Die Beziehung von Tanja und Oliver ist auf gerade einmal drei Seiten auserzählt, Theaterskript wohlbemerkt: Kennenlernen, Pärchenalltag – Hochzeit und anschließende Trennung dann nur noch als beiläufige Randnotiz. „Wir haben uns blöd gefickt, hat nicht gereicht. Deswegen haben wir geheiratet.“ Und dabei haben sich die beiden nicht einmal online kennengelernt. Trotzdem sind sich Experten einig, dass die neue Schnelllebigkeit der analogen Liebe digitalen Ursprungs ist. Guy Helmingers Jockey über Online-Dating und die latente Frage, ob digitales Kennenlernen unser Beziehungsleben verändert, spielt dieses Szenario durch.

Dabei müsste über die Beschaffenheit der Liebe im Zeitalter der Digitalisierung eigentlich gar nicht mehr spekuliert werden. Die Mathematik hat längst sowohl für Dating-Erfolge als auch für langanhaltende Partnerschaften Formeln aufgestellt und damit die mathematisch größte Variable der menschlichen Gefühle zu einer berechenbaren Einheit erklärt. Und wo einst noch der Zufall waltete, helfen im digitalen Zeitalter Algorithmen nach. Dennoch scheint die Rechnung irgendwie nicht aufzugehen. „Alle 11 Minuten verliebt sich jemand bei Jockey“, heißt es von einem Analystenchor, der das Bühnengeschehen immer wieder unterbricht, um dem Publikum seine Auswertungen zum Thema Online-Dating zu präsentieren. Teilt man die 1440 Minuten, die der Tag hat, durch 11, kommt man auf 130 Paare am Tag und 910 Paare in der Woche. Soweit, so gut, würden Dating-Apps pro Woche nicht rund 23.000 Neuanmeldungen zählen. Fazit? „Über 21 000 verlieben sich nicht.“ Muss man sich angesichts dieses Ergebnisses womöglich doch eingestehen, dass die vermeintlichen Vorteile des Überangebots, der Wahlfreiheit und Verfügbarkeit zu Beliebigkeit, Unverbindlichkeit und letztlich Bindungsunfähigkeit führen? Leistet die Digitalisierung der Liebe dem emotionalen Kapitalismus Vorschub? „Neuanfang. Ich brauche einfach einen Neuanfang. Alles neu machen. So von Anfang an. Raus aus dem Alten. Frisch in die Startlöcher. Jetzt läuft das Leben los“, redet sich Oliver nach der Trennung von Tanja ein und merkt nicht, dass er emotionalwirtschaftlich gesehen eine Verlustrechnung eingeht, als er sich bei „Jockey“ anmeldet und sich Rendite von einer App verspricht, die ihre Nutzer in falscher Sicherheit wähnt, indem sie die Investitionsseite der Beziehungsarbeit ausblendet.

„Jockey ist im Grunde wie eine Mutter, die die Ehe ihrer Kinder arrangiert“, heißt es an anderer Stelle über die App, die den Anbahnungsprozess zwischen den Geschlechtern revolutionieren soll, indem sie ihn demokratisiert und Mann und Frau die gleichen Voraussetzungen bietet, zueinander in Beziehung zu treten. Zumindest insofern als die App, in der sich nicht etwa Gegensätze anziehen, sondern sich eher Gleich und Gleich zueinander gesellen, darüber entscheidet, mit wem wir potenziell in Kontakt treten. Aber überwiegt die Verlustseite der digitalen Hilfsmittel nicht nur dann, wenn wir für jeden, den wir online kennenlernen, jemanden in der analogen Welt verpassen? „Die Liebe braucht Raum“, heißt es im Stück fast schon mahnend immer wieder, als ob gerade die unzähligen Chaträume in den unendlichen Weiten des WWW zu eng seien. Unter der Regie von Calle Fuhr nimmt die bei capybarabooks erschienene Komödie von Guy Helminger dann im Theatersaal selbst bei der Frage, wie viel Raum man der Liebe zwischen Berechenbarkeit und Berechnung tatsächlich lassen muss, eine ganz neue Dimension an, wenn das Stück auf die vierte Wand verzichtet und die Zuschauer*innen in die Handlung miteinbezieht. Leichte Kost mit Unterhaltungsfaktor, wird so manch einer angesichts der inszenierten Klischees und des derben Humors denken. Aber nicht wenige Digital Natives wird sicherlich ein mulmiges Déja-vécu-Erlebnis beschleichen, wenn sie die schräg-schlüpfrigen Passagen lesen oder hören, die nicht ohne Zufall an @tindernightmares oder hier das deutsche Pendant @TinderWahnsinn erinnern. Alle anderen dürften zumindest erleichtert sein, dass sie sich bestimmte Fragen nicht mehr stellen müssen. SC

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