Der aktuelle Vorschlag zur Verfassungsreform bringt keine Revolution mit sich. Es ist ein in langwieriger Kleinarbeit ausgearbeiteter Konsens-Text, zwischen minimalistischer luxemburgischer Verfassungstradition, Emanzipation des Parlaments und direktdemokratischer Innovation. Die demokratische Modernisierung Luxemburgs hängt aber keineswegs nur von der Verfassung ab.
Mit an vielen Stellen wenig detaillierten Vorgaben überlässt die aktuelle Verfassung dem Parlament, der Regierung oder dem Staatsrat einen großen politischen und juristischen Spielraum. Auch der neue Entwurf bricht nicht mit dieser „pragmatischen“ luxemburgischen Tradition, modernisiert den alten Text aber deutlich. Er passt die Verfassung an die aktuelle Praxis an, streicht veraltete Passagen und fügt neue Elemente hinzu.
In Luxemburg wurde es lange Zeit nicht als notwendig erachtet, die zahlreichen veralteten bzw. in der Praxis nicht mehr angewandten Verfassungsartikel abzuändern. Ab den 1980er Jahren wurde die Diskrepanz zwischen Text und Praxis aber zu einem wachsenden Problem, und die Verfassung musste seither verhältnismäßig oft – und manchmal dringend – in einem oder mehreren Punkten angepasst werden. In diesem Sinne wurde im Dezember 2003 auch die Änderungsprozedur selbst deutlich vereinfacht. Seither schreibt die Verfassung bei Änderungen keine Neuwahlen mehr vor, sondern lediglich verschärfte Abstimmungsregeln.
Ziel der anstehenden Revision ist es, die luxemburgische Verfassung in ihrem gesamten Inhalt und in ihrem Aufbau zu modernisieren und an das 21. Jahrhundert anzupassen. Eine solche Modernisierung hat direkte Auswirkungen auf eine sehr große Anzahl nationaler Gesetze und kann nur abgeschlossen werden, wenn eine Zweidrittelmehrheit der Abgeordneten und eine möglichst breite Mehrheit der Bevölkerung hinter dem Text steht. Es ist somit keine Überraschung, dass bereits seit fast 15 Jahren an diesem überaus komplexen Unterfangen gearbeitet wird.
Von Anfang an waren die Autoren des Vorschlags darum bemüht, diese große Verfassungsrevision aus parteipolitischen Überlegungen herauszuhalten und sie in einem parteiübergreifenden Konsens, über die Zweidrittelmehrheit hinaus, auszuarbeiten. Das wird aber nur funktionieren, wenn sämtliche Parteien bereit sind, Kompromisse einzugehen. In diesem Sinne fanden auch aus grüner Sicht einige wichtige Modernisierungen – wie etwa eine Reform des Wahlsystems – in den letzten Jahren leider keine Zweidrittelmehrheit.
Konsens aufgekündigt?
Der fraktions- und parteiübergreifende Konsens wurde am 2. Juli 2019 von der CSV medienwirksam aufgekündigt, nachdem die parlamentarischen Arbeiten – in Erwartung einer weiteren Stellungnahme des Staatsrates – bereits provisorisch abgeschlossen und die Vorbereitungen für eine landesweite öffentliche Informations- und Konsultationskampagne mit möglichst vielen BürgerInnen angelaufen waren.
Die CSV argumentierte, dass der vorliegende Entwurf noch nicht fertig sei, da verschiedene Parteien ja noch andere Wünsche hätten, brachte ein zusätzliches Referendum mit inhaltlichen Fragen ins Spiel und deutete an, die neue Verfassung andernfalls im Parlament zu blockieren. Die Verfassungsreform drohte also vor der Sommerpause doch noch zu einem parteipolitischen Streitpunkt zu werden.
Man kann aber davon ausgehen, so zumindest meine Hoffnung, dass d‘Zopp net esou waarm giess gëtt, wéi se gekacht gëtt. Auch die CSV weiß nämlich, dass es ansonsten – schlimmstenfalls – wieder Jahre dauern könnte, bis ein Konsens zu neuen oder geänderten Artikeln steht. Aus meiner Sicht wäre es auf jeden Fall unverantwortlich, diese wichtige und längst überfällige Verfassungsreform aus parteipolitischem Opportunismus zu opfern.
Deutlich mehr als halb voll
Der neue Entwurf bringt auch ohne ein weiteres Referendum zu strittigen Fragen, wie z.B. der Einführung eines einzigen Wahlbezirkes, bereits wichtige demokratische Fortschritte mit sich. Er ist, wie eingangs erwähnt, sicherlich keine Revolution und könnte aus grüner Sicht an vielen Stellen progressiver formuliert sein, doch es geht inzwischen um deutlich mehr als um eine nur kleine Evolution des Textes von 1868. Mit der ersten Version des aktuellen Verfassungsvorschlags (2009) war das Glas noch halb leer. Inzwischen ist es definitiv mehr als halb voll.
