Ich protestiere, also bin ich

Einleitung ins Dossier

Funken der Hoffnung

Manchmal genügt ein kleiner Funke, um Protest auszulösen. Rosa Parks, die sich 1955 in Montgomery weigerte, ihren Sitz im Bus für einen Weißen frei zu machen, steht am Anfang des US-amerikanischen Civil Rights Movement. Ein auf Twitter veröffentlichter Aufruf von Alyssa Milano aus dem Jahr 2017, sexuelle Belästigung mit dem Hashtag #metoo publik zu machen, führte zu Ermittlungen gegen zahlreiche Männer und löste weltweit ein gesteigertes Bewusstsein zum Thema des sexuellen Missbrauchs aus. Bisweilen genügt ein kleiner Funke, um etwas ins Rollen zu bringen. Doch der Weg des Wandels ist manchmal auch lang. Man blicke nur auf die Apartheid in Südafrika, die sich trotz der schon Ende der fünfziger Jahre einsetzenden Boykott-Bewegung aus Großbritannien faktisch bis 1994 halten konnte, oder auf den langen Emanzipationskampf der Homosexuellen für ihre Bürgerrechte. In Deutschland wurde der berüchtigte Paragraf 175 ebenfalls erst 1994 aufgehoben.

Protest und sozialer Wandel

Protest kann sozialen Wandel auslösen. Sozialer Wandel stellt sich nicht von alleine ein. Und in Demokratien ist Protest verfassungsmäßig auch vorgesehen. Öffentliche Demonstrationen gehören zu den Mitteln politischer Meinungsäußerung und -bildung. In Luxemburg, Deutschland und Frankreich ist diese Form verfassungsmäßig garantiert. Protest kann verstanden werden als „eine Form des öffentlichen Auf- oder Eintretens für eine partikulare gesellschaftliche Zielsetzung (…), mit der ein Mißstand behoben, eine drohende Gefahr abgewendet oder allgemeiner eine Veränderung herbeigeführt werden soll“.1 Oftmals sind es soziale Bewegungen, die mittels Protest auf Veränderungen zielen. Soziale Bewegungen werden in der Forschung definiert als ein „auf gewisse Dauer gestelltes und durch kollektive Identität abgestütztes Handlungssystem mobilisierter Netzwerke von Gruppen und Organisationen, welche sozialen Wandel mittels öffentlicher Proteste herbeiführen, verhindern oder rückgängig machen“ wollen.2 Soziale Bewegungen existieren nur auf gewisse Dauer, weil sie sich auflösen, institutionalisieren oder in Nachfolgebewegungen übergehen, sobald oder bevor ihre Ziele erreicht sind.3 Protest kann in Widerstand umschlagen. Widerstand wird verstanden als „soziales Handeln, das gegen eine als illegitim wahrgenommene Herrschaftsordnung oder Machtausübung gerichtet ist“. Widerstand kann gewaltlos oder gewaltsam sein.4

Das forum-Dossier bringt auf den folgenden Seiten Beispiele für soziale Bewegungen, unterschiedliche Protestformen und Widerstand. Es versammelt Analysen und Positionsbestimmungen vergangener und rezenter Protestphänomene aus Luxemburg. Ihnen an die Seite gestellt sind Untersuchungen zum Protest aus Deutschland und Frankreich, den Referenzgrößen unseres Landes, auch wenn es um Protest geht. Nicht ohne Grund haben die Luxemburger*innen um 68 ganz genau beobachtet, was in den beiden Nachbarländern geschah. Einen schönen Eindruck dieser Beobachtungen vermittelt das Dossier der forum-Ausgabe von 1988 zum Mai 68, in dem die Redaktion eine luxemburgische Presseschau des Jahres 1968 zusammengestellt hatte. Sie finden es im Heftarchiv auf unserer Homepage.

