Im Wald, da sind die Wahrheiten

Eine Ausstellung in Lorentzweiler will stören

Von den Brüdern Grimm bis zu David Lynch: Der Wald war stets ein Ort des Geheimnisses, auch ein Ort des Grusels. Wurde er der Stadt oder dem Dorf entgegengesetzt – man denke nur an Dürrenmatts Das Versprechen –, so war er es, in dem das Verbotene geschah. Die Kulturkommission der Gemeinde Lorentzweiler aber hatte sich jüngst dafür entschieden, in ihrem Wald Wahrheiten zu verkünden.

Das irritiert zunächst, denn bei Wahrheiten denkt man an Labore oder Schreibtische, nicht aber an den Wald. Es gewinnt aber an Plausibilität, wenn man sich den kompletten Titel der Ausstellungsreihe ansieht, die ab nun alle zwei Jahre in Lorentzweiler stattfinden soll: Störende Wahrheiten. Vielleicht also, so denkt man sich noch vor dem Besuch der Lorentz­weiler-Biennale, muss man in den Wald gehen, um Wahrheiten zu entdecken, die einem im Alltag nicht begegnen: verborgene Wahrheiten, die stören. Noch mehr Plausibilität gewinnt der Wald als Ort der Kunst, wenn man sich das Thema der Auftaktausstellung vergegenwärtigt: Anthropozän. Wenn also in einer Ausstellung zeitgenössische künstlerische Positionen zu einem Thema versammelt sind, das vom Einfluss des Menschen auf seine Umwelt handelt: Dann ist der Wald nicht der schlechteste Ort.

Zwischen dem 28. September und dem 30. November wurden fünf Installationen von Künstler*innen aus Luxemburg im Wald von Lorentzweiler präsentiert. Beeindruckend ist gleich am Anfang die Soundinstallation von Edmond Oliveira, Fade Out/In Reality. Nach einem kleinen Fußmarsch gelangt man zu einem Tümpel. Dort angekommen hört man eine Stimme, wenn man verharrt und sich ein wenig Zeit nimmt, hört man drei. Es ist zum einen die Stimme des Aktivisten Brice Montagne, der Anfang des Jahres voller Wut die luxemburgischen Parlamentarier*innen fragte, ob sie den Bericht des Weltklimarates gelesen hätten. (Keiner hatte das.) Davon inspiriert entstand die Idee zu Oliveiras Installation. Also bat der Künstler die Journalist*innen Peter Feist und Marie-Anne Lorgé darum, jeweils einen Auszug (Feist auf Deutsch, Lorgé auf Französisch) aus dem Bericht zu lesen. Kombiniert wurden die drei Sprachspuren mit den Geräuschen von Vögeln und vorbeifahrenden Autos. Und ja, es entsteht eine Irritation, eine Störung. Feist liest den IPCC-Sonderbericht wie einen Roman, mit angenehm tiefer und sonorer Stimme. Der trockene Bericht gewinnt gerade durch den Kontrast zu Feists Märchenleserstimme an Dringlichkeit. Der zweite Kontrast, der zwischen Vogel- und Autostimmen, wirkt nicht minder alarmierend. Der Blick auf den Tümpel schmerzt. Wir hören den Bericht über die Klimakrise, und wir sehen das, was verlorengehen wird, sollten wir nicht schnell etwas ändern.

Auch die anderen Kunstwerke konnten beeindrucken. Eric Schumachers Boiler ist das Foto eines qualmenden Grills an einer Litfaßsäule und erinnert an unseren pervertierten Fleischkonsum. Katarzyna Kot-Bachs Die Quadratur des Kreises, ein aus Holz gewobener roter Kreis und ein schwarzes Quadrat, hängen mahnend in den Bäumen und verweisen auf die Konfrontation zwischen Natur und sogenannter Zivilisation. Mary-Audrey Ramirez’ Bunker besteht aus einer in den Waldboden eingelassenen Kammer, in die man blicken und hineinrufen kann, wenn man die verschließende Klappe hebt. Leider hatte das Kunstwerk unter den Witterungsbedingungen gelitten und war beschädigt. Das ist einerseits schade und nachlässig, andererseits ein interessantes Zeichen dafür, wie es der Natur gelingen konnte, verstörend einzugreifen. Und schließlich hingen dann auch noch die Fahnen von Martine Feipel und Jean Bechamel in den Bäumen, Bekenntnisse im Mondschein, auf denen Informationen zur menschengemachten Umweltzerstörung standen und die, wie sie so im Wind wehten, an den aktivistisch-revolutionären Kampf der internationalen Klimaschutzbewegungen erinnerten.

