Ist die Ausdrucksfreiheit in Luxemburg in Gefahr?

Anfang September erschien mein Beitrag über Intersex-Kinder in der Rubrik Analyse und Meinung des ‚Luxemburger Wort’. Im Beitrag wurde u.a. behauptet, dass es zwei biologische Geschlechter gibt und dass Intersex-Kinder anatomische Eigenschaften beider Geschlechter besitzen, so dass eine eindeutige biologische Zuordnung bei der Geburt nicht möglich ist. Desweiteren wurde darauf hingewiesen, dass man die objektiven Tatsachen bei der Intersexualität nicht mit dem rein subjektiven Gefühl beim Transgenderismus vermischen sollte. Hauptsächlich beschäftigte sich der Beitrag aber mit der Frage, wem die Entscheidungsmacht betreffend eine angleichende Operation zusteht, wobei sich für mich die Antwort „Die betreffende Person, wenn sie ein bestimmtes Alter und die gewöhnlich damit zusammenhängende Reife erreicht hat“ als die prima facie vernünftigste ergab.

Als ich den Beitrag verfasste, konnte ich mir nicht vorstellen, dass ich seinetwegen eine Rüge von allerhöchster akademischer Stelle erhalten würde. Einige Studierende der Universität Luxemburg hatten sich nämlich darüber beklagt, dass mein Beitrag sie in ihrer Sensibilität verletzt hatte. Diese Klage erreichte die oberste Etage und ich bekam vom Rektor einen Brief, in welchem ich gebeten wurde, in Zukunft klarzustellen, dass ich meine Beiträge in den Medien in meinem eigenen Namen veröffentliche.

© Carlo Schmitz

Ich kann mir nun nicht vorstellen, dass jemand so weltfremd ist, dass er aus der Angabe „professeur-associé de philosophie à l’Université du Luxembourg“ die Schlussfolgerung zieht, dass ich mich nicht in meinem eigenen Namen ausdrücke, sondern in demjenigen der Universität. Und ich bin nicht der einzige Intellektuelle, der sich in den Medien äußert und dabei angibt, dass er oder sie an der Universität Luxemburg lehrt. Und auch im Ausland ist das gang und gäbe. Soll fortan die Regel gelten, dass jede an der Universität Luxemburg dozierende Person immer klarstellen muss, dass sie in ihrem eigenen Namen spricht, wenn sie in den Medien interveniert?

Ende 2022 hatte ich schon einen Brief vom Centre pour l’Egalité de Traitement bekommen, in welchem mir vorgeworfen wurde, in einem im ‚Wort’ erschienenen Leserbrief „des propos qui pourraient laisser supposer une certaine homophobie“ gehalten zu haben. Man beachte die mehr als vorsichtige Formulierung. Entweder kann man mir Homophobie nachweisen, oder man kann es nicht, und wenn man es nicht kann, dann sieht man von einer Beschuldigung ab. Zumindest gilt das, solange man sich an rechtsstaatliche Regeln hält und einen Sinn für Gerechtigkeit hat. 

Weder im Brief der Universität noch im Brief vom CET gab es eine Angabe der genauen Passagen, die anrüchig gewesen sein sollen. Doch schlimmer noch scheint mir die Tatsache zu sein, dass man mir nicht die Möglichkeit gegeben hat, mich zu rechtfertigen, bevor man mir in beiden Fällen einen mehr oder minder versteckten Drohbrief schickte und mich dazu aufrief, eine Art Selbstzensur auszuüben. Hier wurden die Grundregeln eines fairen Verfahrens mit Füßen getreten. Es genügt fortan, dass eine Handvoll von Personen – im Fall des CET war es angeblich nur eine einzige Person – sich in ihrer Sensibilität verletzt fühlen, und schon wird man als Bösewicht dargestellt, so als ob fortan nicht mehr die objektiven Fakten, sondern nur noch die subjektiven Gefühle bestimmend sein sollen. Ich hatte dem CET übrigens einen Verteidigungsbrief zukommen lassen, aber bis heute warte ich auf eine Widerlegung der dort von mir vorgebrachten Argumente. Und auf eine Antwort des Rektors der Uni Luxemburg auf einen auch ihm geschickten Verteidigungsbrief warte ich ebenfalls noch. 

Wir sind allesamt Kinder einer Geschichte, die ihre schönen und nicht so schönen, ja gruseligen Seiten hat, und wenn wir einen Teil dieser Geschichte canceln, dann versperren wir uns damit den Zugang zu einem Teil unserer selbst.

Mag die cancel culture in Luxemburg noch keine so große Ausbreitung haben wie in den Vereinigten Staaten, so deutet doch einiges darauf hin, dass sie so langsam anfängt, auch in Luxemburg Fuß zu fassen. Ob und inwiefern die akademische Freiheit der Lehre auch dadurch bedroht ist, weiß ich nicht. Um dies festzustellen, hätte ich das mit den Intersex-Kindern in meinem Seminar „Ethique appliquée“ sagen müssen und die Studierenden, die eine Beschwerde bezüglich meines Wortbeitrages eingelegt haben, hätten sich auch im Publikum befinden müssen. Ich habe den Brief des Rektors übrigens den Studierenden meiner Vorlesung und meines Seminars vorgelesen und sie dazu eingeladen, direkt mit mir zu sprechen, wenn sie sich irgendwie in ihrer Sensibilität verletzt spüren sollten – nicht, damit ich mich direkt bei ihnen dafür entschuldige, sondern damit wir zunächst einmal genau sehen, ob es für mich einen rational vertretbaren Grund gab, das nicht zu sagen, was ich gesagt habe.  

