Haben die ‚neuen Medien‘ die Öffentlichkeit zerstört?
Ein Versuch zur Differenzierung
Ein neuer Marktplatz: Die „Öffentlichkeit“
Die Versammlung, die vollständige Vereinigung des Volkes auf dem Marktplatz, stellt eine imaginäre Urszene der politischen Philosophie der Moderne dar. In Rousseaus Contrat Social nimmt sie eine herausragende Position ein. „Bei den Griechen“, verkündet Rousseau, „übernahm das Volk alle Verrichtungen, die ihm oblagen; ununterbrochen war es auf dem Marktplatz versammelt. Es wohnte unter einem milden Klima und war nicht habgierig, Sklaven verrichteten seine Arbeiten, im Mittelpunkt seiner Betätigung stand seine Freiheit. […] Ich führe nur die Gründe an, aus denen die Völker der neueren Zeit, die sich für frei halten, Repräsentanten haben, und warum die alten Völker keine hatten. Wie dem auch sei, sobald ein Volk sich Repräsentanten gibt, ist es nicht mehr frei; es ist nicht mehr.“1
Diese Passage erfüllt im Zusammenhang mit Rousseaus Argumentation mehrere Funktionen. Einerseits geht es in ihr um seine Kritik der Idee politischer Repräsentation, die für ihn nur Verfälschung und Täuschung des Volkswillens sein kann. Andererseits schließt sie an seine These an, dass eine demokratische Organisation eines Gemeinwesens nur in kleinen Staaten, idealerweise eigentlich nur im Stadtstaat, verwirklicht werden könne.
Zugleich wird hier eine Herausforderung an die politische und mediale Organisation des modernen Staates vorweggenommen, der sich grundsätzlich am Modell des Nationalstaates orientieren und dennoch eine maximale Partizipation des gesamten Volkes zumindest im Prinzip verwirklichen will. Die liberale Theorie der Öffentlichkeit baut seit dem 19. Jahrhundert auf der Idee auf, dass die moderne Medientechnik eine Möglichkeit bietet, den Marktplatz als Versammlungsort des gesamten Volkes in einem modernen Flächenstaat wiederauferstehen zu lassen. John Stuart Mill schreibt in seinen Considerations on Representative Government (1861), „the press, and even the newspaper press“ könnten als „the real equivalent, though not, in all respects, an adequate one, of the Pnyx and the Forum“2 fungieren. Die Idee basiert auf der Prämisse, dass technische Distribution – Geschwindigkeit und Masse des Ausstoßes von Druckerzeugnissen sowie deren Verbreitung in hoher Geschwindigkeit – das Volk wieder vereinigen kann, auch wenn es sich nicht physisch begegnen mag. Die Idee, dass maximale Freiheit und Ausbreitung von Kommunikation alleine eine Demokratisierung der Gesellschaft hervorbringen, prägt die Utopien der Medienöffentlichkeit bis in die Gegenwart.
