„History is not a science“
Einige Konsequenzen für die (akademische) Lehre
„History is not a science“ war eine der plakativen Aussagen Ilan Pappés in seinem Interview mit forum.1 Kann man heute noch Menschen mit diesem Zitat schockieren? Viele meiner Studenten befürchten, dass Geschichte in diesem Fall notgedrungen Unwahrheiten produziere und ebenso wie Historiker zwecklos werde. Viele wiederholen bereitwillig das Mantra, nach Objektivität zu streben, wenn auch häufig mit dem kleinen Zusatz, dass diese in ihrer Absolutheit nie erreicht werden kann. Und ein Kollege beichtete mir einmal, dass seiner Ansicht nach eine entsprechende öffentliche Behauptung durch das historische Institut sicherlich zu einer Streichung finanzieller Mittel von Seiten der Universitätsleitung führen würde.
Zunächst möchte ich zeigen, wo die Vorstellung von Geschichte als Wissenschaft herkommt und in wieweit diese Vorstellung seit jeher kritisiert wurde. Meinem hier in essayistischer Form präsentierten Überblick schließe ich einige kurze Gedanken zur Verknüpfung von Geschichtsauffassung und -unterricht an. Geschichte benutze ich hier exemplarisch, da meine Überlegungen wahrscheinlich ähnlich anwendbar auf andere geistes- und sozialwissenschaftliche Disziplinen sind, wie etwa Geographie, Soziologie oder die Wirtschaftswissenschaften. Nebenbei sei allerdings noch bemerkt, dass man Pappés Zitat im richtigen sprachlich-kulturellen Kontext verstehen muss. Das Englische „science“ trägt weit mehr naturwissenschaftliche Konnotation mit sich, als das deutsche Wort „Wissenschaft“ oder das französische „science“, die einen entsprechend breiteren Anwendungsbereich besitzen. Im Englischen benutzt man deswegen im geisteswissenschaftlichen Bereich anstatt „scientific“ auch meist das Adjektiv „scholarly“, das wiederum schwer ins Deutsche zu übersetzen ist.
Wenn man die Anfänge der Geschichtsschreibung auf Herodot zurückführen will, so ist die Vorstellung von Geschichte als Wissenschaft relativ jung. Ziel antiker Geschichtsschreibung war nicht eine distanzierte, unengagierte Suche nach Wahrheit oder Objektivität, sondern das Erlangen einer tieferen Wahrheit, die sich in dem vom Historiker erkannten, sich wiederholenden Grundmuster menschlichen Handelns widerspiegelte.2 Geschichte von Mythos zu trennen war zwar manchen antiken Historikern ein Anliegen, doch gab es keine kohärente Methode, um zu trennen, was unter Mythos fiel und was nicht; die Autorität des Historikers entschied darüber. Was als Mythos angesehen wurde und was nicht, variierte auch im Laufe der Zeit. Die trojanischen Ursprünge der Römer oder Franken etwa trafen bis weit in die Neuzeit auf wenig Zweifel unter den Gelehrten. Der Anspruch vieler Historiker – jedoch nicht allen – keine Unwahrheiten oder Fiktionen zu verbreiten, führte ab dem 16. Jahrhundert vermehrt zur Entwicklung einer kritischen Methode: Wie ließen sich Dokumente als gefälscht entlarven? Wie sollte man mit der Voreingenommenheit anderer Geschichtsschreiber umgehen?3 Im 17. und 18. Jahrhundert war die Devise anspruchsvoller Historiker noch nicht „wissenschaftlich“, sondern zunächst „kritisch“ zu sein. Das Zentrum dieser Bewegung war Frankreich, ein Land, in dem sowohl die post-reformatorischen Religionskonflikte, wie auch die zentralisierende und nach eigener historischer Wahrheit strebende Monarchie den Blick auf die Parteilichkeit von Geschichtsschreibung schärften.