Wenn dem CET, wie er es seit Jahren verlangt, mehr Macht zugestanden wird, dann könnte die Ausdrucksfreiheit in Luxemburg durchaus gefährdet sein, und dies umso mehr, da der CET alles andere als ein Ort des intellektuellen Pluralismus ist. Unter Ausdrucksfreiheit verstehe ich dabei nicht die Freiheit, den Anderen zu beschimpfen oder Hassreden ihm gegenüber zu halten, sondern die Freiheit, persönliche Ansichten im Rahmen eines vernünftigen Diskurses zu äußern und mit Argumenten zu untermauern, wie unangenehm diese allgemein gehaltenen Argumente dem anderen auch erscheinen mögen. Und dabei natürlich auch dem anderen zuzuhören und seine Argumente zu überprüfen. Es sollte jeder Mensch die Freiheit haben, zu behaupten, dass es, biologisch gesehen, zwei Geschlechter gibt, und dass die Intersex-Kinder eigentlich nur die Ausnahme sind, welche die Regel bestätigt. Es sollte genauso jeder Mensch die Freiheit haben, zu behaupten, dass es mehr als zwei biologische Geschlechter gibt. Es obliegt dann beiden Seiten, ihre Argumente darzulegen und die Öffentlichkeit sollte sich durch den, wie Habermas es nennt, „zwanglosen Zwang des besseren Argumentes“ überzeugen lassen.

Dass man auf die Sensibilität der Menschen achten soll, ist sicherlich ein moralischer Imperativ, aber nur ein prima facie Imperativ, den man manchmal verletzen dürfen muss. So sollte man unter keinen Umständen darauf verzichten, in Seminaren antirassistische Romane zu lesen, bloß weil darin das Wort „nigger“ – ich nehme mir das Recht, das Wort zwischen Anführungsstrichen zu zitieren, anstatt heuchlerisch von einem N-Wort zu sprechen, das dann jeder sich still im Kopf vorsagt – auftaucht und dies die Sensibilität einiger Personen verletzt. Vergessen wir nicht, dass auch klar antirassistische Texte, wie Martin Luther Kings Letter from a Birmingham Jail, Wörter enthalten, die als schockierend gelten könnten. Und auch das kontextualisierte Lesen rassistischer Romane sollte nicht in Seminaren verboten werden, bloß weil Rassismus etwas Schlechtes ist und manche sich durch die Lektüre solcher Romane in ihrer Sensibilität verletzt fühlen könnten. Um dem Gegner wirksam entgegentreten zu können, muss man ihn zuerst in allen seinen historisch gegebenen Formen kennenlernen.

Wir sind allesamt Kinder einer Geschichte, die ihre schönen und nicht so schönen, ja gruseligen Seiten hat, und wenn wir einen Teil dieser Geschichte canceln, dann versperren wir uns damit den Zugang zu einem Teil unserer selbst. Die social justice warriors haben sicherlich unrecht, wenn sie suggerieren, dass jede weiße Person Rassist ist, aber man kann nicht leugnen, dass jeder von uns potentiell zum Rassisten werden könnte und dass es die Pflicht eines jeden ist, sich diesbezüglich im Zaum zu halten. Wenn ein Mensch zum Rassisten werden konnte, dann kann prinzipiell jeder Mensch zum Rassisten werden. Aber daraus kann noch nicht geschlossen werden, dass jeder weiße Mensch ein Rassist ist. 

In diesem Kontext sollte auch davor gewarnt werden, jede Ablehnung des Ausländerwahlrechts oder jeden Appell nach Einschränkung der Immigration als rassistisch oder fremdenfeindlich zu deuten. Wer etwa einem Ausländer das Wahlrecht verweigert, verweigert es nicht dem Menschen als solchen. Sollte der Ausländer die Luxemburger Nationalität annehmen – und dies ist prinzipiell möglich für jeden Ausländer, der seine Ursprungsnationalität sogar bewahren kann –, so wird er an den Wahlen teilnehmen dürfen, ohne zu einem anderen Menschen zu werden. Es wird nur von ihm verlangt, dass er durch einen ganz offiziellen Akt zeigt, dass er sich auch als Luxemburger versteht. Man kann lange darüber dissertieren, ob es sinnvoll ist, einen solchen Akt zu verlangen, aber man sollte nicht gleich rassistisches Zeter und fremdenfeindliches Mordio schreien, wenn jemand verlangt, dass die Teilnahme an den Nationalwahlen an die Annahme der Nationalität gekoppelt wird.

Es ist schade, dass es heute vor allem die ADR ist, die sich in Luxemburg – berechtigte – Sorgen um die Ausdrucksfreiheit macht, so dass der Eindruck entstehen kann, dass die Linke sich hierüber keine Gedanken zu machen braucht. Und es ist nicht damit getan, die ADR darauf hinzuweisen, was in Ungarn geschieht oder in einigen republikanischen Staaten der USA, also in politischen Gemein­schaften, in denen Leute an der Macht sind, denen die ADR nahe steht. Die Zensur des argumentativen Diskurses ist ein Übel, mag sie von links oder von rechts kommen, mag sie im Namen der Wahrheit, der Gerechtigkeit, der Bewahrung dieser oder jener Werte oder des Schutzes bestimmter Sensibilitäten ausgeübt werden. Wer dem Menschen verbietet, zu argumentieren, verbietet ihm, ein Mensch zu sein, nicht aber wer ihm verbietet, hirnlose Hassreden vom Stapel zu lassen. Die Zensur des rationalen Diskurses ist ebenso ein Verstoß gegen die Menschenwürde wie die rassistische Hassrede.


Da dem Autor implizit verboten wurde zu sagen, dass er professeur-associé für Philosophie an der Universität Luxemburg ist, wird er es hier nicht sagen. Er hat an der Universität Trier promoviert und sich an der Universität Paris-Créteil habilitiert.

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