- Gesellschaft, Internationale Presse, Medien
Journalismus im „postfaktischen“ Zeitalter
Ein Stimmungsbild aus Zeitungsredaktionen im Benelux-Raum
Ein Stimmungsbild aus Zeitungsredaktion im Benelux-Raum
Rechtspopulisten sind derzeit vielerorts im Aufwind. Dabei wettern sie gegen die etablierten Medien und stellen die Glaubwürdigkeit von Journalisten in Frage. Spätestens seit dem Brexit-Votum und der Amtseinführung von Donald Trump haben sich Begriffe wie „Lügenpresse“ und „alternative Fakten“ im allgemeinen Sprachgebrauch etabliert. Was bedeuten diese Entwicklungen für den Journalismus? Im Rahmen meiner Doktorarbeit zum Thema Rechtspopulismus hatte ich die Gelegenheit, mir zahlreiche Medienhäuser in den Benelux-Ländern von innen anzusehen. Dabei traf ich sowohl Chefredakteure als auch Journalisten. Was folgt, ist ein Stimmungsbild.
Über Terrorismus und Journalismus
Wir schreiben Freitag, den 7. April 2017. Es herrscht Feierabendstimmung in der belgischen Hauptstadt, als ich kurz vor 16 Uhr den Hauptsitz der Zeitung Le Soir betrete. Nachdem ich mich am Empfang gemeldet habe, lasse ich mich auf einem Sofa nieder und gehe noch einmal meinen Fragebogen durch. Über fünfzehn Minuten vergehen, bis auf einmal eine Tür auffliegt und eine großgewachsene Frau schnurstracks auf mich zusteuert. Noch bevor ich mich vorstellen kann, sagt sie: „Il y a eu un attentat à Stockholm. Je n’ai pas beaucoup de temps.“ Die stellvertretende Chefredakteurin redet schnell, während sie mich in einen Konferenzraum schiebt: „Um was geht es nochmal?“
Plötzlich erscheint mir mein Fragebogen ziemlich nichtig. Anstatt meine üblichen Fragen abzuklappern, erkunde ich mich, wie die Nachricht des Terroranschlages in der Redaktion gehandhabt wird. Sie erklärt, wie die Neuigkeit zuerst online verbreitet wird. Um eine möglichst zeitnahe Berichterstattung zu gewähren, wird eine Art Liveticker eingerichtet, sodass Leser im Minutentakt über die neuesten Entwicklungen auf dem Laufenden gehalten werden. Währenddessen werden Hintergrundfakten für den morgigen Zeitungsartikel gesammelt. „Es wird eine lange Nacht“, seufzt sie.
Schicksal der Tageszeitung in einer digitalen Gesellschaft
Durch die Diffusion von Online-Medien hat sich die Rolle der traditionellen Presse stark verändert: Wer morgens die Zeitung aufschlägt, weiß bereits, dass es einen Terroranschlag gegeben hat. Es geht also immer weniger darum zu berichten und zu informieren, sondern darum, Hintergründe zu liefern, zu analysieren und zu kommentieren. Der Blickwinkel hängt dabei vom Medium ab und ist bei jeder Zeitung unterschiedlich. Während Le Soir beispielsweise auf tiefgründige Ursachenforschung fokussiert, setzen andere lieber auf Leserresonanz. So erklärt der Chefredakteur der niederländischen Tageszeitung Algemeen Dagblad: „Egal ob Lehrer, Banker oder Krankenschwester: wir sind die Zeitung für jedermann. Also fragen wir: Was bedeutet dieser Terroranschlag für unsere Leser? Beim Attentat auf der London Bridge war beispielsweise eine Schulklasse betroffen. Wird das Attentat für Klassenfahrten aus den Niederlanden Folgen haben? Mit solchen Fragen versuchen wir, die Geschehnisse unseren Lesern näher zu bringen.“
Denn nur wer ein möglichst breites Publikum anpeilt, hat die Chance, den Rang der „größten Tageszeitung“ für sich in Anspruch zu nehmen. Dabei setzen viele Medienhäuser immer mehr auf den Online-Markt. Dieser Trend scheint besonders in den Niederlanden ausgeprägt zu sein, wo manche Redaktionsräume komplett umgestaltet wurden, um die Berichterstattung auf ihren IT-Plattformen und sozialen Netzwerken zu optimieren. Die Grenzen zwischen verschiedenen Mediengattungen verschwimmen dabei immer mehr. So hat das Algemeen Dagblad vor kurzem den umstrittenen „Vlogger“ (Video-Blogger) Ismail Ilgün engagiert, um das Leben in heruntergekommen niederländischen Stadtvierteln zu dokumentieren. Die gedruckte Tageszeitung wird dabei als eine Art Nebenprodukt auf den zweiten Rang verwiesen.