Che, Greta und die Heilige Jungfrau

Das Cover der aktuellen forum-Ausgabe, das Fernando Alves gestaltet hat, bringt zwei Ikonen des Protests zusammen, die auf den ersten Blick unterschiedlicher kaum sein könnten: den argentinischen Arzt und Revolutionär, Ernesto Che Guevara, der der Kubanischen Revolution zum Sieg verhalf und 1967 in Bolivien von der dortigen Armee hingerichtet wurde, sowie die 2003 geborene schwedische Klimaschutz-Aktivistin Greta Thunberg, die seit nunmehr einem Jahr das Gesicht und die Stimme der weltweit agierenden, hauptsächlich aus jungen Menschen bestehenden Klimaschutz-Bewegung darstellt. Was die beiden verbindet, ist die Überzeugung, Wandel herbeiführen zu müssen. Ihrem Handeln liegt eine tiefe Überzeugung zugrunde, die sie gegen alle Widerstände das vermeintlich Unmögliche möglich zu machen versuchen lässt. Guevara ging für seine Überzeugung in den Tod, Thunberg hat mittlerweile angekündigt, das komplette nächste Schuljahr auf den Unterricht zu verzichten, um sich voll und ganz ihrem Kampf gegen den Klimawandel widmen zu können. Und auch die Jungfrau Maria erlebt derzeit ihr revolutionäres Comeback: Als eine Frau, die Emotionen auslöste und einen tiefgreifenden Einfluss auf die Welt gehabt hat, hat sie unser Cover-Grafiker in das Motiv integriert. Und auch sie stand ja mehr als jede*r andere am Ursprung eines globalen Umbruchs, der durch das Aufkommen des Christentums die Welt transformierte. Maria 2.0 nennt sich nicht von ungefähr die in Münster entstandene und mittlerweile deutschlandweit agierende katholische Bewegung von Frauen, die nicht länger hinnehmen wollen, systematisch von ihrer Kirche ausgegrenzt zu werden. Mitte Mai sind sie in den Kirchenstreik getreten, sie wollen nicht länger hinnehmen, von den wichtigsten Ämtern der katholischen Kirche ausgeschlossen zu sein.

Von 68 bis heute

„Jede radikale Opposition gegen das bestehende System, das uns mit allen Mitteln daran hindern will, Verhältnisse einzuführen, unter denen die Menschen ein schöpferisches Leben ohne Krieg, Hunger und repressive Arbeit führen können, muß heute notwendigerweise global sein.“5 Über 50 Jahre ist es her, dass Rudi Dutschke diese Zeilen schrieb. Sie sind noch immer aktuell. Die Notwendigkeit der internationalen Vernetzung hatten nicht nur die 68er eingesehen, die, kognitiv durch Ideen, Theorien und Annahmen einer internationalen Neuen Linken in ihrem Handeln orientiert wurden und sich in einem permanenten Ideenaustausch befanden. International vernetzt sind und waren auch die G20-Proteste, TTIP-Demos, die Altermondialisten, Occupy Wallstreet oder die Klimaschutz-Bewegung. Je globaler die Probleme, je vernetzter unsere Welt wird, desto notwendiger wird die internationale Verbindung des Protests. Protest kommt auf, wenn sich Unzufriedenheit mit den bestehenden Verhältnissen einstellt und wenn diese Unzufriedenheit mit dem Glauben an die Machbarkeit und damit Veränderbarkeit dieser Verhältnisse gepaart ist. „Geschichte ist machbar“, war eine der Parolen von 68. Und auch wenn die Postmoderne diesen Glauben für einige Momente verschwinden ließ, er scheint wieder da zu sein.