Die Vorstellung von Geschichte als Wissenschaft vollzog sich im 19. Jahrhundert aufbauend auf die Tradition der kritischen Methode. Ausschlaggebend war eine neue Institution: die in den post-napoleonischen deutschen Ländern entstandene Universität nach humboldtschem Muster, in der auch Historiker ihren Platz sehen wollten. Leopold von Ranke steht oft stellvertretend für eine Generation, die Geschichte als wissenschaftliche, akademische Disziplin verankerte. Ranke begeisterte sich in jungen Jahren für die historischen Romane Walter Scotts, war jedoch enttäuscht, als er hier nach eigenem Nachlesen der historischen Quellen flagrante, faktische Ungenauigkeiten feststellte. Seine eigenen Publikationen – die meisten waren Bestseller – charakterisierte ein anderes Ziel, das er in späteren Jahren als „die Vergegenwärtigung der vollen Wahrheit“ nannte. Diese würde erreicht durch „kritisches Studium der echten Quellen; unparteiische Auffassung; objektive Darstellung“.4 Um diesen hohen Ansprüchen zu genügen, mussten verschiedene Bedingungen erfüllt sein: Geschichte schrieb man in der neutralen Umgebung der staatlichen Universität, mit einer zeitlichen Distanz von wenigstens zwei Generationen, sowie nach einem rigorosen Studium, das einem eben jene „echte Quellen“ erkennen und „unparteiisch“ interpretieren ließ. Seither umfasst das Studium der Geschichte eine Kenntnis etlicher Hilfs- und Nachbarwissenschaften, die den Umgang mit den Originalquellen unterschiedlichster Art erlauben. Fortan strebte man in ganz Europa nach dem gleichen Ziel: Geschichte war und musste Wissenschaft sein.
Doch damit begann erst die Diskussion, um welchen Typ Wissenschaft es sich bei Geschichte handelt, und welcher Grad wissenschaftlicher Genauigkeit angestrebt werden kann. Ein Kollege Rankes, Johann Gustav Droysen, zum Beispiel kritisierte den englischen Historiker Henry Thomas Buckle, der einen positivistischen Ansatz pflegte und nach einer naturwissenschaftlichen Exaktheit in der Geschichtsforschung strebte.5 Karl Marx stand für eine noch andere Auffassung, in der sich seine Bewunderung für die Theorien von Charles Darwin widerspiegelten. Bei Marx gehörte zur Wissenschaftlichkeit der Geschichte, dass sich aus ihr Gesetze ableiten lassen, so etwa die Unausweichlichkeit eines proletarischen Triumphs in der sich anbahnenden sozialistischen Weltrevolution. Der Traum, Geschichtswissenschaft mit naturwissenschaftlicher Genauigkeit zu betreiben, wurde nie ganz aufgegeben. Im 20. Jahrhundert bot das Aufkommen statistischer Analysen einigen Historikern – vor allem im Bereich der Sozialgeschichte – eine weitere Möglichkeit, sich dem Ziel mithilfe der Mathematik zu nähern. Heute wird Statistik in vielen Bereichen zunehmend von big data abgelöst. Das Resultat dieser Entwicklung in der Geschichtsforschung sind zum Beispiel Kliometrie und Kliodynamik, ferner die Digital History. Erstere versuchen anhand von mathematischen Modellen, die oft den Wirtschaftswissenschaften entlehnt sind, historische Gesetze aufzustellen und gegebenenfalls zu prüfen. Digital History ist ein etwas weiter gefasster Begriff, der meist auf die Verwendung digitaler Technologien verweist, um damit größere Datenmengen zu verarbeiten.
Dabei gab es von Anfang an Bewegungen, die Geschichtsschreibung ganz anders interpretierten. War Geschichte in der Antike immer auch eine „musische“ Tätigkeit, so sah mancher Renaissance-Denker und Humanist Geschichte als einen Teil der Rhetorik. Im 17. Jahrhundert entwickelten Historiker die erwähnte „kritische Methode“ auch als Antwort auf die Haltung einiger Pyrrhonnisten, die in ihrer extremen Skepsis historischen Quellen jede Zuverlässigkeit abstritten und entsprechend die Möglichkeit eines gesicherten historischen Wissens abstritten. Stellte ich oben Ranke als Beispiel der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung vor, so beharrte aber auch er, wenigstens in seinen jungen Jahren, auf die poetische Seite der Geschichte: „Die Historie unterscheidet sich dadurch von anderen Wissenschaften, daß sie zugleich Kunst ist. (…) Als Wissenschaft ist sie der Philosophie, als Kunst der Poesie verwandt. Der Unterschied ist, daß (…) die Historie auf ein reales angewiesen ist.“6
Die wirkliche Wende kam erst ab den 1960er Jahren im Zuge postmoderner Theorien, die die Wissenschaftlichkeit der Geschichte vehement in Frage stellten. Der wohl bekannteste Historiker des linguistic turns ist Hayden White. In seiner Monographie Metahistory zeigt White, wie die Beweisführung der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung im 19. Jahrhundert, u.a. der von Ranke, nicht nur auf ihrem empirischen Inhalt und ihrer logischen Argumentation beruht, sondern auch auf ihrer Erzählweise. White führte seine Ideen in einem weiteren Aufsatz aus, der – etwas provokativ – Geschichte als „literarisches Artefakt“ bezeichnet.7 Seine Kernaussage ist nicht, dass Geschichte Fiktion sei, sondern, dass sie als Text immer auch literarische („fiktionale“) Aspekte besitzt. White hat dabei kein Problem von historischen Fakten zu reden, besteht aber darauf, dass diese ihren Sinn nur im Rahmen einer Erzählung erhalten. Ein Ereignis trägt keine inhärente Bedeutung in sich, sondern bekommt diese erst durch ihre sprachliche Verarbeitung, wie beispielsweise durch Historiker. White half den Blick auf den derart konstruierten Charakter der Geschichte zu richten. Andere postmoderne Denker gingen noch viel weiter: Jeder Arbeitsschritt der Historiker sei unweigerlich ideologisch beeinflusst, angefangen bei der Auswahl des Interessensgebietes, bis hin zur abschließenden Überarbeitung der Texte.