Das alles konnte überzeugen. Mehr sogar als die (wenigen) auf das Anthropozän bezogenen Pavillons der diesjährigen Kunst-Biennale in Venedig. Aber, die Frage, die sich Lorentzweiler gefallen lassen muss: Ist das, was die Künstler*innen im Wald präsentierten, wirklich störend? Der Anspruch, der sich im wunderschön gestalteten Ausstellungskatalog artikuliert, ist hoch: Kurator René Kockelkorn spricht davon, die „gewöhnliche Denkweise“ verändern zu wollen. Aber, bezogen auf das Anthropozän, liegt die Konfliktlinie ja eher bei den Maßnahmen, die gegen Klimawandel und Artensterben einzuleiten sind, als bei der Frage, ob wir überhaupt von einer menschengemachten Klima- und Umweltkrise sprechen können. Der Konsens darüber, dass wir uns in einer solchen befinden, ist mittlerweile so gefestigt, dass sogar das Europäische Parlament in der letzten Novemberwoche den Klimanotstand ausgerufen hat. Sind die in Lorentzweiler präsentierten Wahrheiten also wirklich störende?

Wohl nicht. Es sind künstlerisch außer­ordentlich gut umgesetzte Positionen, aber sie stören hier in Luxemburg niemanden. Sie stimmen den einen oder die andere vielleicht nachdenklich, aber sie lösen keine Revolution aus, nicht einmal eine Wahrnehmungsrevolution. Das ist auch nicht weiter wild, das muss Kunst auch nicht, aber den Anspruch der Ausstellung lösen sie nicht ein. Wenn die Lorentzweiler Kulturkommission um Präsident Paul Bach im kommenden Jahr die Ausschreibung für Störende Wahrheiten 2021 lanciert, könnte sie sich vielleicht ein Thema ausdenken, das kontroverser ist: Zum Thema Meinungsfreiheit ließen sich in Luxemburg sicherlich störendere Wahrheiten präsentieren als zum Thema Anthropozän. Und auch der Aspekt der Nachhaltigkeit könnte in zwei Jahren überdacht werden. Münster mit den Skulpturenprojekten, die alle zehn Jahre stattfinden, oder Kassel mit der im Fünfjahresrhythmus organisierten documenta machen vor, wie besonders eindrückliche Kunstwerke im öffentlichen Raum fortexistieren, lange nachdem das Kunstspektakel beendet ist. Die Objekte der Anthropozän-Ausstellung werden, während Sie diese Zeilen lesen, entfernt.

Und dennoch ist es gut, dass es diese Biennale nun in Lorentzweiler gibt. Sie ist radikal niedrigschwellig konzipiert: Ohne Eintritt zu bezahlen, konnte jede*r sie besuchen. Die Qualität der präsentierten Einzelpositionen war hoch. Das verspricht einiges für die Zukunft. Und es ist zu wünschen, dass der Ausstellungsort der gleiche bleibt: Nicht nur, weil er eine Aura besitzt, die weder das Mudam noch das Casino noch das Gemeindehaus in Lorentzweiler bieten, sondern weil er gleichzeitig Hauptkünstler*in und Hauptkunstwerk dieser Ausstellung war: der Wald, der dunkle, tiefe, erschreckende und gleichzeitig schöne und Heilung versprechende Wald. Der Wald, in dem Wahrheiten verborgen sind. Hoffen wir darauf, diese Wahrheiten in zwei Jahren dort entdecken zu können. Und hoffen wir darauf, dass sie uns dann nachhaltig stören.

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