Die grundlegende Spaltung des Publikums
Auch wenn die Versammlung des Volkes auf dem Marktplatz eine imaginäre Urszene des Politischen auch und gerade im Zeitalter der Massengesellschaft darstellt, ist die Spaltung des Volkes im gleichen Zeitraum ein essenzieller Bestandteil der politischen Semantik. Diese wird pointiert von Giorgio Agamben analysiert: „Jede Interpretation der politischen Bedeutung des Begriffs Volk muss ihren Ausgang von der eigenartigen Tatsache nehmen, dass dieser in den modernen europäischen Sprachen immer auch die Armen, die Enterbten, die Ausgeschlossenen meint. Ein und derselbe Begriff bezeichnet also sowohl das konstitutive politische Subjekt als auch die Klasse, die von der Politik zwar nicht ‚de jure‘, doch ‚de facto‘ ausgeschlossen ist.“3
Agamben nennt Beispiele aus verschiedenen europäischen Sprachen, um diese These zu belegen. Er verweist auf das italienische popolare, das französische populaire, das spanische popular, welche allesamt „sowohl die Gesamtheit der Staatsbürger als einheitlichen politischen Körper […] als auch die Angehörigen der unteren Klassen (wie homme populaire, Mann aus dem Volk; rione popolare, Arbeiterviertel; front populaire, Volksfront)“4 bezeichnen. Aus dieser Beobachtung folgert Agamben eine grundlegende Aufspaltung im modernen Konzept des Volkes überhaupt: „Alles nimmt sich also aus, als sei das, was wir Volk nennen, in Wirklichkeit nicht ein einheitliches Subjekt, sondern ein dialektisches Oszillieren zwischen zwei entgegengesetzten Polen: der Gesamtheit Volk [Popolo] als dem integralen politischen Körper auf der einen, der untergeordneten Gesamtheit Volk [popolo] als der fragmentarischen Vielheit bedürftiger und ausgeschlossener Körper auf der anderen Seite.“5
Die fundamentale „Polarität“ und Doppeldeutigkeit des Konzepts ‚Volk‘ ist in dieser Perspektive keineswegs bloß eine semantische Kuriosität, sondern im Gegenteil spiegelt die politische Semantik – in Agambens Perspektive – eine biopolitische Realität wider: Das „Volk“ (als „reiner Ursprung jeder Identität“) kann seine politische Existenz und Einheit niemals realisieren, ohne sich radikal abzugrenzen vom „bloßen Volk“, von der unförmigen Masse der Ausgeschlossenen. Agamben interpretiert diese Geste der Abgrenzung als Grundlage der Genozide in der Moderne: Die ‚Endlösung‘, der Versuch der Ermordung aller Juden durch die Nazis, erscheint in dieser Perspektive als der Versuch, „schließlich das deutsche *Volk als ein Volk hervorzubringen, das den ursprünglichen biopolitischen Bruch geschlossen hat“.6
Die von Agamben analysierte Spaltung des ‚Volkes‘ muss nicht alleine auf die genozidale Logik der Moderne bezogen werden. Das Problem, dass die „abstrakte Idee des ‚Volkes‘ wenig mit der real existierenden Bevölkerung zu tun hat“,7 stellt sich auf die eine oder andere Weise in vielen Staaten im 20. Jahrhundert. Diese Spaltung und die ihr zugrunde liegende Logik ist nicht allein biopolitisch wirksam, sondern ebenso auch innerhalb der medientheoretischen Fundamente der modernen Demokratie. Sobald mit Rousseau die Versammlung des gesamten Volkes zur Urszene der Demokratie erklärt und diese mit Mill durch den technischen Einsatz von modernen Massenmedien als real umsetzbar gedacht wird – sobald also die Versammlung des Volkes von einer bloßen politischen Fiktion zu einem medialen Imperativ wird –, wird eine Politik des Mediengebrauchs und -konsums eröffnet, die scharf trennt zwischen denen, die sich zur Versammlung der Einheit qualifizieren, und denen, denen die Eignung dafür abgesprochen wird. Wie Richard Butsch herausarbeitet, folgt der Diskurs über Massenmedien in Amerika der Differenzierung zwischen crowd, mass und public: „Crowds were bad citizens; mass and isolated individuals were weak and vulnerable citizens; publics were good citizens.“8 Wie Butsch betont, verläuft die Unterscheidung zwischen diesen verschiedenen Kategorien entlang sozialer Hierarchien.9 Nicht allein das Volk an sich, auch noch die Öffentlichkeit – als mediale Bühne der Kommunikation eines Volkes in Ermangelung der Möglichkeit von face-to-face-Austausch – erscheint zwingend gespalten: die public als Repräsentation des Volks im Sinne des „reinen Ursprung jeder Identität“, die crowd oder mass als Repräsentation des „bloßen Volks“, das aus den politischen Diskursen ausgeschlossen bleiben muss. Diese Ausschließung begründet sich jeweils mit unangemessenen Formen des öffentlichen Verhaltens, der (falschen) Mediennutzung und der (mangelnden) Selbstkontrolle.10
Die Spaltung zwischen public und crowd, auf Deutsch zwischen der bürgerlichen Öffentlichkeit und der bloßen Masse, geht zurück auf den Ursprung des Konzepts der Öffentlichkeit selbst. Der Begriff des publicum – wörtlich: das zum Volk Gehörende – bezeichnet zunächst ein „abstrakte[s] Gegenüber der öffentlichen Gewalt“, und verwandelt sich im 17. und 18. Jahrhundert zum Publikum „der nun entstehenden bürgerlichen Öffentlichkeit“,11 wie Jürgen Habermas formuliert. „Das publicum entwickelt sich zum Publikum, das subjectum zum Subjekt, der Adressat der Obrigkeit zu deren Kontrahenten“,12 schreibt Habermas pointiert. Was bei Habermas allerdings als eine Aussage über einen faktualen Entwicklungsprozess beschrieben wird, stellt eher eine Norm dar, einen diskursiven Imperativ der bürgerlichen Ära. Sobald das bürgerliche – und also: rationale, kritische, individualistische – Publikum zur Norm erklärt wird, kann jede Abweichung davon als reine Masse, als passives, entindividualisiertes Kollektiv abgewertet werden.
