der öffentlichen Hand an fossilen Industrien (insbesondere im Rahmen des Pensionsfonds und des Zukunftsfonds) müssen dringend abgestoßen werden.
- Gesetzgeber und CSSF sollten Bedingungen schaffen, damit der Finanzplatz auf die Finanzierung vornehmlich grüner Innovation ausgerichtet wird. Zurzeit wird das zwar behauptet und Luxemburg als grüner Finanzplatz international vermarktet, aber der Anteil grüner und nachhaltiger Anlagen im Portfolio der in Luxemburg gehaltenen Fonds ist verschwindend gering. Eine Staffelung der Abonnementstaxen oder andere Präferenzen für grüne Fonds könnten Schritte in diese Richtung sein.
- Im Hinblick auf die angespannte Finanzlage unserer europäischen Partner muss Luxemburg seine Kooperation auf europäischer und OECD-Ebene bei den Themen Unternehmensbesteuerung, Besteuerung digitaler Unternehmen und Kapitaltransaktionssteuer weiter verstärken. Die eingeschlagene Politik des luxemburgischen Finanzministeriums, das Land aus der Blockadehaltung in diesen Fragen herauszuholen und zum Teil der Lösung zu machen, muss unbedingt fortgeführt werden.
- Der Umbau der europäischen Wirtschaft und der internationalen Organisationen nach Chinas Maßgaben ist auch in Luxemburg kritisch zu hinterfragen. Luxemburg muss seine opportunistische Strategie gegenüber China, Russland und den Staaten am Golf endlich überdenken und die Zusammenarbeit konsequent an die Einhaltung der Menschenrechte koppeln.
- Mit den Kommunen auf der anderen Seite der Grenzen, in denen die Hälfte der ArbeitnehmerInnen leben, die in Luxemburg arbeiten und die den hiesigen Sozialstaat finanzieren, müssen reelle Partnerschaften aufgebaut werden, um die Qualität der kommunalen Infrastrukturen auf beiden Seiten der Grenze anzunähern und das Bewusstsein einer Schicksalsgemeinschaft zu fördern (und am Ende zukünftigen Anfeindungen und Erpressungen zu entgehen). Wenn zurzeit die Aufteilung der Steuereinnahmen (etwa nach dem Genfer Modell) eine ideologische Hürde darstellt (der Premierminister hat erklärt, dass er nicht die Weihnachtsbeleuchtung der französischen Bürgermeister finanzieren möchte), dann sollte es als Alternative konkrete Partnerschaften zwischen Kommunen oder Gemeindesyndikaten geben, wo die luxemburgische Seite aktiv Projekte sucht, die sie auf der anderen Seite der Grenze ko-finanzieren kann. Diese sollten nicht nur den Mobilitätsbereich betreffen (wo das Luxemburger Eigeninteresse am augenscheinlichsten ist), sondern auch Kultur-, Umwelt-, Tourismus- und Sportprojekte einschließen.
- Die staatlichen Einnahmen aus dem Tanktourismus (und nebenbei dem Verkauf von als Genussgüter deklarierten Giftstoffen wie Alkohol und Tabak) müssen über die nächsten zehn Jahre massiv reduziert werden – will man die Vorgaben des nationalen Klimaschutzplans ernstnehmen.
- Bei der zukünftigen Gestaltung der Steuerlandschaft muss die Besteuerung von Kapital und Energie in den Fokus rücken (Wiedereinführung der Vermögens- und Reform der Grundsteuer sowie rasche Weiterentwicklung der CO2-Steuern).
- Steueranreize, die sehr vermögende Privatpersonen dazu motivieren sollen, nach Luxemburg zu ziehen, müssen aufgegeben werden. Gesamtwirtschaftlich und gesamtgesellschaftlich bringen reiche Haushalte enorme Probleme (u. a. Verzerrungen im Immobilienmarkt). Dem unverhältnismäßig hohen Verbrauch an Energie, Infrastrukturen und Wohnraum stehen für die Allgemeinheit nur sehr geringe Vorteile in Form von Steuereinnahmen gegenüber, da diese Personen in der Regel auf ein versteuerbares Einkommen verzichten.
