Am 4. Juli 1776 unterzeichnen die Vertreter der britischen Kolonien in Nordamerika eine ‚Unabhängigkeitserklärung‘, die man wohl als den ersten modern-bürgerlichen Verfassungstext betrachten kann. In der Präambel heißt es, dass alle Menschen „gleich geschaffen sind; daß sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind; daß dazu Leben, Freiheit und das Streben nach Glück [pursuit of happiness] gehören“. Zu den unveräußerlichen Rechten, die theologisch-naturrechtlich begründet werden, gehört also, wohlverstanden, nicht das Glück, sondern das „Streben nach Glück“. Dass das Ziel auch erreicht wird, ist kein verfassungsmäßig festgeschriebenes Recht, nur die Freiheit, danach zu streben. Was mit dem „Glück“ gemeint sein könnte, bleibt unklar. Unklar bleibt auch, ob nur an privates oder auch an gemeinschaftlich-gesellschaftliches Glück gedacht ist. Zum liberalen, individualistischen Zeitgeist würde eher passen, dass jeder in vollster Freiheit sein eigenes Glück suchen soll und kann, solange er nicht die Freiheit der anderen einschränkt. In ihrer Studie On Revolution aus dem Jahr 1963 schreibt Hannah Arendt, „pursuit of happiness“ sei – in Abgrenzung zur „pursuit of public happiness“ – nach der Verankerung in der Unabhängigkeitserklärung auf seinen privaten Sinn verkürzt worden. Damit sei das freiheitliche Pathos verloren gegangen und die Bürger hätten sich ins Private zurückgezogen.

Die ‚Freiheit‘ war im Übrigen noch sehr ungleich verteilt. In vielen der dreizehn unterzeichnenden Kolonien war die Massensklaverei noch eine Selbstverständlichkeit. Erst ein Jahrhundert später, nach einem mörderischen Sezessionskrieg, wurde sie abgeschafft. Aus den Sklaven wurden ‚freie‘ Lohnabhängige.

Der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 kann man das Freiheitspathos (Liberté égalité fraternité) wohl nicht absprechen. Die Grundrechte werden nicht mehr theologisch, aber noch naturrechtlich begründet. Das Glück aber kommt überhaupt nicht vor, auch nicht in der ersten französischen Verfassung von 1791. Anders aber in der zweiten Verfassung von 1793. In Artikel 1 heißt es: „Le but de la société est le bonheur commun. Le gouvernement est institué pour garantir à l’homme la jouissance de ses droits naturels et imprescriptibles.“ Das Glück wird also explizit nicht als privates, sondern als gemeinschaftliches, öffentliches Gut proklamiert. Allerdings trat diese Verfassung nie in Kraft.

Das größte Glück der größten Zahl

Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts entwickelt der englische liberale Jurist und Philosoph Jeremy Bentham eine Theorie des Glücks als höchstes privates und gesellschaftliches Gut. Ziel aller Handlungen sei das größte Glück der größten Zahl. Bentham ist ein moralischer Realist. Wie schon früher bei Spinoza gilt auch bei ihm: Man muss die Menschen nehmen, wie sie sind, nicht, wie man sie sich vorstellt. Was für sie tatsächlich zählt, ist der Nutzen. Das ist der Grundsatz des von Bentham begründeten Utilitarismus. Glück wird gleichgesetzt mit Nutzen. Was nutzt, bringt Freude, was schadet, bringt Leid. Und – ganz selbstverständlich für einen Liberalen – privates Eigentum trägt erheblich zum Glück bei.

Glück lässt sich auch messen. Wenn man von der Menge an Freuden die Menge des Leids abzieht, hat man einen Indikator für die Höhe des Glücks. Das gilt sowohl für das Individuum wie für die Gesellschaft als Ganzes. Die eigene Freude und die der Mitmenschen zu mehren, das eigene Leid und das der anderen zu mindern, ist oberstes moralisches Gebot. Ziel der Politik muss es sein, die allgemeine Freude zu erhöhen und das allgemeine Leid zu mindern. Und auch die Durchsetzung des Rechts folgt der Logik von Freude und Leid: Da Menschen die Freude erwarten und das Leid (also die Strafe) fürchten, kann man sie dazu bringen, sich an das Recht zu halten. Dabei geht es nicht um Vergeltung oder Sühne, sondern ganz pragmatisch – um Zuckerbrot und Peitsche.