Die Öffentlichkeit ist in dieser Hinsicht empirisch immer schon gespalten und dividiert. Die Öffentlichkeit ist immer schon nicht vollständig kritisch und also nie kritisch genug, zu sehr an Unterhaltung orientiert (und also an den Bedürfnissen der „Masse“), nie rational genug – kurzum, niemals genug bürgerliche Öffentlichkeit. Da ihr Zerfall, ihre Krise mit ihrer Existenz koextensiv ist, ist nicht erstaunlich, dass ihr Niedergang nur schwer historisch zu situieren ist. Die von Mill als Marktplatz der gesamten Nation gefeierten Zeitungen erreichten stets nur einen Bruchteil der Bevölkerung. Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts – und vor allem im 20. Jahrhundert – entstehen Massenmedien, die diesen Namen verdienen, insofern sie nennenswerte Anteile der Menschen erreichen. Die Ausdehnung der medialen Reichweite stellt für Habermas jedoch keineswegs die Verwirklichung seines Ideals der Öffentlichkeit dar, sondern im Gegenteil deren Verfallsform: Sie gehe einher mit der „Ablösung eines kulturell räsonierenden Lesepublikums durch das Massenpublikum der Kulturkonsumenten“.13 Die Zeitung zahle „für die Maximierung ihres Absatzes mit einer Entpolitisierung des Inhaltes“,14 schreibt Habermas: In dieser Perspektive erscheint die Zeitung für Habermas nun als Medium der crowd, nicht mehr als Medium der public. Wieder einmal schafft es die Öffentlichkeit nicht, ihren Anspruch zu verwirklichen, das ganze Volk – gleichsam auf einem wiederauferstandenen Marktplatz der Antike – zu versammeln: Es ist niemals Öffentlichkeit genug.
Fragmentierung? Die digitale Gegenwart
Ausgehend von dieser Diagnose stellt sich die Frage, welche Originalität die aktuellen Diskurse über Tribalisierung bzw. Fragmentierung der modernen Gesellschaften infolge der Digitalisierung, der ‚neuen Medien‘ beanspruchen können. „The common culture of citizenship has now disappeared“, schreibt Lawrence Lessig pointiert: „Literally, we are not all wrestling with the same issues, against the backdrop of the same facts, in anything like the same way“.15 Diese skizzenhafte Beschreibung der gegenwärtigen Krise der Öffentlichkeit, die in ähnlicher Form in zahlreichen Talkshows in Amerika oder Westeuropa vorgetragen wird, ähnelt Habermas‘ Diagnose des Verfalls der Öffentlichkeit im 19. und 20. Jahrhundert in vielen wesentlichen Punkten.
