Kehrtwenden ohne Methode

Die Coronakrise offenbart den Kontrollverlust der luxemburgischen Exekutive

Als Premierminister Xavier Bettel am 22. März 2020 seine Unterschrift unter den Brief der neun Staats- und Regierungschefs setzte, die sich für ein von Emmanuel Macron gefordertes gemeinsames Schuldeninstrument zugunsten der von der COVID-19-Krise am stärksten betroffenen EU-Mitgliedstaaten aussprachen, vollzog er damit zumindest zwei strategisch bedeutsame politische Handlungen.

Zuerst zog er Luxemburg offiziell auf die Seite derer, die in der EU bereit sind, den Weg in Richtung Vergemeinschaftung bestimmter Schulden einzuschlagen. Damit aber schlug die Luxemburger Regierung sich mit der Unterschrift ihres Premiers schon im März entschieden auf die Seite Frankreichs. Diese Initiative von Emmanuel Macron und seinen Unterstützern sorgte in der deutschen Bundesregierung, besonders in der CDU, aber auch in der oppositionellen FDP, für weit mehr als Irritationen. Kurzum: Diese Unterschrift hat Luxemburg aus seiner Position der Äquidistanz zwischen seinen zwei großen Nachbarn herausbewegt, ja herausgerissen. Diese Position war aber seit der Gründung der Montanunion 1952 zugleich Ausgangs-, Dreh- und Angelpunkt von jeglichem diplomatischen Handeln des Großherzogtums in Europa.

Indem Xavier Bettel den „Brief der 9“ unterzeichnete, gab er auch die daraus erwachsene, aber inzwischen dank seiner Nachlässigkeit obsolet gewordene Mittlerrolle Luxemburgs zwischen seinen großen Nachbarn auf. Er setzte auf die Perspektive eines Europas, das über den Weg vergemeinschafteter Schuldenfinanzierung solidarischer werden sollte. Im März 2020 sah es aber nicht so aus, als ob Deutschland und die sogenannten „frugalen Staaten“ wie Österreich, die Niederlande, Dänemark und Schweden diese Initiative unterstützen würden. Das alles geschah, ohne dass es über diesen strategischen Einschnitt je eine Debatte unter Politikern im Parlament, geschweige denn eine öffentliche Debatte gegeben hätte. Oder anders gesagt: Bettel hatte sich, ohne jemanden zu konsultieren, ohne sich auf das alte „Prudence, prudence“-Prinzip der luxemburgischen Diplomatie zu besinnen, auf die Seite der „Guten“ in der EU geschlagen, für eine föderalere Zukunft entschieden, ohne aber die Risiken und auch die Zuverlässigkeit der Partner für eine solche Wende abzuwägen.

Gewiss, der am 18. Mai von Macron und Angela Merkel gemeinsam unterbreitete Vorschlag eines Programms zur wirtschaftlichen Erholung der von der Pandemie besonders in Mitleidenschaft geratenen Mitgliedstaaten im Umfang von 500 Milliarden Euro, der zudem eine massive europäische Schuldenaufnahme über den EU-Haushalt vorsieht, könnte Bettel nachträglich recht geben. Indes, nicht nur, weil jetzt an vielen Stellen auf die Bremse gedrückt werden wird, um dieses Programm oder ein ähnliches zu verhindern, müsste klar sein, dass, wenn ein kleines Land wie Luxemburg die traditionellen Wege seiner Außenpolitik verlässt und damit seine per se anfällige Souveränität, auf die sein ganzes Wirtschaftsmodell baut, neuen Strapazen aussetzt, über die damit verbundenen Risiken zumindest breit hätte beraten werden müssen. Und sei es nur, um eine breite Unterstützung im Parlament, der Zivilgesellschaft und der Bevölkerung für diese wichtige strategische Entscheidung zu erhalten.

Unverbindlichkeit

Luxemburgs Partner und vielleicht bald Gegner in der Frage der vergemeinschafteten Schuldenaufnahme durch die EU, z. B. die Niederlande oder die nordischen Länder, Estland inklusive, funktionieren da ganz anders. In diesen Staaten gibt es rege interministerielle Konsultationen bei wichtigen strategischen Festlegungen, die von der Prozedur her klar geregelt sind. Die Parlamente werden eingebunden, aber auch Interessenverbände aus Wirtschaft und Zivilgesellschaft. Die Positionierung dieser Staaten wird für ihre Regierungen verbindlich verschriftlicht. Sogar bei einzelnen eher taktischen Schritten verabschieden das dänische und niederländische Parlament vor jedem EU-Ministerrat die Positionen ihrer Regierung, die für diese ein imperatives Mandat darstellen.