- Die Einkommensunterschiede zwischen den Gehältern in der Privatwirtschaft einerseits, im öffentlichen Dienst und im konventionierten Bereich andererseits müssen dringend reduziert werden. Für diesen zentralen Punkt gibt es so viele schmerzhafte und konfliktbehaftete Argumente, dass wir hier lieber nicht weiter darauf eingehen.
- Andererseits müssen die personellen Ressourcen des Staates und der Kommunen ausgebaut werden, wenn die Aufgaben der öffentlichen Hand in Zukunft tendenziell zunehmen. Dazu werden weitere Lockerungen der Zugangsberechtigungen zum Staatsdienst, die Reduzierung der Sprachanforderungen und reelle Sanktionsmöglichkeiten bei individuellem Fehlverhalten notwendig sein.
KRISENPLÄNE
- Staatliche Rettungsmaßnahmen für Unternehmen im Zuge der Coronakrise müssen unbedingt an Auflagen gekoppelt werden, u. a. dass in den nächsten Jahren keine Dividenden an die EigentümerInnen gezahlt bzw. Gewinne ausgeschüttet werden (siehe das Vorgehen so unterschiedlicher Staaten wie Dänemark, den Niederlanden oder Frankreichs in dieser Frage). Staatliche Unterstützung könnte darüber hinaus an soziale oder Umweltauflagen gebunden werden.
- Die nähere Zukunft wird geprägt sein von Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot und Privatkonkursen und damit einhergehend von einem Auseinanderdriften der Gesellschaft. Die öffentliche Hand darf sich jetzt nicht durch eine kurzfristige Wirtschafts(rettungs)politik jegliche Handlungsspielräume für eine langfristige Sozial- und Arbeitsmarktpolitik nehmen lassen.
LEBENSWEISE UND KONSUM
- Ein Teil der luxemburgischen Bevölkerung hat sich in seinem Konsumverhalten in eine teure, gesundheits- und umweltschädigende Parallelwelt verirrt. Der Staat sollte Strategien entwickeln, um den Konsum in vertretbare Bahnen zu lenken (Besteuerung, Aufklärung, Ausbau der regionalen Ferien- und Freizeitangebote oder Förderung der Gartenkultur…). Dies könnte eine sinnvolle Aufgabe für das in Vergessenheit geratene Verbraucherschutzministerium sein.
- Die Luxemburger Agrar-, Wirtschafts-, Handels- und Finanzpolitik muss mit den Zielen der Kooperationspolitik in Einklang gebracht werden (Kohärenzprinzip). Auch müsste sie den Menschenrechten und den Demokratisierungsprozessen besser Rechnung tragen.
KULTUR, BILDUNG UND MEDIEN
- Für KünstlerInnen sollte rasch ein auf zwei Jahre befristetes, bedingungsloses Grundeinkommen eingerichtet werden, um sicherzustellen, dass nicht die gesamte künstlerische und kulturelle Szene und die damit einhergehende Produktion in den kommenden Monaten wegbricht. Kulturelle Angebote und Infrastrukturen müssen im Sinne der Interkulturalität, der Nachhaltigkeit und des Gemeinwohls überdacht werden.
- Vorrangiges Ziel der Schulbildung kann nicht mehr allein die Wissensvermittlung, sondern muss insbesondere die persönliche Stärkung junger Menschen sein, damit sie die kommenden Unsicherheiten verkraften. In Zukunft muss es in der Schule viel mehr um die Vermittlung von lebenspraktischen Kompetenzen gehen wie Kommunikationsfähigkeit, Kooperationsbereitschaft, Kreativität und kritischem Geist sowie von gegenseitiger Anerkennung und Respekt.