In Berlin hat sich die Anzahl der Demonstrationen zwischen 2008 und 2016 mehr als verdoppelt.6 In Frankreich halten bereits seit letztem Jahr die Gilets Jaunes landesweit die Polizei in Atem, und auch in Luxemburg wird protestiert: In der letzten Mai-Woche kam es nicht nur zum zweiten großen Klima-Streik, organisiert von Youth for Climate Luxembourg, sondern fünf Tage später auch zu einer, wenn auch kleinen Demonstration vor dem Hotel Parc Belair, in dem die Jahresversammlung der Aktionäre der Socfin-Gruppe stattfand, die von den Demonstrant*innen für skandalöse Arbeitsbedingungen in afrikanischen und asiatischen Ländern kritisiert wurde. Der Zusammenhang zwischen dem Wohlstand in Ländern der sogenannten Ersten und der Armut in der sogenannten Dritten Welt spielte auch schon um 1968 eine zentrale Rolle und führte nicht zuletzt dazu, dass die westlichen Protestierenden in den Revolutionsbewegungen jenseits der Industrienationen eines der neuen revolutionären Subjekte ausmachten. Aber noch immer hat sich nichts an diesem grundlegenden Mechanismus, dass die Reichen die Armen ausbeuten, geändert. Darauf macht auch Raymond Weber in der Besprechung des Buches Leistet Widerstand von Jean Feyder aufmerksam, die Sie am Ende unseres Dossiers lesen können.

Digitalisierung und Mobilisierung

Was den Protest seit einigen Jahren von vergangenen Protesten unterscheidet, sind die Mobilisierungsmedien. Soziale Bewegungen sind auf Mobilisierung angewiesen.7 Mobilisierung sozialen Handelns tritt erst ein, wenn es auf Orientierungsmuster und Zielvorstellungen gerichtet wird. Diese Interpretationsaufgabe haben in der Vergangenheit häufig Intellektuelle übernommen, doch in Zeiten der Digitalisierung hat sich die Möglichkeit zur Interpretation von Welt sozusagen demokratisiert. Jede*r kann mit einem YouTube-Video Kritik äußern, die zu Protest führen kann. Der YouTuber Rezo hat es vergangenen Monat mit seinem Video über die Zerstörung der CDU getan. In der Folge schlossen sich 70 YouTuber*innen zusammen und veröffentlichten eine Wahlempfehlung für die Europawahl: Man solle auf keinen Fall CDU, CSU oder SPD wählen. Die CDU-Parteichefin, die weder das Grundgesetz, schon gar nicht die Funktionsmechanismen der digitalen, aber anscheinend auch nicht die der analogen Welt verstanden zu haben scheint, deutete daraufhin flugs die Meinungsäußerung in Meinungsmache um und stellte sich öffentlich die Frage, welche „Regeln“ in Zukunft für Meinungsäußerungen im Netz gelten sollten. Wenn das kein Grund für weiteren Protest ist, was denn dann?

Die Arroganz, mit der Annegret Kramp-Karrenbauer auf den Zusammenschluss von 70 Youtuber*innen reagierte, erinnert auch an die übersteigerten Reaktionen auf Kevin Kühnerts Sozialismus-Vorstoß. Der Vorsitzende der Jungsozialisten, der Jugendpartei der SPD, hatte eigentlich nicht mehr getan, als an die historischen Wurzeln seiner Partei zu erinnern. Und dabei merkten viele der empörten Politiker*innen nicht einmal, dass sie sich in einer Art und Weise inszenieren – nämlich uninformiert, emotionalisiert und unsachlich –, die sie häufig jungen Menschen zum Vorwurf machen.

Dass Mobilisierung in digitalisierten Zeiten leichter fällt als zuvor, ist eine Binsenweisheit. Wobei die Digitalisierung oft auch als Grund für eine gewisse Banalisierung des Protestes herhalten muss. Oft zu hören ist der Vorwurf, junge Protestler*innen (und ältere Internet-User*innen, die soll es auch geben) machten es sich zu einfach, ihren Unmut durch das Klicken eines Like-Buttons oder eine digitale Unterschrift unter ein Manifest oder eine Petition zum Ausdruck zu bringen. Doch ein Blick auf den Arabischen Frühling oder die weltweiten Klima-Demonstrationen zeigt, welches enorme Potenzial für Mobilisierung in der Digitalisierung steckt. Der Weg eines Posts zu potenziellen Adressat*innen ist eben schneller gefunden als der Weg eines Flugblatts zum*r Emfänger*in. Die Frage, ob Protest unterkomplex wird, weil die Logik der sozialen Medien sich an kurzen Nachrichten ausrichtet, mag gerechtfertigt sein, aber auch um 68 hat nicht jede*r Mobilisierte ein Dutschke-Traktat gelesen. Die Parolen waren nicht komplexer als die heute auf Facebook verbreiteten Losungen.

