Jenseits der Pfarrei
Alternative Gemeinschaften und Gottesdienst ohne Liturgie
Die Kirche ist Gemeinschaft, besteht aber auf lokaler Ebene aus Gemeinschaften. Doch welche Gemeinschaften sind zukunftsweisend für die christlichen Kirchen in Westeuropa? Zwei Phänomene im Besonderen erzwingen die Frage, wie christliche Gemeinschaften außerhalb der klassischen Pfarreien funktionieren können: der akute Priestermangel und der hohe Grad an Individualismus. Dieser Beitrag möchte anhand dreier Beispiele zeigen, mit welchen Alternativen bereits in den letzten Jahrzehnten in Luxemburg experimentiert wurde.
Doch zunächst ein Rückblick
Die Kirche war von Anfang an durch Diversität geprägt. Bereits zwischen der frühen Gemeinde in Jerusalem und den paulinischen Gemeinden im hellenistischen Raum – sowie zwischen letzteren selbst – kam es zu unterschiedlichen Auslegungen der Lehre Christi. Die Briefe Paulus bezeugen dies, denn mit deren Hilfe wollte er diese lokalen Auffassungen zurechtrücken. Später, besonders im Mittelalter, entstanden neue Gemeinschaften oft aus christlichen Bewegungen, nicht selten „Reformbewegungen“. Manche davon wurden aktiv vom Papsttum bekämpft, die Katharer etwa oder die Waldenser. Andere wiederum wurden von der Kirche absorbiert, wie etwa die von Franz von Assisi losgetretene Bewegung, die nur knapp einer Verdammung entging. Manche dieser Reformbewegungen, wie die monastischen, richteten sich bewusst an Kleriker und konnten zu neuen Ordensgemeinschaften führen. Ob diese Bewegungen und ihre Gemeinschaften verfolgt oder unterstützt wurden, hing letztlich davon ab, wie stark sie die Macht und das Einkommen der institutionellen Kirche in Frage stellten.
In der jüngeren Vergangenheit gelten die 1960er und 70er Jahre als Schlüsselmomente. Das Zweite Vatikanische Konzil (1962-1965) und die Liturgiereform Pauls VI. (1969) gab vielen Laien Aufwind, die sich engagieren wollten, manche experimentierten gar zusammen mit Priestern an neuen Liturgien. In Luxemburg wurde der Geist dieser Reform innerkirchlich durch die Diözesansynode (1972-1979) weitergetragen. Das politische Pendant war die sozialliberale Koalition (1974-1979), deren christliche Mitglieder die Einheit der katholischen Säule der Gesellschaft in Frage stellten: Es wurde denkbarer, katholisch zu sein und nicht CSV zu wählen, das Luxemburger Wort zu lesen und Mitglied im LCGB zu sein. Die in Luxemburg verspätete 68er Revolution erreichte damit ebenfalls die religiöse Ebene. Oftmals waren es auch hier Studierende, die neue Modelle oder linkspolitische Ideen von ausländischen Universitäten zurück nach Luxemburg brachten. Oftmals blieben diese Studierenden in der hiesigen Gesellschaft über Pfadfinderkreise (Lëtzebuerger Scouten) oder die JEC (Jeunesse étudiante chrétienne) verankert. Aus diesem Milieu entstammt die linkskatholische Brutstätte der Hauptstadt: die Jugendpor.
Die Wurzeln der Jugendpor findet man bei den Garer Scouten (Pfadfinder des Luxemburger Bahnhofsviertels), die Anfang der 70er Jahre „Jugendmessen“ in wechselnden Pfarreien der Hauptstadt veranstalteten. „Jugendlich“ an diesen Messen waren nicht nur die Teilnehmenden, sondern auch die einfache Liturgie sowie die zeitgenössischen Lieder mit Gitarrenbegleitung. Mitte der 70er Jahre fand die Jugendpor eine dauerhafte Bleibe bei der Jesuitengemeinschaft auf Belair und der von ihnen geleiteten Jugendbewegung, der JEC. Die älteren forum-Leser und -Leserinnen erinnern sich, dass diese Zeitschrift aus dem Bulletin de Liaison der Jugendpor entstanden war. Auch wenn sich die Jugendpor in den 80er Jahren auflöste, so blieben viele ihrer einstigen Mitglieder gesellschaftlich aktiv. Manche von ihnen überführten ihr soziales Engagement in bis heute existierende Organisationen wie die ASTM (1970 gegründet) oder die ASTI (1979 gegründet), andere gründeten Dritte-Welt-Läden. Weitere wurden in der damals breit aufgestellten Friedensbewegung (1980-1984) aktiv.
