- Gesellschaft
Getrennte Wege
Die Effekte von Trennung und Scheidung auf die Beziehungsfähigkeit von Jugendlichen
Das Großherzogtum weist eine der höchsten Scheidungsraten innerhalb der EU auf 1: Alleine im Jahr 2015 wurden in Luxemburg 1345 Ehen geschieden. 1247 minderjährige Kinder waren von diesen Scheidungen betroffen 2 im Vergleich zur Periode 2000-2015, in der man von insgesamt 6715 Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren spricht. Die Dunkelziffer der betroffenen Kinder dürfte allerdings noch höher sein. Diese Zahlen beinhalten nämlich nur Kinder und Jugendliche aus den offiziell erfassten Scheidungssituationen, also nicht jene, deren Eltern in einer eingetragenen Partnerschaft (PACS) oder einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft zusammenlebten. Der folgende Beitrag beschäftigt sich mit der Frage, ob die hohe Anzahl von Trennungssituationen und das Auseinanderbrechen von Familien einen nachhaltigen Einfluss auf die Beziehungsfähigkeit der betroffenen Jugendlichen und jungen Erwachsenen hat und – in einem nachfolgenden Beitrag – letztendlich auch auf die Entwicklung unserer heutigen und zukünftigen Gesellschaft.
Partnerschaft und Ehe – Ein Thema für Kinder und Jugendliche?
Laut Jugendbericht 2015 3 der Universität Luxemburg 4 äußert die überwiegende Mehrheit der befragten Jugendlichen in ihren Zukunftsvorstellungen den Wunsch nach einer festen Partnerschaft und einer eigenen Familie. Das klassische Familienmodell scheint damit weiterhin eine hohe Akzeptanz zu finden. Unterschiedliche Ansichten gibt es lediglich bezüglich der zeitlichen Vorstellung von Partnerschaft und Familie. Ein Teil der Jugendlichen will sich noch etwas Zeit lassen, bevor sie sich in einer festen Partnerschaft binden. Die berufliche Ausbildung und eine uneingeschränkte Freizeitgestaltung scheinen in diesem Alter zeitlich vor einem festen Engagement in einer Partnerschaft zu stehen. Andere wiederum äußern schon relativ früh den Wunsch nach einer festen Paarbeziehung. Letzterer ist häufig mit dem Bedürfnis nach wachsender Autonomie und der Ablösung von den Eltern verbunden. Ein Bericht der Universität Luxemburg aus dem Jahre 2007 5, in dem bis zu 1250 Jugendliche aus den südlichen Regionen des Landes befragt wurden, bestätigt diese Sichtweise. Das Ziel, eine eigene Familie zu gründen, steht in diesem Beispiel bei zehn angegebenen Wahlmöglichkeiten an dritter Stelle, direkt hinter einer guten Gesundheit und einem interessanten Beruf. Auch in anderen europäischen Jugendstudien belegt der Wunsch nach einer Arbeit oftmals den ersten Rang. Allerdings erweist sich für alle befragten Jugendlichen das Bedürfnis nach einer festen und guten partnerschaftlichen Beziehung sowie nach einem harmonischen Familienleben durchgehend als wichtig. Die deutschen Wissenschaftler Busch und Scholz kommen zu dem Ergebnis, dass „bei den eher allgemeinen Wertorientierungen die Familie im normativen Horizont junger Menschen eine hohe Priorität hat und dass die Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen ebenfalls hoch bewertet wird, während eher materielle oder hedonistische Aspekte deutlich geringer bewertet werden“ 6. Was die Erwartungen in Bezug auf eine gute Ehe betrifft, stellen die Autoren fest, dass sich zwei Dimensionen mit besonderem Abstand zu den anderen hervorheben. Die Jugendlichen haben demnach eine eher traditionelle und zugleich konventionelle Erwartungshaltung. Gemeint sind damit gegenseitiger Respekt, Toleranz, die Bereitschaft, sich gegenseitig verzeihen zu können und die Forderung nach emotionaler und sexueller Treue beider Partner.
Die Ergebnisse dieser Studien bestätigen die Beobachtungen aus der Praxis. Auf die Frage „Wie stellst du dir deine Zukunft in einigen Jahren vor?“ antworten so gut wie alle Jugendlichen, dass sie sich, neben dem Wunsch nach einer zufriedenstellenden Arbeit, eine feste Partnerschaft und später eigene Kinder wünschen. Das Verlangen nach einer stabilen Beziehung und der Geborgenheit einer Familie steht selbst bei Jugendlichen, die unter schwierigen Bedingungen wie Suchtproblematik und/oder psychische Erkrankung der Eltern, elterliche Gewalt, Heimaufenthalte usw. aufgewachsen sind, direkt hinter dem Wunsch nach einer festen Arbeit. Ob und wie diese Jugendlichen das Bedürfnis nach Geborgenheit und Sicherheit erfüllen können, hängt jedoch nicht alleine von der Lebenssituation ihrer Eltern ab, sondern von zahlreichen weiteren Faktoren.