Worum es geht

Protest, Revolte, Widerstand: Und was ist eigentlich aus der guten alten Revolution geworden? Es scheint wichtig, noch einmal in Erinnerung zu rufen, worum es 1968 ging – und worum nicht. Es ging nicht um den Kampf um die Herrschaft, es ging um die Veränderung von Macht- und Entscheidungsstrukturen. Ingrid Gilcher-Holtey, die in dieser Ausgabe den ersten Teil ihrer Analyse zu den Gilets Jaunes vorlegt, hat es an anderer Stelle so pointiert: „Ein erfolgreicher Kampf um die politische Macht, die Machtübernahme durch die soziale Bewegung wäre die Revolution. Indes, soziale Bewegungen bleiben in der Regel weit unterhalb dieser Schwelle. Sie zeigen Konflikte in der Gesellschaft auf, nehmen Agenda-Setting vor und (…) stimulieren die De- und Rekonstruktion von Denk-, Wahrnehmungs- und Klassifikationsschemata.“8 Genau, Youth for Climate will nicht die Regierungsgeschäfte übernehmen. Die Bewegung will, dass die Regierungen dieser Welt einen ordentlichen Job machen. Sie wollen, dass die Regierungen dafür sorgen, dass diese Erde bewohnbar bleibt, damit wir nicht, wie Bruno Latour vor einigen Wochen in der Zeit schrieb, alle zu Flüchtlingen werden, alle heimatlos.9

Junger Protest damals

Im Gegensatz zu den europäischen 68er Bewegungen, die sich nicht als Jugendrevolte beschreiben lassen, schon gar nicht in Frankreich und Italien, wo es zum Schulterschluss von Studierenden und Arbeiter*innen kam, hat das luxemburgische „68“, das drei Jahre später einsetzte, durchaus etwas von einer Jugendrevolte. Den Auftakt zu unserem Dossier setzt Tobias Vetterle mit einem Beitrag über das verspätete luxemburgische 68, über das Jahr 1971, in dem Schüler*innen in Diekirch, Luxemburg und Esch-sur-Alzette auf die Straße gingen, um gegen ein Schulsystem zu demonstrieren, dass in ihren Augen „Untertanen“ fabrizierte, Menschen, die nicht kritisch denken und bloß als willige Gehilfen des Staates funktionieren. Wer sich für diese Proteste interessiert, kann neben der Lektüre von Vetterles Artikel auch den Film Mad Punter von Paul Hammelmann anschauen, der die Proteste mit seiner Kamera eingefangen hat. Ab sofort ist er auf der Homepage von forum freigeschaltet (www.forum.lu). Wir danken dem CNA und dem Regisseur für die freundliche Bereitstellung.

Junger Protest heute

Aber was bewegt die jungen Menschen, die heute hier in Luxemburg Protest üben? Auf unsere Fragen und auf Zitate aus der Zeit um 68 haben sie erstaunliche und lesenswerte Antworten geliefert. Zohra Barthelemy von Youth for Climate Luxembourg etwa macht in ihren Antworten auf unsere Fragen deutlich, dass ihre Bewegung weder Lob noch Einladung von Minister*innen braucht: Was sie fordert, ist eine schnell umgesetzte und radikal neue Klimapolitik. Das in der Tradition der Situationisten stehende Kollektiv Richtung22 reflektiert über die wahrnehmungsverändernde Kraft von Kunst, warnt aber zugleich vor der Vereinnahmung der Kunst durch Ökonomie und Politik. Gedanken, die erstaunliche Parallelen zu den literatur- und kunsttheoretischen Debatten von 68 aufweisen. Und Brice Montagne, der sich für DiEM25 engagiert und den wir um Reaktion u.a. auf Zitate von Hans Magnus Enzensberger und Herbert Marcuse gebeten haben, stellt fest, dass keine der etablierten Parteien wirkliche Antworten auf die sozialen und ökologischen Probleme unserer Zeit habe. Er plädiert für eine Neudefinition des Begriffs Bürger*in, die er gekoppelt sieht mit der Notwendigkeit der Überwindung unserer, in seinen Augen, nicht funktionierenden repräsentativen Demokratie. Dem „Volk“ die direkte Macht zu geben, statt es repräsentieren zu lassen, ist auch eine Forderung der französischen Gilets Jaunes, die in gleich zwei Beiträgen unseres Dossiers eine Rolle spielen.