Bentham verwirft jede theologische, aber auch jede naturrechtliche Begründung von Grundrechten. Er übt heftige Kritik an der Französischen Revolution und der Erklärung der Menschenrechte. Die Annahme natürlicher Grundrechte sei „Unsinn auf Stelzen“. So sagt er Ja zu subjektiven Rechten, gegründet auf dem Prinzip der Interessen und der Nützlichkeit, weist aber Menschenrechte, die auf einem quasi transzendenten Naturrecht begründet sind, zurück.

Glück oder Freiheit?

Benjamin Constant, Zeitgenosse von Jeremy Bentham, ebenso dem ökonomischen Liberalismus verpflichtet, hält nichts von einer Politik des Glücks. Er vergleicht die „Freiheit der Alten“, die attische Demokratie und ihre erneuerte Fassung von Jean-Jacques Rousseau, mit der zweiten, der modernen liberalen Auffassung von Freiheit. Die erste bedeutet in der Form der direkten Demokratie die quasi absolute Souveränität des Volkes, über alles zu bestimmen, bis in die privatesten Angelegenheiten hinein. Die zweite will die politische Mitbestimmung nur über Repräsentation gewährleisten und die Freiheit des Einzelnen möglichst vor staatlichem Eingreifen schützen. Genau deshalb lehnt Constant eine offizielle ‚Glückspolitik‘ ab. In seiner Rede De la liberté des Anciens comparée à celle des Modernes von 1819 warnt er vor den Glücksversprechen der „dépositaires de l’autorité […]. „Non, Messieurs, ne laissons pas faire; quelque touchant que ce soit un intérêt si tendre, prions l’autorité de rester dans ses limites; qu’elle se borne à être juste. Nous nous chargerons d’être heureux.“1 Denn wer soll entscheiden, was Glück ist, wenn nicht das einzelne Individuum? Führt eine Politik des Glücks nicht in eine paternalistische bis autoritäre Entmündigung der Menschen? Oder wie John Stuart Mill etwas später in Über die Freiheit meinte: Die Menschheit hätte mehr davon, jeden so leben zu lassen, wie es ihm beliebt, statt ihn zu zwingen, so zu leben, wie es den anderen beliebt.

So pendelt bis heute die politische Philosophie, nicht nur der Liberalismus, zwischen Freiheit und Glück als oberste politische Ziele. Die Spannweite ist breit: vom sozialdemokratischen, egalitären Liberalen John Dewey, für den die Freiheit die kollektive Gestaltung des Gemeinwesens und des Wohlstands bedeutet, über Friedrich von Hayek, der schon den Sozialstaat für einen „Weg in die Knechtschaft“ hält, bis hin zu den totalitären Regimen des 20. Jahrhunderts, die die Abschaffung der Freiheit rechtfertigen mit dem angeblichen Wohlergehen: dem der völkischen Gemeinschaft bzw. dem der Arbeiterklasse. Wo es aber keine Freiheit gibt, meint Hannah Arendt, gibt es gar keine Politik. Denn der Sinn der Politik ist die Freiheit, Politik heißt, frei handeln mit anderen und gegen andere. Glück kann kein Ersatz für Freiheit sein. Schon die Französische Revolution sei in den Terror abgeglitten, als man meinte, das Ziel der Revolution sei nicht die Freiheit, sondern das Glück des Volkes.

„Das Geheimnis des Glücks ist die Freiheit, das Geheimnis der Freiheit ist der Mut“. Diesen schönen Satz soll Perikles im 5. Jahrhundert v.u.Z. in der Gefallenenrede gesagt haben, die ihm vom Historiker Thukydides zugeschrieben wird. Doch ist die Freiheit seit jeher sehr ungleich verteilt (der Mut wohl auch), und von der Freiheit allein kann man sowieso nicht leben. „Was hilft da Freiheit, es ist nicht bequem / Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm“, heißt es in Brechts Dreigroschenoper.

Den Wohlstand messen

Mit der Erfindung der Nationalen Buchhaltung (Comptabilité nationale) und des Bruttoinlandsprodukts (BIP) in den 1930er Jahren gingen manche davon aus, dass man ein Instrument gefunden hätte, den Reichtum eines Landes bzw. der Welt und somit auch Wohlstand und Wachstum messen zu können. Im Hintergrund steht der Anspruch der Ökonomie, eine exakte Wissenschaft zu sein, und das geht nur, wenn sie sich ausschließlich auf das konzentriert, was sich messen lässt.