- Die Digitalisierung der Bildung, der Berufs- und Lebenswelt muss vom Gesetzgeber aufmerksam begleitet und eingerahmt werden. Die große digitale Transformation darf nicht auf Kosten von Privatsphäre, Freiheitsrechten und Selbstbestimmung gehen und zu Einschränkungen im Arbeitsrecht oder zur gesellschaftlichen Isolation führen. Den dunklen Seiten der digitalen Transformation, insbesondere der auf globaler Ebene agierenden Manipulationen von Wahlen, Konsum und Persönlichkeitsentwicklung, muss auch in Luxemburg mit allen verfügbaren Kräften, personell, finanziell, strukturell, gesetzgeberisch und mit allen Mitteln der Strafverfolgung entgegengetreten werden.
- Die Qualität der Kommunikation zwischen Regierung, den übrigen politischen Institutionen und den BürgerInnen während der Krise muss genau analysiert werden. Der Ausbreitung von Verschwörungstheorien, Rassismus, Antifeminismus und Antisemitismus muss größte Aufmerksamkeit gewidmet werden. Politische Parteien, Gewerkschaften, Vereine und Medien stehen hier in der Verantwortung.
- Eigentlich profitable, privatwirtschaftliche Medienunternehmen benötigen in Luxemburg keine zusätzliche staatliche Alimentierung, sondern vernünftige Rahmenbedingungen, um ihre Arbeit professionell ausführen zu können, insbesondere ein Informationszugangsgesetz, um die Arbeit der Verwaltungen gerade auch in Krisenzeiten für die Öffentlichkeit transparent zu machen. Staatliche Hilfen dürfen hingegen nur ein Ziel verfolgen: die Konzentration im Medienmarkt aufzuhalten und Diversität zu fördern. Daneben gilt es, ein starkes öffentlich-rechtliches Radio und audiovisuelles Programm zu etablieren, das den anderen Medien als Benchmark dienen kann.
RECHTSSTAATLICHKEIT UND GOUVERNANCE
- Oberstes Ziel des Parlaments muss es sein, in den kommenden Monaten alle Rechte, die im Zuge der derzeitigen Ausnahmesituation an die Exekutive übergeben wurden, wieder vollumfänglich zurückzunehmen. Dieser Prozess sollte von unabhängigen ExpertInnen (etwa im Europarat) begleitet und evaluiert werden.
- Die Diskussion über die Zukunftsgestaltung muss aus dem Parlament in die Gesellschaft getragen werden. Die Zivilgesellschaft muss neue Formen der demokratischen Beteiligung ausprobieren und entwickeln (z. B. Bürgerräte und Bürgerparlamente), die auch die Teile der Gesellschaft repräsentieren, die vom Wahlrecht aufgrund ihrer Nationalität, ihres Alters oder ihres Wohnortes ausgeschlossen sind.
- Die Interessen der Jugend und der zukünftigen Generationen müssen institutionell abgebildet werden. Unsere heutigen Entscheidungen bzw. Nicht-Entscheidungen haben voraussichtlich einen größeren Impact auf die kommenden Generationen als auf die derzeitigen WählerInnen. Die demokratische Vertretung zukünftiger Generationen könnte eine Ombudsperson oder alternativ ein Zukunftsrat einnehmen. Wales hat so z. B. seit 2016 eine Kommissarin für zukünftige Generationen. Im Motiventeil aller Gesetzesvorhaben sollten demnach auch nicht allein die Auswirkungen auf die Staatsfinanzen beurteilt werden, sondern auch auf die Lebenschancen zukünftiger Generationen.
- Die gestiegene Bedeutung der Wissenschaft als Grundlage politischer Entscheidungen ist absolut zu begrüßen. In den Prozess der Entscheidungsfindung sollten jedoch nicht nur Virologie und Ökonomie integriert sein, sondern z. B. auch Psychologie, Anthropologie und Soziologie. Selbst die Linguistik könnte einen Beitrag dazu leisten, etwa wenn es darum geht, eine Sprache zu verwenden, die niemanden von vorneherein aus der demokratischen Debatte ausschließt.
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