Für déi gréng sollte nun die nächste Etappe vorbereitet werden, d.h. die Organisation einer breiten mehrmonatigen öffentlichen Informations- und Diskussionskampagne durch das Parlament. Alle interessierten BürgerInnen sollen, wie geplant, 2020 nochmals die Möglichkeit erhalten, sich aktiv einzubringen. Eine erste Bürgerkonsultation zur Verfassung hatte es online im Jahr 2015 im Vorfeld des damaligen Referendums gegeben. Auf Basis der Ergebnisse der neuen Diskussionen soll der Verfassungsentwurf dann ein letztes Mal vom Parlament überarbeitet werden. Abschließend ist es dann wieder an den BürgerInnen, per Referendum zu entscheiden, ob sie die neue Verfassung mehrheitlich gutheißen oder doch lieber bei der alten Verfassung bleiben möchten.
Signifikante Stärkung des Parlaments
Als Co-Berichterstatter des neuen Verfassungsentwurfes für die Bereiche „Parlament“ und „Staatsrat“ möchte ich hier nur einige der wichtigsten demokratischen Fortschritte erwähnen. Das größte Novum für die BürgerInnen ist sicherlich die Einführung einer direkt-demokratischen Bürgerinitiative zum Einreichen eigener Gesetzesideen, während die Abgeordneten ihrerseits mit einem reformierten Untersuchungsausschuss ein deutlich schärferes Schwert zur demokratische Kontrolle der Regierung erhalten (eine Eindrittelminorität reicht aus). Anderseits dürfen die frisch gewählten Abgeordneten die Rechtmäßigkeit ihrer Wahl nicht länger alleine validieren. Über Rekurse gegen diese Wahlvalidierung soll in Zukunft der Verfassungsgerichtshof entscheiden.
Der Entwurf schafft die Parlamentsauflösung durch die Exekutive bzw. den Großherzog ab und erlaubt nur noch die Fixierung von Neuwahlen auf Basis einer mehrheitlichen Entscheidung des Parlaments. Laut neuem Text darf nun auch die Chamber dem Staatsrat juristische Fragen unterbreiten. Dessen Mission wird genauer definiert und von der Exekutive entkoppelt.
Im Verfassungsausschuss konnten wir uns vor der Sommerpause, auf meine Initiative hin, auf einen neuen ambitionierten Artikel zur Rolle des Parlaments einigen. Der Text begründet nun explizit die Kontrollfunktion der Chamber gegenüber der Regierung, hält fest, dass die Regierung die Pflicht hat, auf Fragen der Abgeordneten zu antworten und gewährt dem Parlament ein generelles Recht auf Information, um seinen Missionen gerecht zu werden. Zudem erhält jeder Abgeordnete das verfassungsmäßige Recht, eigene Gesetzestexte einreichen zu können. Momentan erlaubt dies nur die Hausordnung der Chamber, welche die politische Mehrheit aber jederzeit ändern kann. Diese Neuerungen sind nur eine kleine Auswahl, doch sie zeigen, dass das „Verfassungsreform-Glas“ wirklich voller geworden ist.
Wahlrecht als eigene Reformbaustelle
Wie nach den meisten Wahlen wurden auch nach den letzten Parlaments- und Kommunalwahlen wieder Stimmen laut, die unser Wahlsystem als veraltet und ungerecht kritisieren. Seit 2013 hat diese Diskussion allerdings an Stärke gewonnen und auch ihren Niederschlag im aktuellen Koalitionsprogramm gefunden.
Eine Wahlrechtsreform ist allerdings ein sehr komplexes Unterfangen. Mit ein oder zwei Ja/Nein-Fragen ist es hier keineswegs getan. Denn jede Antwort zieht wieder zahlreiche andere politische und technische Fragen nach sich und würde die Fertigstellung der neuen Verfassung um Jahre verzögern. déi gréng plädieren deshalb dafür, die Wahlrechts-Reform getrennt in Angriff zu nehmen. Hier könnte ich mir auch vorstellen, dass die bisherigen verfassungsgebundenen Details zum Wahlsystem, insbesondere die Aufteilung in vier Wahlbezirke und deren kantonale Zusammensetzung, ins Wahlgesetz ausgelagert werden und dieses anschließend als Spezialgesetz nur noch mit einer Zweidrittelmehrheit geändert werden kann. Auch ein eigenes Referendum zu dieser Wahlrechtsreform könnte ich mir vorstellen.
Vor allem geht es bei der Überarbeitung des Wahlrechts aber nicht nur um eine Verfassungsänderung, sondern auch um zahlreiche andere modernisierungsbedürftige Punkte. Ich bin überzeugt, dass es in den kommenden Jahren noch etliche Änderungen geben wird: Trennung der kommunalen und nationalen Mandate, Einführung des Vollzeit-Abgeordneten, Digitalisierung der Wahlen, stärkere Professionalisierung/Standardisierung der Wahlbüros, kürzere Fristen bei der Briefwahl, Wählerlisten-Einschreibung für EU-BürgerInnen, deontologische und finanzielle Gesetzesregeln für Wahlkampagnen u.v.m. Ich könnte mir auch vorstellen, dass die aktuelle Geschlechterquote für Wahllisten irgendwann als formelle Bedingung ins Wahlgesetz übernommen wird. Und auch die Referendumsfragen von 2015 werden weiter diskutiert werden, wie die rezente Resolution des Jugendparlamentes zum Wahlrecht zeigt.