Dabei hatten die Pioniere dieser Reichtums-Messung in den 30er Jahren, wie etwa der US-amerikanische Ökonom Simon Kuznets, schon deren Grenzen angedeutet. Die Schätzung des Nationaleinkommens sei von expliziten und impliziten Werturteilen geprägt, so die Position, allein schon durch die Auswahl dessen, was gezählt und was nicht gezählt werde.

Das Instrument selbst misst zunächst nur den monetären Wert aller Produktionen und Transaktionen, den Tauschwert all dessen, was auf dem Markt gegen Geld getauscht wird – also auch die bezahlte Arbeit. Unbezahlte Arbeit zählt dabei so wenig wie die Qualität oder die Sicherheit der bezahlten. Was Gebrauchswert hat, aber keinen Tauschwert, was nicht am Markt gehandelt wird, zählt nicht. Es zählen nicht die zwischenmenschlichen Beziehungen, das solidarische Engagement, die Selbstbestimmung, die demokratische Gestaltung oder ähnliche Aspekte, die aber sehr wohl für das individuelle und gesellschaftliche Wohlergehen entscheidend sind. Die Kosten von Krankheit erscheinen als ‚Reichtum‘, ebenso die Zerstörung von Ressourcen und Klima, wenn sie Transaktionen und Einkommen generieren. Die Berechnung des BIP pro Kopf sagt nichts über dessen Verteilung aus. Dennoch gilt das BIP als entscheidendes Kriterium einer erfolgreichen Politik. Wenn es wächst, wächst der Wohlstand. BIP-Wachstum gilt als unausgesprochener Verfassungsauftrag. Und weil wachsender Konsum selbst sehr künstlicher Bedürfnisse mit Geld bezahlt wird, gilt auch der als höchstes messbares Glück, umso mehr als die Kapitalverwertung auf Konsum angewiesen ist. Wir müssten aber wissen, dass BIP, Wachstum und Konsum nicht unbedingt mit Wohlstand zu tun haben, schon gar nicht mit Gleichheit, und dass Wohlstand auch noch nicht unbedingt mit Glück einhergeht.

Mit der Wachstumskritik des Club of Rome (The Limits to Growth, 1972) gerät auch das Messinstrument in den Fokus der Kritik. Anfang der 1970er Jahre will der US-amerikanische Ökonom Richard Easterlin belegen, dass das Wachstum des BIP nicht mit einem wachsenden Wohlergehen einhergeht. Die Unzulänglichkeit des BIP als Messinstrument führt zu der Suche nach neuen Indikatoren für Fortschritt, Wohlergehen, bien-être: Glücksindikatoren. Nun gibt es unterschiedliche Methoden, Wohlergehen zu messen. Das subjektive Glücksgefühl kann man mit Umfragen messen. Oder man misst die objektiven Faktoren, von denen man annimmt, dass sie zum Glück beitragen: Gesundheitsversorgung, Bildung, Einkommen, Vermögen und deren Verteilung.

PIBien-être

In den 90er Jahren erarbeitet die UNO unter Federführung des indischen Wirtschaftswissenschaftlers Amartya Sen einen ‚Indikator für menschliche Entwicklung‘, mit dem anhand einiger entscheidender Faktoren der Entwicklungsstand und das Wohlergehen in den Staaten der Welt gemessen und miteinander verglichen werden sollen. Seither erscheint jedes Jahr ein umfangreicher statistischer Bericht über alle Länder der Welt, der jedes Mal bestätigt, dass BIP-Wachstum und die Entwicklung gesellschaftlichen Wohlergehens nicht zusammenfallen. Luxemburg etwa liegt regelmäßig mit seinem BIP pro Kopf an vorderster Spitze, aber mit dem gesamten Entwicklungsindikator viel weiter hinten.