Tatsächlich hat der Diskurs über digitale Medien in den vergangenen Jahren eine radikale Umkehr vollzogen. Viele Medientheoretiker haben in den Social Media ein revolutionäres Potential für demokratische Öffentlichkeit gesehen. So wurden verschiedene politische Protestbewegungen, Revolten und Revolutionen – etwa der ‚Arabische Frühling‘ ab Dezember 2010 – als „Facebook-Revolution“ oder auch „Twitter-Revolution“ tituliert. Diese Euphorie für Social Media wird plausibel durch zwei Innovationen: Erstens ist Kommunikation hier im Prinzip anonymisiert, wodurch es leichter wird, kontroverse und abweichende Meinungen zu äußern, ohne Nachteile erwarten zu müssen. Zweitens wird die in den traditionellen Medien vorausgesetzte Grenzziehung zwischen ‚Sendern‘ und ‚Empfängern‘ verflüssigt: Jede/r Nutzer/in von Twitter oder Facebook kann jederzeit Texte, Bilder oder Videos distribuieren, aber auch eigene Inhalte veröffentlichen. So wird eine massenmediale Wahrnehmung ohne redaktionelle Einflussnahme und mit nur beschränkter Zensurmöglichkeit durch staatliche Behörden ermöglicht. Die „revolution in broadcast technology […] has displaced the gatekeepers, the producers, editors, and scholars who decided what was worthy of dissemination”,16 schreiben Russell Muirhead und Nancy Rosenblum. Gemäß dem liberalen Axiom, dass maximale technische Distribution von Kommunikation die ideale Grundbedingung für demokratische Öffentlichkeit darstellt, konnte das Internet eine Zeit lang als ein Medium der globalen Demokratisierung gelten.
Diese utopische Perspektive auf die sozialen Medien ist in den letzten Jahren von immer weniger Beobachtern geteilt worden. Diese Umwertung geht einher mit dem Auftreten politischer Protestbewegungen und einer Änderung des politischen Stils auch im Zentrum Europas und in den USA. Die Ausschaltung redaktioneller Kontrolle in der Verbreitung von Informationen und Meinungen wird dann als ein Problem erkannt. Habermas schreibt, die „computergestützte Kommunikation“ könne die Zensurmaßnahmen „autoritärer Regime“ unterminieren und insofern „unzweideutige demokratische Verdienste“17 erwerben; im „Kontext liberaler Regime“ habe das Internet dagegen eine problematische Tendenz. „Hier“, schreibt er, „fördert die Entstehung von Millionen von weltweit zerstreuten chat rooms und weltweit vernetzten issue publics eher die Fragmentierung jenes großen, in politischen Öffentlichen jedoch gleichzeitig auf gleiche Fragestellungen zentrierten Massenpublikums. Dieses Publikum zerfällt im virtuellen Raum in eine riesige Anzahl von zersplitterten, durch Spezialinteressen zusammengehaltenen Zufallsgruppen.“18
Die Beschreibung des Netzes als Raum der „Zerstreuung,“ „Zersplitterung“ und „Fragmentierung“ in diesem immerhin bereits im Jahr 2008 publizierten Text nimmt aktuelle Klagen über ‚Gegenöffentlichkeiten‘ oder ‚Fake News‘ im Netz vorweg. Wenn Habermas allerdings behauptet, das Internet zerstöre die politische Öffentlichkeit eines „zentrierten“ Massenpublikums, dann wirft das die Frage auf, ob er womöglich seine eigene Argumentation aus Strukturwandel der Öffentlichkeit vergessen hat: Dort wird dieser Vorgang der Fragmentierung bereits für das 19. und 20. Jahrhundert beschrieben, begonnen durch die Ausbreitung der „Tagespresse“ und verstärkt durch die „neueren Medien“: „Funk, Film und Fernsehen“.19 Die Beschreibung einer zerstörten politischen Öffentlichkeit ist in diesem Sinn kaum mehr als beliebige Kulturkritik, mit anderen Worten: politische Rhetorik. Die rhetorische Abgrenzung zwischen einer gelingenden Öffentlichkeit der ‚alten‘ Massenmedien („gleichzeitig auf gleiche Fragestellungen zentriert“) und einer scheiternden Öffentlichkeit der ‚neuen‘ Medien („zerfällt“, „zersplittert“) ruft die von Agamben analysierte Hierarchie zwischen dem ‚integralen‘ Volk und seinem ausgeschlossenen Teil auf, die – wie Richard Butsch gezeigt hat – stets in eine mediale Hierarchie verschiedener sozialer Formen des Publikums übersetzt wurde. Wenig überraschend, dass Habermas‘ Ausführungen zur Öffentlichkeit im Internet im Anschluss zu einer Forderung nach Kontrolle, mit anderen Worten Zensur, übergehen: Gefordert wird eine Instanz, welche die „dezentralisierten Botschaften wieder auffangen, selegieren und in redigierter Form synthetisieren“20 könnte.