Der Protest der Abgehängten

Im Spannungsfeld zwischen Anarchismus und Rechtspopulismus untersucht die Bielefelder Zeithistorikerin Ingrid Gilcher-Holtey die französischen Gilets Jaunes. In ihrer auf zwei Teile angelegten Analyse macht sie im Auftakt deutlich, dass die Protestierenden den Glauben an ihre Repräsentant*innen verloren haben, die in ihren Augen mit einer neoliberalen Deregulierungspolitik daran arbeiten, ihnen das ohnehin schon schwere Leben noch unerträglicher zu machen. Dagegen setzen sie sich selbst als wahre Vertreter*innen des französischen Volkes. Dass damit die Tür zum Rechtspopulismus aufgestoßen wird, stellt Gilcher-Holtey ebenso fest. Das trifft natürlich nicht auf alle Gilets Jaunes zu. Dass sie so schwer auf den Punkt zu bringen sind, hat jedoch auch mit ihrer Ablehnung des Repräsentationssystems zu tun. Sie haben keine Sprecher*innen, niemanden, der die Richtung vorgibt. Und so kommt es vor, dass man antisemitische Parolen einiger Gilets Jaunes hört, die die billigsten vorstellbaren Klischees des kapitalistischen Juden aufrufen. Diese Bewegung stellt die Summe verschiedener Unzufriedener dar, die uns sicherlich noch einige Zeit beschäftigen werden. Auch Michel Cames verweist auf das fehlende Repräsentationssystem der Gilets Jaunes in seinem Vergleich der deutschen, französischen und luxemburgischen Protestkulturen, indem er historisch ausholend das Protestpotenzial in den drei Ländern analysiert. Mit Sorge blickt er auf die zunehmende Kluft zwischen kosmopolitischem Protest, wie den der Klimaschützer*innen, und partikularistisch motiviertem Protest, wie etwa den der Gilets Jaunes, und fordert den Dialog, bevor es zur Radikalisierung rechten Protestes kommt. Denn auch das machen die Analysen von Gilcher-Holtey und Cames deutlich: Dass die Gilets Jaunes zum Teil gegen eine Klimapolitik sind, wie sie von Youth for Climate gefordert wird, macht sie nicht nur zu Gegnern der französischen Regierung, sondern auch zu Gegnern von Youth for Climate. Protest kann sich nämlich auch gegen Protest richten.

Ästhetischer Protest

Immer schon haben Protesttendenzen in der Gesellschaft auch die Künste beschäftigt. Wer kein l’art pour l’art betreibt, wer sich als Künstler in die gesellschaftlichen Debatten seiner Zeit einmischt, kann nicht anders, als sich entweder zu Protestphänomenen zu verhalten oder diese sogar aktiv anzustoßen. Pierre Bourdieu nannte das Zwang zur Stellungnahme. Als Beispiel für ästhetischen Protest hat für unser Dossier Ainhoa Achutegui einen Beitrag über die luxemburgische Performance-Künstlerin Deborah De Robertis beigesteuert, die mit spektakulären Auftritten in der Tradition feministischer Aktionskunst etwa von VALIE EXPORT seit Jahren gegen patriarchalische Strukturen arbeitet und auf die Unterdrückung und systematische Ausgrenzung von Frauen aufmerksam macht. Wie gefährlich ihr Protest ist, merkten wir in der Redaktion, als auf unsere Bitte, uns Fotos zur Verfügung zu stellen, tagelang keine Antwort kam. De Robertis war in der Zwischenzeit verhaftet worden. Warum, lesen Sie in dem Artikel von Achutegui. Und dass De Robertis mittlerweile glücklicherweise wieder auf freiem Fuß ist, davon zeugen die beeindruckenden Fotos, die wir im Artikel abdrucken können.