Das alles geschieht in Luxemburg nicht. Es gibt keine strategischen Papiere, die dem Land aufgrund seiner komplexen Interessenlage eine wirkliche verbindliche Orientierung geben, weder in Sachen innenpolitische Gestaltung oder unmittelbare Nachbarschaftspolitik, noch im europäischen Integrationsprozess, in der Sicherheitspolitik, in der sich verschärfenden Konfrontation zwischen den USA und China oder in den vielschichtigen Beziehungen zu Russland im Rahmen des globalen Multilateralismus usw. Es gibt keine Prozeduren für Konsultationen. Es gibt gewiss Traditionen, rekurrierende Lehrsätze, die man aus feierlichen Erklärungen vor dem Parlament, vor dem Rat, vor der UNO-Vollversammlung heraushören kann. Es gibt zuweilen ein Papier, einen Plan directeur oder ein Nebenprodukt des Nation Branding. Aber die werden in der Regel von teuer bezahlten externen Beratern aus der Retorte gezogen und gelten in den übergangenen, aber verantwortlichen Verwaltungen als kaum mehr als „Kommunikationsgimmicks“. Es gibt Gewohnheiten und Gepflogenheiten. Und es gibt das Handeln, das sich je nach Ministerium – und nicht im Regierungsrat abgestimmt – anders gestaltet, je nach der spezifischen Aufgabenlage und den damit mehr oder weniger starken Beziehungen zu ausländischen Partnern. In anderen Worten, das Regieren, manche sagen, weil’s schicker und unverbindlicher klingt, die governance, gestaltet sich in Luxemburg, dessen politisches Personal mit den globalisierungsbedingten Veränderungen und Innovationsschüben nicht mehr Schritt halten kann, in fortschreitendem Maße als chaotisch. Mit der Folge, dass die Regierung in der Regel nicht so glorreich dasteht wie bei der Wette auf Europas Zukunft, die der Premier mit politischem Instinkt, ganz im Sinn einer positiven europäischen Entwicklung, aber ohne Methode, eingegangen ist. Und auch das kann sich rächen.

Ein neues strategisches Umfeld

Man schaue nur auf die letzten Monate seit der Ausrufung des Notstands zurück. Die Beziehungen Luxemburgs zu seinen drei Nachbarn und seinem engen Partner, den Niederlanden, gestalten sich immer problematischer. Diesmal konnte Luxemburg seine direkten Nachbarn noch davon überzeugen, die Grenze für die Berufspendler offen zu halten und im Fall von Telearbeit von einer Besteuerung der über die in bilateralen Doppelbesteuerungsabkommen hinausgehenden fixierten Arbeitstage auf ihrem Staatsgebiet abzusehen. Als Gegenleistung fielen die Finanzierung der Kurzarbeit oder die Lohnfortzahlung an Pendler an, die ihren Herkunftsländern sonst u. a. als Arbeitslose auf der Tasche gelegen hätten. Und etwas anderes wurde klar: Obwohl sich Telearbeit als ein mögliches alternatives Arbeitsmodell erwies, dürfte es schwer sein, eine auf Grenzpendler zurückgreifende Wirtschaft wie die Luxemburgs aufgrund der territorialen Dimension der Besteuerung von Arbeit auf massive Telearbeit umzustrukturieren. Luxemburg kann nicht ohne offene Grenzen und den freien Personenverkehr auskommen, es sei denn, das fiskalische Umfeld in den Grenzregionen würde idealiter größere Veränderungen erfahren, die mit Steuerrückführungen verbunden sind.

Wie schnell und drastisch unilaterale nationale Alleingänge der Nachbarn die Situation an den Grenzen verändern können, hat der Bevölkerung, aber auch dem luxemburgischen Staatsapparat einen nachhaltigen Schrecken eingejagt, wie aus übereinstimmenden Quellen hervorgeht. Die Verbohrtheit Berlins, die ausfälligen Sprüche des saarländischen Innenministers Bouillon wie „Grenzschutz ist Menschenschutz“, der Polizeiaufwand an Mosel, Sauer und Our mit seiner negativen Symbolik und der ihm eigenen Willkür, die Sanktionierungslust belgischer Polizisten in Grenznähe, die äußerst autoritäre Handhabung der Eindämmungsmaßnahmen durch den französischen Zentralstaat trugen ihres dazu bei, ein diffuses Gefühl von Verunsicherung, Rechtlosigkeit und Nicht-mehr-willkommen-sein bei den Menschen in Luxemburg und in der äußerst zahlreichen luxemburgischen Diaspora jenseits der Grenzen aufkommen zu lassen. Sorgen dürften auch die Langzeitentwicklungen in den unmittelbaren Nachbarstaaten bereiten.