Man wird die Veränderungen der politischen Öffentlichkeit durch den Bedeutungsgewinn ‚neuer Medien‘ kaum angemessen verstehen können, wenn man ihn lediglich mit der reflexhaften Wiederholung alter, elitärer Muster beantwortet. Die neuen Medien für politische Diskurse – Blogs, Vlogs, YouTube, Social Media – bringen auch in den ‚liberalen Regimes‘ Westeuropas innovative Effekte hervor. Indem die ‚gatekeeper‘ der traditionellen Medien der Öffentlichkeit kritisiert bzw. umgangen werden, ist eine Kritik von Autorität möglich, und neue Inhalte erreichen die politische Diskussion. Es wird so ermöglicht, die politische Relevanz von Themen hervorzuheben, die von den etablierten Massenmedien eher nebensächlich thematisiert werden (wie beispielsweise Digitalisierung oder Klimaschutz). Es gibt neue Modi politischer Kritik jenseits des etablierten massenmedialen Formats der politischen Satire (wie etwa in Deutschland durch die Satirepartei „Die PARTEI“, deren Aktivitäten kaum auf den öffentlich-rechtlichen Sendern, aber jederzeit auf diversen Social Media zu verfolgen sind). Es ist höchst bedenklich, wenn Vertretern der Politik zu Ansätzen einer innovativen politischen Öffentlichkeit nichts Besseres als die Forderung einer stärkeren Regulierung von YouTube einfällt.
Darüber hinaus ist zu beobachten, dass die Teilung des ‚Publikums‘ – in eine offizielle Öffentlichkeit einerseits und diverse alternative Öffentlichkeiten – immer stärker zum ausdrücklichen Thema politischer Diskurse geworden ist. Der populistische Diskurs greift die Trennung zwischen bürgerlichem ‚Publikum‘ und einer – weniger gebildeten, weniger gut bezahlten, kurzum sozial ‚abgehängten‘ – Masse auf: Nicht etwa, um sie zu überwinden, sondern eher, um sie umzukehren und die ‚Masse‘ jenseits der traditionellen bürgerlichen Öffentlichkeit als das ‚wahre Volk‘ zu entdecken, und die Medien der bürgerlichen Öffentlichkeit als Verfälschungen („Lügenpresse“) zu diffamieren. Auch wenn diese Bewegungen und Parteien nicht notwendigerweise auf besondere Präsenz in den ‚neuen Medien‘ setzen, schließen auch sie an die Destabilisierung der Autorität von ‚gatekeeper‘-Funktionen der traditionellen bürgerlichen Öffentlichkeit an bzw. setzen diese voraus. Die symbolische Umwertung der traditionsreichen Differenzierung zwischen bürgerlichem Volk und bloßer ‚Masse‘ folgt der von Agamben analysierten Logik zwischen ‚integralem‘, ‚wahren‘ Volk und seinem ausgeschlossenen Teil (und identifiziert lediglich nunmehr den ausgeschlossenen, unbürgerlichen Teil als das ‚echte‘ Volk). Dem ‚ausgeschlossenen‘ Teil des Volks-Konzepts wird hier eine Homogenität zugeschrieben, die es zuvor niemals hatte: Es handelt sich ja lediglich um den jeweils nicht weiter markierten Gegenbegriff einer sozialen Distinktion. In einem kreativen Akt politischer Fiktionalisierung wird hier eine radikale Synthetisierung sozialer Differenzen vorgenommen, die mit Nadia Urbinati als Strategie der Polarisierung bezeichnet werden kann. Urbinati schreibt: „Polarization as a simplification of social pluralism into two broad factions – the popolo and the grandi – was since its inception the main character of populism, its Roman feature.”21 In diesem Sinn kann es populistischen Akteuren gelingen, eine soziale Hierarchie zu einer politischen Differenzierung – im Sinne Carl Schmitts: einer Trennung zwischen ‚Freund‘ und ‚Feind‘ – umzugestalten.