Widerstand in der Diktatur

Neben den Analysen und Stellungnahmen zu Protestaktionen in demokratischen Gesellschaften beleuchten wir aber auch, was es bedeutet, Widerstand in einer Diktatur zu üben. Elisabeth Hoffmann vom Musée national de la Résistance in Esch-sur-Alzette präsentiert eine Typologie der Formen von Widerstand, die sie an Beispielen aus dem nationalsozialistisch besetzten Luxemburg illustriert. Sie zeigt ferner, welche Bedeutung dem Widerstand in der kollektiven Nachkriegserinnerung zukam und wie diese Erinnerung zur nationalen Legitimierung nach Ende des Zweiten Weltkriegs instrumentalisiert wurde. Frank Schroeder, Direktor des nämlichen Museums, reflektiert über die Herausforderungen, vor denen ein Widerstands-Museum heute steht und berichtet von der allmählichen Erweiterung dessen, was im Museum gezeigt wird. Auf einen sehr wichtigen Punkt weist er hin: Der Begriff des Widerstands wird missbraucht. Nicht nur, aber auch von sehr rechter Seite. Wir sollten also stets genau auf den Wertbezug achten, wenn protestiert und Widerstand geübt wird. Geschieht dies unter Berufung auf die Menschenrechte, oder versteckt sich dahinter eine Agenda, mit der Andersdenkende, muslimische oder jüdische, kritisch denkende Menschen ausgegrenzt werden sollen?

Wir hoffen, Ihnen nicht nur eine spannende, sondern vielleicht ja sogar Protest anregende Lektüre mit dem vorliegenden Dossier an die Hand zu geben. Für den Fall, dass Sie zu denjenigen gehören, die beim Lesen gern Musik hören, sei auf unsere Playlist verwiesen, die Sie ab sofort auf unserem neuen YouTube-Channel finden. Sie kommen über unsere Homepage dorthin. Auf dem Kanal haben wir einige der besten Protest-Songs der Musikgeschichte versammelt.

  1. Wolfgang Kraushaar, „Einleitung“, in: Ders., Die Protest-Chronik 1949–1959. Eine illustrierte Geschichte von Bewegung, Widerstand und Utopie, Bd. 1, Hamburg, Rogner & Bernhard, 1996, S. 9-18, hier S. 13.
  2. Dieter Rucht, Modernisierung und neue soziale Bewegungen. Deutschland, Frankreich und USA im Vergleich, Frankfurt/Main, Campus, 1994, S. 338f.
  3. Joachim Raschke, Soziale Bewegungen. Ein historisch-systematischer Grundriß, Frankfurt/Main, New York, Campus, 1988, S. 122f.
  4. http://www.bpb.de/apuz/186866/was-ist-widerstand?p=all (letzter Aufruf: 1. Juni 2019).
  5. Rudi Dutschke, „Die geschichtlichen Bedingungen für den internationalen Emanzipationskampf“, in: Uwe Bergmann et al., Rebellion der Studenten oder Die neue Opposition, Reinbek, Rowohlt, 1968, S. 85-93, hier S. 85.
  6. https://www.rbb24.de/politik/beitrag/2018/12/versammlungen-demos-berlin-protest.html (letzter Aufruf: 1. Juni 2019).
  7. Raschke, Soziale Bewegungen, a.a.O., S. 187.
  8. Ingrid Gilcher-Holtey, „1968 – War da was?“, in: Udo Wengst (Hg.), Reform und Revolte. Politischer und gesellschaftlicher Wandel in der Bundesrepublik Deutschland vor und nach 1968, München, Oldenbourg, 2011, 103-120, hier S. 113f.
  9. https://www.zeit.de/2019/12/heimat-begriff-globalisierung-nationalstaaten-herausforderung (letzter Aufruf: 2. Juni 2019).

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