381_CindrakNoch nie in der Geschichte der Menschheit wurde soviel geschrieben wie heute“, hieß es schon 2010. Grund dafür: die Nutzung moderner Medien, die Konsequenz: Sprachwandel, Leidtragender: der Literaturmarkt – ein ebenso einfacher wie überstrapazierter Befund. Dass wo geschrieben wird, wie und worüber geschrieben wird, grundlegend verändert hat, ist keine Frage mehr, sondern eine wissenschaftliche und marktwirtschaftliche Binsenweisheit. Die Einsicht aber, dass im medialen Raum die Distanz zwischen Produzent und Endverbraucher immer kürzer wird, musste dazu führen, dass der Markt verbraucherorientierter wird und dem Lese- und Konsumverhalten des Verbrauchers, seiner kurzen Aufmerksamkeitsspanne und seiner Bequemlichkeit Rechnung trägt. Soziale Medien haben insofern an dieser „Bewegung zum Kunden“ beigetragen, als sie eine neue Sichtbarkeit für alternatives, kreatives Potenzial generieren konnten, das zumindest innerhalb der Literatur die Vormachtstellung und das Urteil des konventionellen Literaturbetriebs darüber, welcher Text es wert ist und überhaupt jemals das Licht der Welt erblicken darf, herausfordert.

r.m. drake, Nayyirah Waheed, Warsan Shire und nicht zuletzt die „Instapoetin“ Rupi Kaur sind die Namen derer, die es verstanden haben, aus einer Alternativnische kommerziellen Erfolg und aus sich selbst eine Marke zu machen. Sie gehören einer Generation von Schreibenden und Künstlern an, die nicht mehr darauf wartet, entdeckt oder vermittelt zu werden, sondern sich selbst Sichtbarkeit verschafft. Allen voran die kanadische Dichterin indischer Herkunft, die es nicht nur geschafft hat, mit ihrem Erstlingswerk über Wochen und Monate die Spitze der New York Times-Bestsellerliste anzuführen, sondern mit der Poesie eine Literaturgattung wieder populär zu machen, die selten bis kaum noch den Weg über die Ladentheke schafft. Dass ihr Lyrikband Milk and Honey ursprünglich 2014 im Selbstverlag bei Amazon erschienen ist, bevor er nur neun Monate später von Andrew McMeel Publishing verlegt wurde, ist Teil der Erfolgsgeschichte der Selfmade-Autorin und Illustratorin, die hauptsächlich durch die Fotoplattform Instagram auf sich aufmerksam machte, indem sie Auszüge aus ihrem Gedichtband abfotografierte und ihre Texte in Fotoformat veröffentlichte. Mit ihren kurzen Texten, die sich wie Gedankenfragmente über wenige Zeilen erstrecken und weitgehend auf Interpunktion, korrekte Groß- und Kleinschreibungsregeln, Reime und sogar Titel verzichten, setzt die Künstlerin auf eine Ästhetik des Minimalismus in Schwarz-weiß, die gerade soviel Text liefert, wie es das quadratische Bildformat auf dem Instagram-Feed erlaubt. Visuell werden ihre Gedichte durch filigrane Skizzen unterstützt, die die Künstlerin ebenfalls selbst anfertigt. Ihre Sprache ist einfach, aber ausdrucksstark. Ihr Stil stellenweise holprig, dafür aber authentisch. Und obwohl ihre Gedichte nicht immer das gleiche hohe Niveau aufweisen, lässt sich die Tiefe und Relevanz ihrer Themen über Körperwahrnehmung, Missbrauch, Feminismus und Rassismus kaum abstreiten. Kaur setzt auf Identifikation durch Themen, die ihre Generation beschäftigen und eine authentische Ausdrucksweise, die vielen aus der Seele spricht. So gelang es ihr, eine junge, vorwiegend weibliche Studierendengeneration der Twentysomethings zu erreichen und eine stabile und vor allem treue Community aufzubauen.

Kaur gehört einer Generation von Schreibenden an, die etwas zu sagen haben und gehört werden wollen, ohne ihre Gefühle in abstrakte Metaphern und hochtrabende Allegorien und artifizielle Sprachkonstrukte hüllen zu müssen. Ihre Texte entfernen sich nie vom Leser, sondern kommen ihm entgegen, weil ihre Leser nicht nach Antworten suchen, sondern sie finden wollen. Ihre Lyrik ist direkt, schonungslos offen und auf den Punkt gebracht. Interpretationsspielräume löst sie meist selbst durch einen kurzen Schlusssatz auf, der das Geschriebene in einen Kontext setzt und ihren Lesern so Anhaltspunkte bietet, um sich in ihren Texten zurechtzufinden. Das Konzept geht deshalb auf, weil die junge Künstlerin es nicht nötig hat, sich literarisches Können, sprachliche Affinität und Schreibgewandtheit durch das Gütesiegel der professionellen Literaturkritik und Rezension attestieren zu lassen. Sie, deren Arbeit bekannt geworden ist, bevor sie überhaupt gedruckt wurde, hat ihr Publikum selbst mitgebracht. In ihrem Fall hat die Nachfrage nach ihr das Angebot der Verlage an sie bestimmt. Auf Instagram hat Rupi Kaur inzwischen 2,1 Millionen Anhänger.

Kaur hat es verstanden, ihren Foto-Feed auf dem einflussreichen sozialen Netzwerk nicht nur dazu zu nutzen, Auszüge aus ihrem Werk zu veröffentlichen, zu promoten oder werbewirksame Ankündigungen zu machen und mit ihren Lesern zu interagieren, sondern ihr Image nach außen bewusst zu steuern und aktiv mitzugestalten. Auf der Plattform reflektiert die Künstlerin, die sich innerhalb des professionellen Literaturbetriebs als Underdog positioniert, über ihr Werk und verleiht ihrem Schreiben dadurch Nachdruck, dass sie sich selbst in einen politischen Kontext einzuschreiben weiß.