Viele Medienhäuser sind heutzutage an der Börse notiert. Durch die wachsende Kommerzialisierung sind Mediensysteme immer öfter den Kräften der Marktwirtschaft ausgesetzt. Dies impliziert einen kundenorientierten Journalismus. Medieninhalte werden zunehmend auf den Geschmack der Medienkonsumenten abgestimmt. Theoretisch kann dies Qualitätsjournalismus fördern und Innovation anregen. Allerdings besteht auch die Gefahr, dass Medien mehr Wert auf Sensation legen, wodurch Sorgfalt, Inhalt und Tiefe verloren gehen. Durch den Verkaufsdruck werden Journalisten dazu verleitet, komplexe Zusammenhänge anhand von vereinfachten Schwarz-Weiß- oder Gut-Böse-Schemata darzustellen. So wird beispielsweise über Wahlen berichtet, als ob es Pferderennen wären. „Wir sind keine Zeitung mehr, sondern ein Betrieb“, klagen einige – oder wie der niederländische Publizist Joris Luyendijk es ausdrückt: „Die Erträge sind nicht mehr ein Mittel zum Zweck, um eine Zeitung ohne staatliche Beihilfe bestehen zu lassen; Erträge sind nun der Zweck selbst, die Zeitung lediglich ein Mittel.“1
Gute Zeiten für Terroristen und Populisten
Einerseits spielt eine sensationslüsterne Berichterstattung Terroristen in die Hände. Denn deren Ziel ist es, möglichst viele Menschen durch Gewaltaktionen in Angst und Schrecken zu halten. Dabei benötigen sie ein größtmögliches mediales Echo. Kommerzielle Mediensysteme, die von Klicks und Views abhängig sind, ermutigen Journalisten gewissermaßen „das Spiel der Terroristen mitzuspielen“.2
Andererseits können die Interessen kommerzieller Mediensysteme mit denen von Populisten konvergieren, denn der ständig härter werdende Kampf um Leser und Zuschauer nötigt Journalisten, sich mehr auf extreme und skandalöse Aspekte der Politik zu konzentrieren. Der Druck des Marktes ist ein Anreiz, temperamentvolle, tabubrechende Politiker ins Rampenlicht zu stellen. Populisten ihrerseits streben nach medialer Aufmerksamkeit, da sie auf die Massenmedien angewiesen sind, um ihre Ideen zu verbreiten – und das kostenlos. Außerdem können Medien xenophobe Positionen salonfähig machen und somit legitimieren. Durch die Medien können sich Populisten also gewissermaßen Zugang zum Wählermarkt verschaffen. Dadurch entsteht eine symbiotische Beziehung: Populisten und Medien brauchen einander.3
Hinzu kommt, dass Populisten mittels sozialer Netzwerke nun direkt mit potentiellen Wählern kommunizieren können – und das ohne von kritischen Journalistenfragen bedrängt zu werden. Dies ermöglicht ihnen eine Art Dauerwahlkampf, bei dem die Spielregeln viel lockerer sind. Durch eine direkte, ungehemmte Ansprache ans Volk können Populisten die traditionellen Medien umgehen. Die klassische „Gatekeeper“-Rolle der Medien wird dadurch geschwächt: Journalisten sind heute nicht mehr exklusive Schleusenwärter, die über den Zugang zur Öffentlichkeit entscheiden. Diese Entwicklungen stellen Journalisten vor neue Herausforderungen, denn wenn Politiker kontroverse Aussagen im Internet verbreiten, stellt sich folgende Frage: Kritisieren – und damit Aufmerksamkeit schenken, oder ignorieren – und dabei riskieren, dass die Aussagen entweder von anderen Nachrichtenkanälen aufgegriffen werden oder unbestritten bleiben?
Wie umgehen mit Populismus?