Einfluss von Trennung und Scheidung
Es ist nicht die Trennung der Eltern an sich, sondern die Folgen, die sich für das Kind aus der Scheidungssituation ergeben, die letzendlich bewirken, ob das Kind langfristig leidet oder nicht. 7 Ob getrennt oder zusammenlebend, wichtig ist der Stellenwert, den die Kinder im Leben ihrer Eltern haben. Wieviel Zeit sind wir bereit, mit unseren Kindern zu verbringen? Inwiefern beziehen wir die Interessen der Kinder in unsere persönlichen Entscheidungen mit ein? Niemand wird wohl in Frage stellen, dass es für die Entwicklung unserer Kinder wichtig ist, dass ihre Bedürfnisse ausreichend befriedigt werden und sie sich geborgen und beachtet fühlen. Trotzdem gibt es bestimmte Auswirkungen, die in zahlreichen internationalen Studien untersucht wurden. Ein immer wiederkehrender Befund besteht darin, dass nur ein kleiner Prozentsatz der Scheidungs- und Trennungskinder zum Zeitpunkt der Befragung vermehrt Probleme hat (wie zum Beispiel Schulschwierigkeiten, Verhaltensauffälligkeiten, niedriges Selbstwertgefühl usw.). Längsschnittstudien, welche die Langzeitfolgen untersuchen, liegen kaum vor und die Befundlage hierzu ist weniger eindeutig.
Insgesamt zeichnet sich in allen Studien auch ab, dass nicht die Trennung oder Scheidung an sich das Problem darstellt, sondern vielmehr der Umgang aller Beteiligten mit den Herausforderungen dieser Situation.Wir alle kennen aus unserem sozialen Umfeld Familien, bei denen die Trennung und die darauffolgende Zeit im relativ respektvollen Miteinander für alle Betroffenen verlaufen sind. Doch es sind uns sicherlich auch Trennungssituationen bekannt, in denen zwischen den Eltern schon vor der Trennung und noch jahrelang danach heftige Konflikte, Beleidigungen und Entwertungen zum Alltag gehören. Im Vergleich zu solchen Situationen zeigt sich ein Befund, der schon fast trivial anmutet: Scheidungskinder, deren Eltern auch nach der Trennung respektvoll miteinander umgehen, fühlen sich oftmals wohler als Kinder aus „intakten“ Familien, deren Eltern über Jahre hinweg miteinander streiten.
Ein herausforderndes Alter
Da der Schwerpunkt dieses Beitrags auf dem Jugendalter liegt, ist es wichtig zu erwähnen, dass sich aufgrund der verschiedenen Entwicklungsanforderungen dieses Alters alle Jugendlichen in einer schwierigen Lebensphase befinden. Hierzu zählen körperliche Veränderungen, die ersten Beziehungserfahrungen, die Entdeckung der Sexualität, der Ablösungsprozess von zu Hause verbunden mit dem Wunsch autonom und unabhängig zu werden, das gleichzeitige Bedürfnis nach Sicherheit und Kontinuität, die Suche nach der eigenen Identität, der Stellenwert der gleichaltrigen Freunde, die oft noch ungewisse Zukunftsorientierung usw. Es sind universelle Prozesse, die unabhängig von der Lebenssituation der Eltern auftreten. Die Trennungssituation kann aber einige der genannten Herausforderungen verschärfen und zu Problemen werden lassen.
Eltern in Trennungssituationen sehen oft zu Recht in dem teils aufsässigen Verhalten eine Konsequenz der langanhaltenden Belastungen, die ihr Kind während und nach der Trennung der Eltern erdulden musste. Befinden sich die Kinder zum Zeitpunkt der Trennung ihrer Eltern im kritischen Jugendalter, zeigen sie den Eltern gegenüber oftmals ein Verhalten, das konfliktbeladener ist als vor der Trennung. Dies lässt sich dadurch erklären, dass der natürliche altersgerechte Ablösungsprozess durch die Trennung ins Schwanken gerät und die Jugendlichen ihren Eltern gegenüber in einen Loyalitätskonflikt geraten. Dies umso mehr, je häufiger die Eltern sich gegenseitig beschuldigen und entwerten oder sich regelrecht „bekämpfen“. Im Jugendalter haben Eigenschaften wie Liebe, Treue und Moral einen besonders großen Stellenwert und die Jugendlichen pflegen diesbezüglich hohe Erwartungen an sich und an ihr soziales Umfeld. Dementsprechend kann es während der Trennungsphase der Eltern zu heftigen, emotionalen Auseinandersetzungen mit den Jugendlichen kommen. Häufen sich die Konflikte, Vorwürfe und Schuldzuweisungen, versuchen viele die in der Familie verloren gegangene emotionale Sicherheit und Nähe in ihrer Peergruppe und bei ihren Freunden zu finden.