Die Aufbruchsstimmung der 60er und 70er Jahre traf in Luxemburg auf recht wenig Widerstand. Einerseits gab es zwar traditionelle Pfarrer, die mit den experimentellen Liturgien nichts anfangen konnten, anderseits fürchtete das Luxemburger Wort unter André Heiderscheid um die Einheit des aus Teilen der Katholischen Aktion, LW-Direktion, CSV und LCGB bestehenden katholischen Blocks. Die Bistumsleitung unter Bischof Jean Hengen und seinem Generalvikar Mathias Schiltz nahm eine eher abwartende, wenn nicht sogar versöhnliche Haltung ein.
Katholische Gruppierungen, die sich nicht von den traditionellen Strukturen, Riten und Institutionen lösen wollten, tauchten anfangs nur im Ausland auf. Unter den Traditionalisten findet man die 1969 vom französischen Erzbischof Marcel Lefèbvre gegründete Priesterbruderschaft St. Pius X, die u. a. an der alten, tridentinischen Messliturgie festhielt. Lefèbvre wurde 1988 wegen unerlaubter Bischofsweihen exkommuniziert. In Luxemburg tauchten erste Anhänger des tridentinischen Ritus erst in den späten 90er Jahren unter den frankophonen Einwanderern auf. Eine weitere wertkonservative Gemeinschaft ist Opus Dei, die zwar bereits 1928 gegründet wurde, sich aber erst infolge der Unterstützung durch Papst Johannes Paul II. ab den 80er Jahren weiter ausbreitete. In Luxemburg gibt es eine Opus Dei Sektion.
Die Dynamik in Folge des Zweiten Vatikanischen Konzils gebar also Bewegungen und Gemeinschaften, die bis heute nachwirken. Viele davon versuchten, auch außerhalb der christlichen Liturgie Antworten auf die unterschiedlichen Bedürfnisse ihrer Mitglieder zu finden. Sie boten einen Rahmen für Gleichgesinnte, ihre Religion in Gemeinschaft zu leben, sowohl im Sinne von Kontemplation (Gebet, Besinnung, Ruhe) als auch von Reflexion (Ideenaustausch, persönliche Weiterbildung). Drei solcher Gemeinschaften, die bis heute bestehen, sollen hier genauer betrachtet werden.
Eine sozial-konservative Alternative: Die Charismatische Erneuerung
Die Bewegung der Charismatischen Erneuerung (1967), auch Pfingstbewegung genannt, bekam ihre wichtigsten Impulse aus den Vereinigten Staaten, wo zeitgleich zu ihrem Aufkommen im Katholizismus auch in vielen protestantischen Kirchen ähnliche Bewegungen entstanden. Wichtige Charakteristik der Bewegung ist die zentrale Rolle, die dem Heiligen Geist zugesprochen wird und die Vorstellung des aktiven Eingreifen Gottes in das Leben jedes Einzelnen. Pfarrer Albert Franck führte diese Bewegung 1973 in Luxemburg ein und machte seine Pfarrkirche in Gilsdorf zum wichtigsten Zentrum ihrer Aktivitäten.
Neben den Messen am Donnerstagabend, treffen sich Mitglieder in ungefähr zehn Gebetsgruppen. Geleitet werden diese Gruppen von Laien, die regelmäßig von geweihten Mitgliedern ausgebildet werden. Der Auftakt der Treffen besteht aus einem meist gesungenen Lobpreis Gottes. Der Abschluss ist in der Regel ein marianisches Gebet. Dazwischen können die Gruppenleiter und -leiterinnen mit verschiedenen Versatzstücken arbeiten, je nachdem wie sie „Gottes Präsenz spüren“: ein freies gemeinsames Gebet, Bibellesungen, Erfahrungsberichte, freie Fürbitten, Sprechgesang. Der Akzent liegt auf kontemplativen Momenten und emotionalen Erfahrungen, gelegentlich unterbrochen durch Predigten.
Die Gebetsgruppen sind tendenziell hierarchisch bis autoritär organisiert. Anders als bei eher links-katholischen Gruppen ist in der Pfingstbewegung die Selbstidentifikation mit der institutionellen Kirche sehr stark – das Bistum hingegen duldet die Gemeinschaft, ohne sie stark zu unterstützen. Vermutlich ist deren starke Emotionalität ihm suspekt. Als „Herberge Gottes“ verstand sich die Pfingstbewegung stets als Ort für die Marginalisierten der Gesellschaft; entsprechend breit ist der soziale Hintergrund der Teilnehmenden. Gab es in den 80er Jahren noch viele junge Mitglieder, haben sich diese inzwischen entweder von der Bewegung distanziert, oder sie sind zusammen mit der Gemeinschaft älter geworden.