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Geschichtsauffassung, so meine These, hat immer auch Auswirkungen auf die historische Didaktik. Aus der wissenschaftlichen Konzeption entstanden zwei Ansätze für den Schulunterricht und die universitäre Lehre. Der erste legt den Schwerpunkt auf die Verbreitung von Wissen, wissenschaftlich gesichertes Wissen natürlich. Die pädagogische Vermittlung erfolgt meist in Form von Frontalunterricht. Nach ihm geschulte Historiker sollen sich nach dem Studium durch ein möglichst enzyklopädisches Wissen auszeichnen. War dieses Ideal an vielen französischsprachigen Universitäten beliebt, so dominierte es auch lange Zeit8 den hiesigen Sekundarunterricht. Der Ansatz birgt so manchen Vorteil, denn ein weites Wissen kann helfen, große Bögen zu spannen. Auf einer gesellschaftlichen Ebene schafft der Ansatz die Grundlagen eines kanonischen Wissens und ermöglicht die Vermittlung gemeinsamer nationaler oder zivilisatorischer Narrative und Anhaltspunkte. Der zweite Bildungsansatz legt den Schwerpunkt auf die Vermittlung von Forschungskompetenzen. Die Tradition geht auf das 19. Jahrhundert zurück, als Ranke und seine Historikergeneration die zentrale Wichtigkeit der Primärquelle hervorstrichen. Ein wichtiges Charakteristikum dieses Ansatzes ist die zentrale Rolle, die den Hilfs- oder Nebenwissenschaften zugeordnet wird. Laut Ranke ist die beste Form der Vermittlung dieses Ansatzes das Seminar, eine Überzeugung, die aber bis heute nicht von allen Universitätsprofessoren geteilt wird. Bildungsziel ist in diesem Fall die Heranbildung historischer Forscher, denen für die Auswertung jeder historischen Quelle die richtigen Techniken zur Verfügung stehen. Diese umfassen heute selbstverständlich ebenso digitale Techniken. Auch wenn nicht jeder Geschichtsstudent vorhat, in die Forschung zu gehen, spricht so manches für diesen Ansatz. In meinen Augen sollte sich die akademische Ausbildung auch mit den Entstehungsprozessen historischen Wissens auseinandersetzen. Nur so kann dieses Wissen in der Folge auch hinterfragt werden.