Demokratische Modernisierung weiterführen
Vor 100 Jahren wurde das allgemeine Wahlrecht eingeführt. Damit wurde die Wahlurne bzw. die Wahl ihrer Volksvertreter zur politischen Partizipationsmöglichkeit aller BürgerInnen. In den letzten Jahrzehnten wurden aber immer wieder Forderungen nach mehr Mitbestimmung der BürgerInnen laut, welche 1983 auch zur Gründung der grünen Partei beigetragen haben.
Heute existieren viele andere Instrumente der direkten und indirekten Bürgerpartizipation, wie etwa nationale und kommunale Referenden, verschiedene Petitionsmöglichkeiten, Bürgerforen, beratende Kommissionen, das politische Engagement in Parteien, Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen bzw. der organisierten Zivilgesellschaft und sogar ein Jugendparlament! Und mit dem neuen Verfassungstext käme noch eine gesetzgeberische Bürgerinitiative hinzu.
Die Modernisierungsbemühungen dürfen sich deshalb nicht auf die Verfassung beschränken. Es gilt auch den restlichen Handlungsspielraum zu nutzen und, wie der Mouvement Écologique im Februar dieses Jahres seine Stellungnahme betitelte, die Rolle der Abgeordnetenkammer als Bürgervertretung aufzuwerten.
Einerseits gehört dazu eine offene Gestaltung der parlamentarischen Arbeit gegenüber den BürgerInnen. Hier ist der Umgang mit den zivilgesellschaftlichen Stellungnahmen im Rahmen der legislativen Prozedur sicherlich verbesserungswürdig. In der parlamentarischen Praxis wird unter Zeitdruck leider allzu oft nur über die Stellungnahme des Staatsrates diskutiert, und die Positionspapiere der anderen Akteure finden dann keine Erwähnung in den schriftlichen Berichten. Für die zivilgesellschaftlichen Akteure bzw. die engagierten BürgerInnen ist der Impakt ihrer Arbeit somit recht schwer nachzuvollziehen. Hier könnte man z.B. den Stellungnahmen der repräsentativen Organisationen, neben denen des Staatsrates und der Berufskammern, ein formelles Kapitel im schriftlichen Bericht widmen, wobei dem Berichterstatter hierbei eine besondere Rolle zukommen könnte.
Andererseits setzt die Einbindung der interessierten Zivilgesellschaft auch eine Stärkung der parlamentarischen Arbeitsmittel und eine Professionalisierung des Abgeordnetenmandats voraus. Die 60 Mitglieder müssen auf genügend Parlaments- und Fraktionsmitarbeiter zurückgreifen können, sowie, falls notwendig, auf interne und externe Experten. Während sich die Parlamentsverwaltung innerhalb von 15 Jahren nahezu verdoppelt hat, sind die Personalmittel der Abgeordneten bzw. der Fraktionen fast gleichgeblieben. Zusätzliche Zeit und Hilfe sind aber unumgänglich, um eine bessere parlamentarische Arbeit zu garantieren und um das Ungleichgewicht zwischen Exekutive und Legislative zu beheben.
Das Abgeordnetenmandat ist offiziell nur ein Halbtagsjob. Da die Zahl von 60 Abgeordneten wohl auf absehbare Zeit nicht erhöht wird, sollte zumindest das Zeitkontingent auf 40 Wochenstunden erhöht werden. Das Abgeordnetenmandat muss ein Vollzeitjob werden und nicht länger mit der Funktion von Bürgermeister oder Schöffe kombinierbar sein.
Als Budgetberichterstatter im Dezember 2015 und besonders als Verfasser eines Spezialberichts über Klima und Energie im Vorfeld der Pariser Klimakonferenz, hatte ich als Abgeordneter erstmals die Gelegenheit, mich von externen Beratern begleiten zu lassen. Dadurch konnte ich maßgeblich eine Diskussion mit anstoßen, die zur Entscheidung führte, die Parlamentsverwaltung mit zusätzlichen Fachbeamten aufzustocken.
Auch sollten alle Abgeordneten meiner Meinung nach das Recht bekommen, von eigenen Beratern bzw. Mitarbeitern in die Kommissionssitzungen begleitet zu werden. Dieses Privileg sollte nicht länger auf Minister beschränkt bleiben. Seit kurzem können deshalb zumindest die Berichterstatter von Gesetzestexten ihre persönlichen Mitarbeiter in die Kommissionssitzungen mitnehmen.
Eine neue Verfassung für Luxemburg ist unumgänglich
Die demokratische Modernisierung Luxemburgs hängt also wie hier beschrieben keineswegs nur von der neuen Verfassung ab. Dennoch ist die Verfassung das Fundament eines modernen Rechtsstaates und sollte die Realität des politischen und gesellschaftlichen Lebens widerspiegeln, die auf der Gewaltenteilung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative beruht. Es wird daher höchste Zeit, unsere alte und aktuelle Verfassung – nach 15jähriger Debatte – den modernen rechtsstaatlichen Gepflogenheiten anzupassen.
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