Eine Alternative aus der Mitte: Die Gemeinschaft Christlichen Lebens
Die Gemeinschaft Christlichen Lebens (Communauté de vie chrétienne – CVX) geht auf Laienbewegungen (Marianische Gemeinschaften) zurück, die vom Gründer des Jesuitenordens, Ignatius von Loyala, im 16. Jahrhundert ins Leben gerufen wurden. Die Neugründung unter heutigem Namen im Jahr 1967 führte 1971 zur Aufstellung neuer Statuten, mit denen sich die Bewegung bewusst ihrer Wurzeln besinnen wollte: die ignatianischen Exerzitien. Seit 1974 gibt es auch in Luxemburg CVX Gruppen; zurzeit ist es etwa ein Dutzend mit jeweils sechs bis acht Mitgliedern. Ihre Treffen sind öffentlich und die Teilnahme steht jedem offen.
CVX Gruppen werden von Jesuitenpriestern begleitet, doch wegen des generellen Priestermangels oftmals nur unregelmäßig und aus der Ferne. Für die regelmäßigen Treffen ist denn auch ein Priester nicht unbedingt nötig: Ziel der Treffen ist ein Austausch über die eigene Lebensweise, als dessen Referenzrahmen die Evangelien gelten. Man beginnt mit einem kurzen Gebet, einem Auszug aus den Evangelien oder einem Psalm. In einem zweiten Schritt teilen die Mitglieder nacheinander ihre Gedanken zu ihrem gegenwärtigen Leben. Anschließend können die übrigen Teilnehmenden auf das Erzählte reagieren. Mithilfe von Nachfragen oder eigenen Erfahrungsberichten sollen die Erzählenden in der persönlichen Reflexion unterstützt werden. Nach einem Moment der Stille können die Teilnehmenden mit einem Fazit schließen: Wie fühle ich mich? Welche Überlegungen nehme ich mit? Das Treffen endet mit einem Gebet.
Die CVX Treffen haben kontemplative Momente, zielen aber in erster Linie auf eine offene Diskussion über die Umsetzbarkeit der christlichen Lehre in den eigenen Alltag. Die Methode ist die des Dialogs. Entsprechend sind die Gruppen egalitär aufgebaut, die Treffen zugleich sehr partizipativ, aber auch klar strukturiert.
Die linken „Anarchos“: Freie Gemeinschaften
Viel schwerer zu fassen sind nicht-öffentliche Gemeinschaften, die auf private Initiativen zurückgehen. Zu diesen gehört etwa die Gruppe um den Priester und ehemaligen Religionslehrer Metty Flammang. Als später Ableger der Jugendpor feierte diese Gemeinschaft ab den späten 80er Jahren fast wöchentlich eine Eucharistiefeier bei einem der Mitglieder zuhause. Die Liturgie wurde auf ein Minimum reduziert, die Predigt durch einen Austausch über das Evangelium der Woche ersetzt. Alle Teilnehmenden konnten ihre Gedanken über den Text, seine Bedeutung oder auch persönliche Fragen dazu in die Runde werfen. Heute besteht die Gruppe noch aus fünf Paaren; der Altersdurchschnitt ist über 60. Auf eine Eucharistiefeier wird inzwischen verzichtet, die Treffen finden seltener statt, aber der diskutierte Text orientiert sich weiterhin am Evangelium der Woche, und der erste Teil endet stets mit dem gemeinsamen Gebet des Vater unser. Seit den Anfängen besteht die zweite Hälfte des Treffens aus einem gemeinsamen Abendmahl – dem Austausch von Wein, Brot und anderer körperlicher wie geistiger Nahrung.