Postmodernismus und linguistic turn wurden oft als Angriff auf „Geschichte“ und ihr wissenschaftliches Fundament gewertet. Besonders in den 1990er gab es zum Teil heftigen Streit zwischen Vertretern der unterschiedlichen Ausrichtungen.9 Tatsächlich lenkt der linguistic turn unseren Blick auf den textuellen, narrativen Charakter von Geschichtsschreibung und gibt uns zudem ein neues analytisches Instrumentarium, um mit eben diesem umzugehen. Für mich ergibt sich durch ihn auch die zentrale Wichtigkeit weiterer Bildungsansätze:
Geschichte als Text lehren
Wenn Sprache das zentrale Medium für die Vermittlung von Geschichte ist, dann muss ihr auch in der Lehre die entsprechende Rolle zugewiesen werden. Dazu gehört an erster Stelle das Lesen. Auf Satzebene müssen Konzepte erkannt und eingeordnet werden. Auf der Gesamttextebene müssen Narrative erfasst, analysiert und zugeordnet werden. Dies verlangt Texte in ihrer Tiefe zu lesen. Der von mir beobachtete Trend geht aber oft in die entgegengesetzte Richtung. Vielen Studierenden fehlt es an Bewusstsein für diese Dimensionen. Viele versuchen beim Lesen nur die Kernpunkte eines Textes zu extrahieren, anstatt sich der Weise ihrer Konstruktion durch den Text bewusst zu werden. Es scheint mir auch ein Resultat des ersten hier beschriebenen Bildungsansatzes zu sein, der oft Wissen als Verweis auf eine Realität jenseits des Textes versteht. Ein wichtiger Schritt ist, Studierenden möglichst viel Übung im Lesen zu geben und die Evaluation eines Kurses auf die Erfassung von Texten zu basieren, anstatt auf das durch Vorlesungen vermittelte Wissen. In einem zweiten Schritt geht es mir aber auch ums Schreiben. Gerade in einer Zeit, in der viel, aber schnell, informell und oft nur unter 140 Zeichen geschrieben wird, muss die Übersetzung von Gedanken in eine geschriebene Sprache gepflegt werden. Mir geht es nicht um die Vermittlung von „Soziologendeutsch“ (oder -französich, oder -englisch) – ganz im Gegenteil. Ich bemerke sowohl in Seminaren wie in Klausuren, wie schwer es manche Studierende haben, auf eine Frage eine kohärente Antwort zu bilden. Schwieriger noch zu vermitteln – aber nun mal ein Kernmerkmal akademischen Schreibens –, ist konzeptuelle Genauigkeit. Diese beginnt mit dem Bewusstsein für die begrifflichen Möglichkeiten, die einem als Autor zur Verfügung stehen, und endet mit der Wahl der geeigneten. Der präzise und umsichtsvolle Umgang mit Sprache ist umso wichtiger, da viele ausgebildete Historiker nachher in Medien, Tourismus und Kultur nach Arbeit suchen, d.h. in Bereichen, die einen solchen Umgang voraussetzen. Auf Neudeutsch: Es handelt sich um eine transferable skill von zentraler Bedeutung.
Geschichte als Debatte lehren
Geschichte ist immer positioniert. Sie ist immer Teil einer Debatte. Jedes historische Thema hat eine Vorgeschichte, bietet verschiedene mögliche methodische Ansätze und hat in aller Wahrscheinlichkeit bereits unterschiedliche Positionen hervorgebracht. Nicht alle Debatten verlaufen explizit, manche nicht einmal bewusst ab. Wenn sie doch einmal explizit oder gar öffentlich werden, mögen sie sich vielleicht oberflächlich als Diskussion um die Auslegung von Quellen und die Anwendung von Konzepten ausdrücken. Oft aber versteckt sich dahinter ein Kampf um Geschichtsbilder, Narrative oder Erinnerungskultur. Auch hier gilt es zunächst, diese zu erkennen und ein Bewusstsein für die politischen, methodischen oder erinnerungskulturellen Implikationen eines Textes zu entwickeln. Der nächste Lernschritt ist, wie man selbst eine eigene Position entwickelt und diese argumentativ untermauert. Neben seiner rein akademischen Bedeutung hat dieser Punkt auch eine sehr aktuelle Anwendung. Denn Geschichte als vielschichtige Debatte zu erkennen, heißt auch, sich dem öffentlichen Gebrauch von Geschichte bewusster zu werden. Letzteren angemessen analysieren zu können, erscheint umso wichtiger in einer Zeit, in der das „Ende der Geschichte“ (im Sinne Francis Fukuyamas) spätestens seit dem Brexit-Referendum auch in Westeuropa vorbei ist und die politische Zukunft wieder ungewisser wird.
Geschichte als intellektuelle Tätigkeit lehren
Wenn Geschichte nicht nur aus Fakten, sondern auch aus Ideen besteht, sollte man die Studierenden auch für letztere begeistern. Viele kommen zum Geschichtsstudium mit einem besonderen Interesse für ein bestimmtes Thema oder eine bestimmte Epoche, über das sie oft bereits faktisches Wissen erworben haben und weiteres gerne hinzuerwerben. Die universitäre Lehre muss diesen bestehenden Enthusiasmus aufgreifen, ihn aber in die bereits erwähnten Richtungen weiterbegleiten. Geistes- und Sozialwissenschaften sollten zum Ziel haben, Intellektuelle zu formen. Dies ist nicht einfach. Zudem ist es in unserer neoliberalen Welt weniger ausgemacht, als man annehmen kann. Intellektualität ist – um es als Oxymoron zu formulieren – ein gesellschaftlich essentieller Luxus, aber sie bringt dem Arbeitsmarkt wenig. Sie kann auch ein frühes Opfer sein, wenn ein Studiengang seine Existenzberechtigung durch eine hohe Zahl von Studienabgängern rechtfertigen muss.
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