Die Eltern als Modell für Beziehung und Partnerschaft
Die Beziehungsfähigkeit junger Menschen, die jahrelang dem Streit ihrer getrennt oder nicht getrennt lebenden Eltern ausgesetzt sind, riskiert unter der ständigen familiären Belastung in ihrer Entwicklung beeinträchtigt zu werden. Wir alle wissen aus eigener Erfahrung, dass Kinder ihre Eltern bis zu einem gewissen Alter als unfehlbar erleben. Mit Beginn des Jugendalters ändert sich diese Wahrnehmung. Die Eltern werden kritisch betrachtet und ihre Lebenseinstellung wie auch ihre allgemeinen Wertvorstellungen hinterfragt. Hierzu gehören unter anderem das bewusste Wahrnehmen und die kritische Analyse der elterlichen Paarbeziehung. Wie gehen meine Eltern miteinander um? Respektieren sie sich gegenseitig? Was macht eine gute partnerschaftliche Beziehung aus? Die Jugendlichen wollen es in ihren zukünftigen Beziehungen anders und besser als ihre Eltern machen. Die jahrelangen Beobachtungen des elterlichen Beziehungskonflikts und der daraus erfolgte Lerneffekt, dass partnerschaftliche Beziehungen schwierig sind und oft mit viel Leid einhergehen, erschwert den jungen Menschen den Schritt in eine partnerschaftliche Beziehung. Kinder lernen viel durch Beobachten und sie internalisieren positive wie auch negative Aussagen, die ihnen von einer ihnen wichtigen Bezugsperson vermittelt wurden. Selbst wenn diese Kinder sich im späteren Jugendalter kritisch mit ihren Eltern auseinandersetzen, ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie später in einer eigenen Paarbeziehung unzufrieden werden, vergleichsweise groß.
Das negative Bild über den Vater oder die Mutter, das den Kindern und Jugendlichen über viele Jahre vorgespiegelt wurde, lässt sich nicht so einfach auswischen. Aus der Praxis wissen wir, dass diese Kinder und Jugendlichen noch bis ins hohe Erwachsenenalter unter dem Verhalten ihrer Eltern leiden. Dabei sind sich die Eltern der Konsequenzen ihrer Handlungen und Aussagen ihren Kindern gegenüber oft gar nicht bewusst. Das eigene Leid, die gespürte Hilflosigkeit und die Wut über den Partner stellen das Wahrnehmungsvermögen und das Eingehen auf die emotionalen Bedürfnisse der Kinder in den Hintergrund. In einigen Fällen werden die Kinder sogar dazu missbraucht, den Partner zu bestrafen. Die Kinder und Jugendlichen geraten in einen Loyalitätskonflikt, gefolgt von einer inneren psychischen Zerrissenheit. Sie wissen nicht mehr, wem sie glauben und auf welcher Seite sie stehen sollen. Um diese negativen Affekte besser aushalten zu können, suchen die jungen Menschen nach Bewältigungsmöglichkeiten. Diese können bei älteren Kindern und Jugendlichen darin bestehen, dass sie auf Distanz zu einem Elternteil gehen. Der emotionale Rückzug soll sie vor weiteren innerpsychischen Konflikten und Enttäuschungen schützen. Dabei wird der Wunsch nach familiärer Harmonie zu keinem Moment aufgegeben.