Die gleiche Entwicklung nahm das „Spirituelle Atelier“ der ErwuesseBildung. Seit den späten 80er Jahren fanden um das damalige Centre chrétien d’éducation des adultes (auch Info Video Center) und dessen Gründer, den Pfarrer Jean Leyder, monatliche Messen in dessen Pfarrkirche statt – auch hier gefolgt durch ein anschließendes gemeinsames Abendessen. Ende der 90er Jahre fand die Feier in den Räumen des Info Video Centers statt; geleitet wurde sie von Pfarrer Fränz Koedinger s.c.j. Die Liturgie wurde auf ein Minimum beschränkt, denn im Mittelpunkt stand der persönliche Austausch über das Evangelium. Mitte der 2000er Jahre verzichtete Koedinger angesichts seines zunehmenden Alters auf eine von ihm geleitete Eucharistiefeier, er blieb jedoch für Diskussionsabende offen. Daraus entstand das „Spirituelle Atelier“, das es bis heute gibt. Die Mitglieder treffen sich etwa zehn Mal pro Jahr. Für jedes Treffen schlägt jeweils ein Mitglied ein Thema vor, meist in Form eines kurzen Textes. Dabei handelt es sich nur selten um Bibeltexte, sondern vorwiegend um literarische Texte, kurze theologische Überlegungen, Presseartikel, Interviews oder Buchrezensionen. Manchmal genügt auch nur eine vage Idee als Anstoß. Knapp 90 Minuten wird über das Thema frei diskutiert, danach gemeinsam gegessen.
Der Altersdurschnitt des „Spirituellen Ateliers“ liegt etwa um die 60. Dennoch hat sich die Zahl der Mitglieder über die Jahre vergrößert. Nahmen vor zehn Jahren manchmal nur sechs bis acht Personen an einem Treffen teil, sind es heute im Schnitt das Doppelte. Die meisten Mitglieder beider Gruppen entstammen dem gleichen sozialen Hintergrund: luxemburgisch, liberal-katholisch, Mittelschicht.
Die Treffen in diesen Gruppen sind generell unstrukturiert und haben keinerlei kontemplative Elemente. Ziel ist der Gedankenaustausch, bei dem manchmal das konkrete Leben im Vordergrund steht, manchmal aber auch eine abstrakte theologische Idee. Bezüge zu der institutionellen Kirche gibt es kaum. Die Anwesenheit von Theologen und Bibelexegeten hilft gelegentlich, die ausgewählten Texte in ihrem ideengeschichtlichen Kontext zu verstehen.
Formate für die Zukunft?
Kleine Gemeinschaften standen am Beginn des Christentums; geht die katholische Kirche in Europa nun dorthin zurück? Gemeinschaft entstand früher in den Pfarreien, die die Mitglieder mit der kirchlichen Hierarchie verband. Doch Priestermangel und Individualismus werden wahrscheinlich dazu führen, dass Gemeinschaft in alternativen Strukturen entsteht. Existierende Gemeinschaften jenseits der traditionellen Pfarreien zeigen, dass diese als solche durchaus funktionieren: Nicht selten bezeichnen Mitglieder sie als „meine Pfarrei“.
Den drei hier aufgeführten Gemeinschaften ist gemeinsam, dass sie nach einem gelebten Glauben streben und bei ihren Treffen nach Orientierung in einem christlichen Geist suchen. Doch im Detail sind religiöse Bedürfnisse genauso unterschiedlich wie (kirchen)politische Auffassungen. Während die klassische Liturgie sowohl kontemplative wie reflexive Momente beinhaltet, erlauben entliturgisierte Gottesdienste eine Konzentration auf spezifische Elemente. Ebenso zeigen die aufgeführten Beispiele, dass solche Treffen – je nach Bedürfnis der Teilnehmenden – entweder durchstrukturiert oder komplett frei gestaltet sein können.
Die einzelnen hier präsentierten Richtungen unterscheiden sich auch in der Frage, wie stark sie sich mit den kirchlichen Institutionen identifizieren und diesen verhaftet bleiben. Dahinter verbergen sich theologische Überlegungen: Wie direkt darf die Verbindung vom Menschen zu Gott sein? Bedarf es der Erfahrung und Leitung eines Geweihten oder kann man auch (in Anlehnung an die evangelisch-protestantischen Traditionen) den direkten Austausch über Gott und die Bibeltexte wagen. Dieser Unterschied korreliert daher auch mit dem Grad an individueller Partizipation.
Wir brauchen uns nicht vorzumachen, dass in absoluten Zahlen diese alternativen Gemeinschaften viel besser dastünden als der Rest der katholischen Kirche. Auch hier gibt es oft ein Generationenproblem, besonders im eher linken Milieu, wo die Kinder kritischer Christinnen und Christen oft zu kritischen Atheistinnen und Atheisten heranwuchsen. Dennoch dürften die Existenz und die Vielfalt dieser Gemeinschaften Christinnen und Christen die Hoffnung geben, dass eine lebendige Kirche auch jenseits traditioneller Strukturen möglich ist.
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