„Kapitalismus ist eine Plage…“
Jean-Claude Juncker über Karl Marx
Am 4. Mai 2018 hat Jean-Claude Juncker, EU-Kommissionspräsident und Ehrenbürger der Stadt Trier, die Festrede zur Eröffnung der großen Landesausstellung Karl Marx 1818-1883. Leben. Werk. Zeit. anlässlich der 200-Jahr-Feier von Karl Marx in der Konstantin-Basilika in dessen Geburtsstadt gehalten. Hier nur einige Ausschnitte aus der Rede.
„(…) Karl Marx war ein in die Zukunft hineindenkender Philosoph mit gestalterischem Anspruch und steht heute für Dinge, die er weder zu verantworten hat noch verschuldet hat, weil vieles von dem, was er formuliert hat quasi ins Gegenteil umformuliert wurde. (…) Das Land Rheinland-Pfalz und die Stadt Trier haben recht, an Marx zu erinnern, weil Erinnern und Verstehen zur Zukunftssicherung gehört. Ohne Erinnern und Gedenken, ohne Verstehen des Erinnerten wird aus der Zukunft nicht sehr viel werden. Marx ist nicht für all die Gräuel verantwortlich, die seine vermeintlichen Erben zu verantworten haben. Willy Brandt hat das gut erkannt. Er hat gesagt: „Was immer man aus Marx gemacht hat, das Streben nach Freiheit, nach der Befreiung des Menschen aus der Knechtschaft und unwürdiger Abhängigkeit war das Motiv seines Handelns“, und so war es auch. Man muss Karl Marx aus seiner Zeit heraus verstehen und nicht in gewusster Nachbetrachtung Vorurteile abgeben, die es in der Form nicht geben darf.
Karl Marx hatte Glück in seinem Leben, weil er in Trier geboren wurde. Er ist in dieser Stadt aufgewachsen – die eigentlich kürzeste Zeit in seiner Vita –, und deshalb hat ihn früh etwas ereilt, was nur noch wenige ereilt, nämlich ein prägnantes, ausgeprägtes Geschichtsbewusstsein. Wer durch diese Stadt geht, trifft auf Schritt und Tritt auf Geschichte und so ging es auch dem jungen Karl Marx, weil Trier für ihn wie auch für andere, ein idealer Integrationsort war – ein behütender, ein stimulierender, ein inspirierender. (…) Hier hat er den Sinn für das Politische entdeckt und hier hat er angefangen, sich mit dem Werk von Hegel zu beschäftigen – ein wichtiges Studium, das Karl Marx im Umgang mit Hegel in Zukünftiges zu verwandeln wusste. Ohne Hegel hätte es keinen Marx gegeben. Und ich wage auch zu sagen, ohne Trier hätte es keinen Karl Marx gegeben, weil er hier nicht nur beschauliche Studien hat durchführen können, sondern hier ist ja auch – auch damals schon – ein Knotenpunkt von französischem und damals preußischem Einfluss deutlich erkennbar gewesen, wie in Trier überhaupt die Früchte der Französischen Revolution in reichem Maße zu genießen waren: Die Abschaffung ständiger Privilegien, die Emanzipation der Juden, der Code civil, das bürgerliche Gesetzbuch, wurde in Trier sogar beibehalten, als die französische Zeit in Trier vorbei war – also keine blinde Verpreußung, sondern treu bleiben dem, was sich bewährt hatte.
Marx, der politisch aktive Philosoph, hat einmal geschrieben: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, aber es kommt darauf an, sie zu verändern.“ Das, was er interpretierend und hinweisend hinterlassen hat – Das Kapital, Das Manifest – hat zur Veränderung der Welt beigetragen und hat Menschen jedweder Obödienz und Provenienz inspiriert. Dass einige seiner späteren Jünger die Werte, die er formuliert hat, die Worte, die er zur Beschreibung dieser Werte gefunden hat, als Waffen gegen andere einsetzen, dafür kann man Karl Marx nicht zur Verantwortung ziehen.
Karl Marx hat sich für Gleichbehandlung, nicht für Gleichmacherei eingesetzt – das ist das Werk einiger seiner Erben. Als Marx geboren wurde, hier in dieser Stadt, lag die mittlere Lebenserwartung auf unserem Kontinent bei 36 Jahren. Die Verhältnisse waren ungerecht, man konnte sich nicht in den damals herrschenden Frühkapitalismus verlieben, man kann sich auch heute nicht in einen blinden, bedingungslosen Kapitalismus verlieben – ich jedenfalls nicht. Ich bin dafür, dass man Ungerechtigkeit bekämpft. Dazu muss man nicht Marxist sein, das kann man auch als gestandener Christdemokrat wie ich – alle Demokraten können das und alle Demokraten müssen das. Kapitalismus ist eine Plage, wenn er nicht nuanciert wird durch Überlegungen, die nicht das System, sondern den Menschen im Blick haben.
Es wird also Sache unserer Zeit sein, aus den sozialen Rechten, die wir für Europa formuliert haben, eine lebendige Wirklichkeit zu machen, für die, die heute leben und sehr oft unglücklich sind, die vom Leben erpresst werden, die keine sozialen Rechte im genügenden Umfang haben und die, die morgen geboren werden. Die Europäische Union ist kein Fehlkonstrukt, aber ein wackliges Gebäude, u.a. deshalb wackelig, weil die soziale Dimension Europas bis heute das Stiefkind der europäischen Integration war. Wir müssen das ändern. Vielen Dank!“
(Jean-Claude Juncker am 4. Mai 2018 in Trier)
https://ec.europa.eu/avservices/video/player.cfm?sitelang=en&ref=I154723
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