Verunsicherung, Angst, Trauer und Wut
Jedes Kind und jeder Jugendliche, der die Trennung seiner Eltern miterlebt hat, wird von Zeiten großer Belastung berichten. Dies unabhängig davon, ob es sich um eine gute oder eine schwierige Trennungssituation gehandelt hat. Alle Kinder verlieren während der akuten Trennungsphase vorübergehend ihr Sicherheitsgefühl. Ihre Lebenswelt gerät ins Schwanken. Gefühle wie Trauer, Angst, Wut und Hilflosigkeit bestimmen den Alltag. Auch wenn Kinder eine große Widerstandsfähigkeit haben, schaffen sie es nicht auf Anhieb, mit solch aktuellen Belastungssituationen umzugehen. Sie sind zutiefst verunsichert und haben Angst, einen Elternteil, ihren Wohnort, ihr Zimmer und ihre Klassenfreunde zu verlieren. Ihre nahe Zukunft ist ungewiss und sie wissen nicht, bei wem sie leben werden oder sollen. Kinder verspüren oft auch Wut, weil ihre Eltern sie in diese schwierige Situation bringen und – aufgrund der eigenen Überforderung – nicht mehr für ihre Kinder erreichbar sind. Sie erleben Hilflosigkeit, weil sie keine Kontrolle über die Situation haben, egal wie sie sich verhalten.
Zahlreiche Kinder entwickeln während der Trennungsphase ihrer Eltern Verhaltensstörungen wie zum Beispiel Schlafprobleme, regressives Verhalten, Hyperaktivität, Konzentrationsstörungen, Leistungsabfall, oppositionelles Verhalten und – zusätzlich im Jugendalter – Essstörungen, selbstverletzendes Verhalten, Schulschwänzen, Drogenkonsum und vieles mehr. Diese Auffälligkeiten sind meist nur vorübergehend und verschwinden wieder, wenn die Situation sich beruhigt hat und die Eltern in der Lage sind, behutsam und einfühlsam auf das Leiden und auf die Bedürfnisse der Kinder einzugehen. Hierzu gehört auch, dass die Eltern die alarmierenden Signale ihrer Kinder frühzeitig erkennen.
Was tun?
Einer der förderlichsten Schutzfaktoren in Belastungssituationen ist die Qualität der Beziehung zwischen den Eltern und ihren Kindern. Diese ist abhängig von den ersten frühkindlichen Bindungserfahrungen. Haben Eltern von jeher eine gute und vertrauensvolle Beziehung zu ihren Kindern, werden diese die Entscheidung der Eltern, sich zu trennen, eher akzeptieren und besser damit umgehen können als solche mit unsicheren Beziehungserfahrungen. Ihre Lebenswelt wird aufgrund der sicheren Bindung nicht so stark ins Schwanken geraten wie das bei Kindern mit unsicheren Bindungserfahrungen der Fall sein wird. Wie Eltern eine vertrauensvolle Beziehung zu ihren Kindern aufbauen, wieso dies Schutz in Belastungssituationen bietet und ob diese Kinder tatsächlich in späteren Partnerschaften beziehungsfähiger sind, soll in einem nachfolgenden Beitrag erläutert werden.
Grundsätzlich gilt als Maxime für Trennung und Scheidungssituationen: Auch wenn die beiden Personen keine Lebenspartner mehr sind, so bleiben sie dennoch Eltern und sollten diese Verpflichtung annehmen, um gemeinsam für das Wohl der Kinder zu sorgen. Diese werden es ihnen im späteren Leben danken.
[1] Eurostat, Statistiken zu Eheschließungen und Scheidungen, 2015. http://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php/Marriage_and_divorce_statistics/de
[2] Statec, Luxemburg in Zahlen, Luxembourg, 2015.
[3] Heinen, A., Vuori, S., Biewers Grimm, P., Schumacher, A. , „Private Übergänge: Eigenständiges Wohnen, Partnerschaft, Familiengründung“ in: Willems, H. (Hrsg), Übergänge vom Jugend- ins Erwachsenenalter. Nationaler Bericht der Situation der Jugend in Luxemburg 2015, 2015, S. 163-241.
[4] Die genannten Studien wurden zwar nicht spezifisch mit Scheidungskindern durchgeführt, doch angesichts der hohen Scheidungs- und Trennungsrate in Luxemburg dürfen wir annehmen, dass unter den Jugendlichen, die sich an diesen Studien beteiligt haben, zahlreiche junge Menschen aus Trennungssituationen sind. Somit können die Ergebnisse sehr wohl auch die Vorstellungen von Scheidungskindern beschreiben.
[5] Boultgen, D., Heinen, A. & Willems, H., Les jeunes dans un espace urbain. Analyse des structures, habitudes et problèmes de jeunes dans la région sud, Université du Luxembourg, CESIJE asbl, 2007.
[6] Busch, F.W. & Scholz, W-D., Zwischen Freiheitswunsch und Bindungsbedürfnis. Wie denken Jugendliche über Familie, Ehe und Partnerschaft, Oldenburger Universitätsreden, N=190, 2009.
[7] Largo, R.H., Glückliche Scheidungskinder, München/Berlin, Piper Verlag, 2014.
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