Im Post vom 6. August 2015, in dem Kaur bekannt gibt, dass ihrem Buch durch die Partnerschaft mit dem etablierten und anerkannten Verlag McMeel Publishing endlich der Sprung zu allen großen Buchhandlungen und Vertreibern gelungen ist, zieht Kaur Bilanz über den Literaturbetrieb:

„every institution i submitted to rejected the work bc it did not fit their brand. there was no market for poetry about trauma abuse loss love and healing through the lens of a punjabi-sikh immigrant woman. so i decided to self publish. even though everyone said not to cause doing so would lock me out of prestigious literary circles“

Was Kaur hier potenziert, ist das Bild einer Außenseiterin in mehrfacher Potenz: Als Angehörige der indischen Punjabi-Sikhs, als Tochter indischer Einwanderer und als junge Frau sieht sie sich als Angehörige von Minderheiten, die ihre Stimme erhebt und ihren Finger instinktiv auf sensible Themen legt – eine „anti-establishment“-Rolle, die ihr auch der Guardian bescheinigt.1

Kaur hat ihren Erfolg nicht allein durch die Zweckentfremdung einer Fotoplattform als Werbefläche für Lyrik erreicht. Zum Netzphänomen wird die Künstlerin erst als sie eine Sexismus-Debatte in den sozialen Medien anzettelt, nachdem ein Foto von ihr, das im Rahmen eines Fotoprojekts entstanden war und sie schlafend im Bett mit einem Menstruationsfleck auf der Hose zeigt, von Instagram als Verstoß gegen die Nutzungsbedingungen gelöscht wurde. Dass das Foto, das die Menstruationsphasen der Frau dokumentieren sollte, nach mehreren Meldungen von anderen Nutzern wahrscheinlich automatisch vom Feed der Künstlerin entfernt wurde, war das Beste was ihr passieren konnte. Denn es erlaubte ihr, in einem Statement auf dem Mutterunternehmen Facebook die Doppelmoral der Nutzungsbedingungen sozialer Medien anzuprangern, die die Inszenierung und Pornifikation des nackten, weiblichen Körpers unterstützt, aber an einem sichtbaren Menstruationsfleck auf der Hose einer vollbekleideten Frau Anstoß nimmt. Der Vorwurf von Misogynie stand im Raum. Zu einer Zeit, in der die Frage nach Genderrollen, Feminismus, weiblicher Sexualität und der Stellung der Frau in der Gesellschaft bereits von neuer politischer Brisanz zu werden drohte. Nach einer großen Solidaritätswelle mit der Künstlerin musste das Medienunternehmen unter dem Druck der Öffentlichkeit schließlich zurückrudern und Kaurs Foto samt Statement wieder freischalten. Spätestens nach der öffentlichen Entschuldigung von Instagram wurde die mittlerweile fünfundzwanzigjährige Künstlerin das Vorbild all jener, die daran glauben (wollen), dass sie ihre freie Meinung öffentlich sagen dürfen und können, dass sich jeder gesellschaftliche Missstand aufdecken lässt und seinen Ausdruck in einem Hashtag finden kann, der das Potenzial hat, zu einer globalen Bewegung zu werden. Rupi Kaur hat mittlerweile Popstar-Status erreicht und kann von ihrem Schreiben sehr gut leben. Die hauptberufliche Vollzeit-Poetin tourt mittlerweile mit ihrer Lyrik um die Welt, gibt motivational speeches wie etwa bei TED Talks2 und hält Vorträge; die Karten zu ihren Lesungen sind binnen weniger Minuten ausverkauft.

Es bleibt fraglich, ob Rupi Kaur es schafft, die neue Wertigkeit, die sie ihrem Werk durch politische Relevanz verliehen hat, aufrecht zu erhalten. Ihre Bücher werden neben selbstreferenziellen Titeln wie Rowan Dobsons #Millenial Problems: Everyday Struggles of a Generation, Samantha Jaynes Quarter Life Poetry: Poems For The Young, Broke And Hangry oder Sarah Knights internationalem Bestseller The Life-Changing Magic of not giving a F**k von amerikanischen Bekleidungskonzernen wie Urban Outfitters als Lifestyle-Produkt angeboten.3 Vielleicht aber wird sich diese Frage am Erfolg ihres zweiten Buches The sun and her flowers (2017) beantworten lassen.

Am Beispiel dieser und ähnlich medial gehypten und kommerziell erfolgreichen Alternativliteraturen, sind wir im Dossier der Frage nachgegangen: Wo wird in Luxemburg geschrieben? Warum wird geschrieben und für wen wird geschrieben? Unsere Autoren erzählen aus unterschiedlichen Bereichen, wie sich ausgehend vom Text Nischenprojekte jenseits des klassischen Literaturbetriebs ergeben, wo Ideen einen Ort finden und Kreativität sich selbst ein Publikum sucht. Wir wollten wissen, welchen Stellenwert der geschriebene Text hat, wie die Tatsache wie und worüber geschrieben wird, die Ausrichtung des Produkts bestimmt und welchen literarischen Wert wir ggf. daraus ziehen können.

1. https://www.theguardian.com/books/2017/may/27/rupi-kaur-i-dont-fit-age-race-class-of-bestselling-poet-milk-and-honey
2.https://www.youtube.com/watch?v=RlToQQfSlLA
3.https://www.urbanoutfitters.com/de-de/books-stationery

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