Dieses Dilemma zeigt sich besonders deutlich in den Niederlanden, wo Rechtspopulist und Twitter-König Geert Wilders quasi im Minutentakt kontroverse „Meinungshäppchen“ verbreitet. Mit über achthunderttausend „Followers“ auf Twitter hat er weitaus mehr Anhänger, als Zeitungen Abonnenten haben. Da er kaum Interviews gibt, sind Journalisten oft auf seine Tweets angewiesen. Auf meine Frage hin, wie sie mit Rechtspopulisten umgehen, reagierten die meisten Chefredakteure relativ gelassen. „Es gibt hier keine Tabus, wir sprechen heikle Themen an und nehmen die Sorgen und Ängste unserer Leser sehr ernst“, so einer meiner Interviewpartner. Spätestens seit dem unerwarteten Aufstieg von Pim Fortuyn hat sich das politische und mediale Klima stark verändert. Seither versuchen die Medien nahezu krampfhaft, Zugang zu denjenigen zu finden, die sich zu Rechtspopulisten hingezogen fühlen. Im Zweifelsfall gilt: nicht totschweigen, sondern ansprechen, thematisieren und diskutieren.
Das Brexit-Votum sowie der Wahlerfolg von Donald Trump haben diese Tendenzen nochmals verstärkt. Seither begeben sich sämtliche Tageszeitungen auf die Suche nach dem „bösen weißen Mann“. In einem öffentlichen Brief schlussfolgerte die Vorsitzende des niederländischen öffentlich-rechtlichen Rundfunkveranstalters (NPO), dass sie Lehren aus Donald Trumps Wahlsieg ziehen werden, indem sie zukünftig das „einfache Volk“ öfters zu Wort kommen lassen.4 Auch Chefredakteure sind weitgehend der Meinung, dass es vor allem wichtig ist, Leser nicht zu indoktrinieren, sondern verschiedene politische Meinungen zu vertreten. „Wir sehen unsere Rolle als eine Plattform für Kollisionen“, erklärt mir einer.
In Wallonien hingegen werden mittels des cordon sanitaire médiatique sogenannte „freiheitswidrige“ Parteien konsequent und prinzipiell ausgegrenzt.5 Politiker, die als rechtsextrem gedeutet werden, werden beispielsweise nie „live“ im Fernsehen übertragen. Auch tiefgehende Zeitungsinterviews mit Politikern wie Marine Le Pen sind im französischsprachigen Raum Belgiens tabu. Besonders ältere Journalisten nehmen dies sehr ernst, denn sie sehen sich als Wachhunde der Demokratie. „On ne s’approche pas au diable“, so ein belgischer Fernsehjournalist.
Herausforderung und Chance zugleich
Interessant ist, dass trotz aller Herausforderungen, die Digitalisierung und Populismus mit sich bringen, viele Chefredakteure optimistisch in die Zukunft blicken. Denn neben vielen Gefahren bieten die aktuellen Entwicklungen auch neue Möglichkeiten. So erlaubt die Verbreitung im Netz den Journalisten beispielsweise, andere Bevölkerungsgruppen zu erreichen (etwa junge Bürger mit Migrationshintergrund) und somit ein breiteres Publikum anzusprechen. Außerdem verzeichneten verschiedene amerikanische Medienhäuser wie die New York Times zu Beginn des Jahres einen Rekordzuwachs an zahlungspflichtigen Online-Abos – der sogenannte „Trump Bump“ – was teilweise auf steigendes Interesse an Politik und Qualitätsjournalismus zurückzuführen ist.6 Eines steht auf jeden Fall fest: Zeit für Langeweile bleibt in der Medienwelt keine.
1 Luyendijk, Joris, Kunnen we praten, Amsterdam/Antwerpen: Uitgeverij Atlas Contact, 2017, S. 41 (eigene Übersetzung aus dem Niederländischen).
2 Siehe dazu: Luyendijk, Joris, „Maximale Wirkung: Die Rolle der Medien in Zeiten des Terrors“, in Luxemburger Wort, 3.6.2017, S. 15.
3 Siehe auch: Ellinas, Antonis, The Media and the Far Right in Western Europe, Cambridge: Cambridge University Press, 2010.
4 Rijxman, Shula, „Publieke omroep gaat leren van Trump“, in Volkskrant, 14.11.2016: http://www.volkskrant.nl/opinie/ publieke-omroep-gaat-leren-van-trump~a4414456/
5 Allerdings wirft der Wahlerfolg von Donald Trump Fragen auf: „La victoire de Trump relance le débat sur le cordon sanitaire“, in Le Soir, 15.11.2016.
6 Bond, Shannon, „CNN and New York Times boosted by ‘Trump bump’“, in Financial Times, 3.5.2017: https://www.ft.com/content/ 99039bc0-3011-11e7-9555-23ef563ecf9a?mhq5j=e1
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