In Frankreich haben Autor*innen wie Dominique Méda und Jean Gadrey die BIP-Ideologie kritisiert und andere Bewertungen von Reichtum und Wohlergehen entwickelt (nouveaux indicateurs de richesse). Sogar in Luxemburg, wo man ja besonders stolz ist auf ein hohes BIP, gibt es neue Ansätze. Der Statec hat seit 2015 zusammen mit dem Wirtschafts- und Sozialrat und dem Nachhaltigkeitsrat an einem PIBien-être (Luxembourg Index of Well-Being – LIW) gearbeitet und vor zwei Jahren erste Ergebnisse2 vorgestellt. Laut Bericht bleibe die Lebensqualität seit 2009 in etwa konstant, entwickle sich aber langsamer als das BIP. Es dauere halt etwas, so die Erklärung, bis das ökonomische Wachstum auch als Lebensqualität ankomme. Allerdings thematisiert der Bericht nicht, welche Auswirkungen unsere Lebensweise auf andere Teile der Welt hat und welche Folgen sie für die künftigen Generationen generiert. Zu den untersuchten Kategorien gehören weder der ökologische noch der soziale Fußabdruck, auch nicht die Konsequenzen des Wachstums für das Klima und die Lebensweise künftiger Generationen. Bei der Lektüre des Berichts gewinnt man den Eindruck, dass allein die dogmatische Verteidigung Luxemburgs als Finanzplatz uns vor der unbequemen Frage bewahrt, auf wessen Kosten wir „glücklich“ leben.

Zurück zur eigentlichen Verfassungsfrage, ob Glück und Freiheit sich ausschließen und welchem Teil des Paares in einer verfassungsmäßigen Ordnung die Priorität gebührt. In eine fruchtbare Richtung zeigt vielleicht die Entwicklung der Menschenrechte in den letzten Jahrzehnten. In der ersten Erklärung der Menschenrechte von 1948 standen – als Reaktion auf die im 2. Weltkrieg verübten faschistischen Verbrechen – noch die klassischen Rechte und Freiheiten im Vordergrund. Es folgten dann in Form von Pakten und internationalen Verträgen Menschenrechte der zweiten und dritten Generation, soziale, ökonomische, kulturelle Rechte, spezifische Rechte für besondere Gruppen von Personen, Kinderrechte, Behindertenrechte… Es wuchs (zumindest bei manchen) die Erkenntnis (eigentlich fast im Sinne Brechts), dass Freiheit von sozialer Absicherung abhängt, dass individuell-bürgerliche Menschenrechte und soziale Menschenrechte zusammenhängen, also nicht gegeneinander ausgespielt werden dürfen. Leider sind diese schönen Vertragstexte nicht immer verbindlich, und die Realität sieht oft anders aus.

Schön wär’s, wenn in der Debatte um die neue luxemburgische Verfassung diese Thematik aufgegriffen würde. Denn eine demokratische Verfassung müsste sowohl Freiheit garantieren wie auch das Maß an gesellschaftlichem Wohlstand, an gemeinsamem Eigentum, an solidarischer Sozialversicherung. Kurz: Eine gleiche und gerechte Verteilung von Freiheit müsste gesichert sein, also die von Etienne Balibar so schön benannte Egaliberté als gesellschaftliches Glück.

Im Sinne dieser gleichen Freiheit bliebe auch immer noch die Frage zu beantworten, wie Wohlergehen und Freiheit der hiesigen Regionen mit denen der restlichen Menschheit und der künftigen Generationen vereinbar sein sollen. Bräuchten wir nicht, über die bestehenden Verträge hinaus, eine echte verbindliche Weltverfassung für Wohlfahrt, Freiheit und Gleichheit?

  1. https://www.cercleconstant.ch/de-la-liberte-des-anciens-comparee-a-celle-des-modernes (alle Internetseiten, auf die in diesem Beitrag verwiesen wird, wurden zuletzt am 14. Oktober 2019 aufgerufen).
  2. https://statistiques.public.lu/catalogue-publications/PIBien-etre/2017/PIBien-etre.pdf

Als partizipative Debattenzeitschrift und Diskussionsplattform, treten wir für den freien Zugang zu unseren Veröffentlichungen ein, sind jedoch als Verein ohne Gewinnzweck (ASBL) auf Unterstützung angewiesen.

Sie können uns auf direktem Wege eine kleine Spende über folgenden Code zukommen lassen, für größere Unterstützung, schauen Sie doch gerne in der passenden Rubrik vorbei. Wir freuen uns über Ihre Spende!

Spenden QR Code