Die Veränderungen der politischen Öffentlichkeit durch den Einfluss ‚neuer Medien‘ sind offensichtlich komplex und im gegenwärtigen Moment auch möglicherweise grundsätzlich noch nicht abschätzbar, insofern die digitale Revolution erst begonnen hat, die Gesellschaften umzuwandeln. Man kann jedoch festhalten, dass es nicht sinnvoll ist, dieser neuen Situation lediglich mit der unreflektierten Repetition hergebrachter Topoi und mit elitären Abgrenzungsgesten zu begegnen. Eine Perspektive, die den digitalen Wandel pauschal als ‚Zerstörung‘ oder ‚Zersplitterung‘ der politischen Öffentlichkeit beschreibt, behindert nicht nur eine differenzierte und komplexere Sichtweise, sondern unterstützt zudem die populistische Polarisierung, welche in der klassischen Öffentlichkeit vor allem eine elitäre Gesinnung erkennen will.
1) Jean-Jacques Rousseau, Sozialphilosophische und Politische Schriften, Düsseldorf, Patmos, 2001, S. 351f.
2) John Stuart Mill, Considerations on Representative Government, New York, Harper & Brothers, 1867, S. 17.
3) Giorgio Agamben, „Was ist ein Volk?“, in: ders., Mittel ohne Zweck. Noten zur Politik, 2. Aufl., Zürich/Berlin, Diaphanes, 2006, S. 31-36, hier S. 31, Hervorhebungen im Original.
4) Ebd.
5) Ebd., S. 32.
6) Ebd., S. 35 (Hervorhebung im Original).
7) Jan-Werner Müller, Das demokratische Zeitalter. Eine politische Ideengeschichte Europas im 20. Jahrhundert, Berlin, Suhrkamp, 2013, S. 44.
8) Richard Butsch, The Citizen Audience: Crowds, Publics, and Individuals, New York/London, Routledge, 2008, S. 2.
9) Vgl. ebd., S. 2f.
10) Vgl. ebd., S. 11.
11) Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, mit einem Vorwort zur Neuauflage 1990, Frankfurt/Main 1990, S. 82, Hervorhebung im Original.
12) Ebd., S. 84.
13) Ebd., S. 257.
14) Ebd., S. 259.
15) Lawrence Lessig, America, Compromised, Chicago/London, University of Chicago Press, 2018, S. 87.
16) Russell Muirhead/Nancy L. Rosenblum, A Lot of People are Saying: The New Conspiracism and the Assault on Democracy, Princeton/Oxford, Princeton University Press, 2019, S. 40.
17) Jürgen Habermas, „Hat die Demokratie noch eine epistemische Dimension? Empirische Forschung und normative Theorie“, in: ders., Ach, Europa. Kleine politische Schriften XI, Frankfurt/Main, Suhrkamp, 2008, S. 161.
18) Ebd., S. 162, Hervorhebung im Original.
19) Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, a.a.O., S. 260.
20) Habermas, „Hat die Demokratie noch eine epistemische Dimension?“, a.a.O., S. 162.
21) Nadia Urbinati, Democracy Disfigured: Opinion, Truth, and the People, Cambridge, Mass./London, Harvard University Press, 2014, S. 146, Hervorhebung im Original.
Als partizipative Debattenzeitschrift und Diskussionsplattform, treten wir für den freien Zugang zu unseren Veröffentlichungen ein, sind jedoch als Verein ohne Gewinnzweck (ASBL) auf Unterstützung angewiesen.
Sie können uns auf direktem Wege eine kleine Spende über folgenden Code zukommen lassen, für größere Unterstützung, schauen Sie doch gerne in der passenden Rubrik vorbei. Wir freuen uns über Ihre Spende!