Frankreich

Wie das gespaltene und einer gesellschaftlich-politischen Krise entgegensteuernde Frankreich über die konjunkturell zugestandenen Vorteile in Sachen Grenzpendler hinaus Luxemburg seinen Einsatz für die französische Europa-Strategie vergelten wird, steht in den Sternen. Dazu kommt, dass man sich in Paris darüber Gedanken macht, wie Macron, der am 19. Mai mit seiner eigenen Partei, der LRM, die absolute Mehrheit in der Assemblée nationale verloren hat, eine neue Legitimation für den von ihm angekündigten strategischen Umschwung in Sachen Wirtschafts-, Sozial-, Gesundheits- und besonders Umweltpolitik bekommen könnte. Die Bandbreite der Vorstellungen in der französischen Öffentlichkeit reicht von einer Regierungsumbildung, einer nationalen Einheitsregierung, vorgezogenen parlamentarischen Wahlen bis hin zur verfassungsmäßig fraglichen und politisch gefährlichen Durchführung eines Referendums. Frankreich ist ein destabilisierter Partner. Die Beziehung zwischen Frankreich und Luxemburg kann nicht nur auf die persönliche Freundschaft zwischen „Xavier“ und „Manu“ bauen. Diese ist ohne Zweifel ein positiver Faktor, in Paris zurzeit eine Art Garantie, Gehör zu finden, kann aber auch ins Gegenteil umschlagen. Und die überschwänglichen Freundschaftsbekundungen zwischen der mit der Großregion beauftragten Ministerin Corinne Cahen und Jean Rottner, dem Präsidenten der Région Grand Est, können nicht über die sich anhäufenden Versäumnisse Luxemburgs gegenüber den Départements Moselle und Meurthe-et-Moselle hinwegtäuschen.

Belgien

Auch Belgien ist nicht gerade ein Ruhepol. Das Land hatte zwischen Dezember 2018 und Oktober 2019 unter der Führung des jetzigen Vorsitzenden des Europäischen Rats, dem Bettel-Freund und Liberalen Charles Michel, eine geschäftsführende Regierung ohne parlamentarische Mehrheit. Nachdem Michel seine Regierung ihrem Schicksal überlassen hatte, um in der EU höhere Weihen zu empfangen, hat die Liberale Sophie Wilmès die Geschäfte bis zum 17. März 2020 weitergeführt. Unter dem Druck der Pandemie wurde dann unter ihrer Führung eine parteiübergreifende und zeitlich auf sechs Monate begrenzte Notfallregierung mit einer breiten parlamentarischen Unterstützung eingesetzt. Die flämischen Nationalisten beteiligen sich nicht an dieser Regierung und haben bei sich unterschwellig die Eindämmungsmaßnahmen des von der Pandemie überaus stark betroffenen Landes unterminiert. Überhaupt driften der flämische und der wallonische Teil Belgiens immer weiter auseinander.

Parallell tat sich in Luxemburg so einiges, was eigentlich mit der belgischen Dauerstaatskrise in Verbindung steht. Bernard Thomas vom Lëtzebuerger Land hat am 24. April unter dem Titel Terra incognita einen Artikel über den luxemburgischen Immobilienmarkt veröffentlicht.1 Dort liest man u. a.: „Sur la dernière décade, les capitaux belges ont découvert l’eldorado luxembourgeois : Thomas & Piron (‚Jardins du Luxembourg’ à Merl), Codic (Royal Hamilius), Immobel (‚Infinity’ au Kirchberg), Leasinvest (zoning Batiself à Strassen), Besix Red (ancienne galerie Konz à la Gare), ICN Development SA (friche Villeroy & Boch)… En septembre 2019, la société de promotion anversoise Antonissen Development annonçait à son tour vouloir s’implanter. Dans un communiqué, son directeur Sven Potvin estimait que ‚les investisseurs immobiliers belges sont de plus en plus nombreux à aller voir si l’herbe est plus verte au-delà des frontières‘. Or, justement : Le Grand-Duché connaîtrait ‚un essor sans précédent‘, les nouveaux appartements et maisons s’y vendraient ‚comme des petits pains‘.“

Pierre Sorlut schreibt seinerseits am 8. Mai im selben Blatt in seinem Beitrag Safe Haven2: „Un banquier témoigne (sous couvert d’anonymat) que des Italiens, des Espagnols, mais aussi des Belges relocalisent leurs avoirs au Luxembourg de peur d’un ‚serrage de vis fiscal’ consécutif à la crise. Plusieurs États européens menacent de recourir à des impôts que d’aucuns jugent potentiellement confiscatoires (avec plus de progressivité). Nicolas Mackel (CEO von Luxembourg for Finance, der Verf.) confirme que le côté safe haven du Grand-Duché, ‚et non plus tax heaven‘, attire traditionnellement quand l’économie vacille dans les pays alentours.“

Nur ist es im Falle Belgiens nicht so sehr die Wirtschaft, sondern das politische System, das zittert. Der föderale Staatsapparat funktioniert irgendwie konservatorisch weiter, allerdings nur dank einer überaus engagierten Beamtenschaft und erprobter Management-Prozeduren. Dass sich in einer derart volatilen Situation extrem profitable luxemburgische Immobilien dann zusätzlich als Zufluchtswerte anbieten, liegt auf der Hand. Luxemburg mausert sich zum „Coblence“ des belgischen Geldadels.

Aus Belgien kommt auch der Schachzug, mit dem der größte, aber überaus wortkarge, diskret katholische, flämische Presseunternehmer Gert Ysebaert mit seinem Mediahuis das seinerseits größte Luxemburger Presseunternehmen, Saint-Paul mit dem Traditionsblatt Luxemburger Wort, vom wirtschaftlich gebeutelten Bistum übernommen hat. Nur Naive können annehmen, dass dies eine rein betriebswirtschaftliche Entscheidung Ysebaerts ist. Saint-Paul ist der dritte Aufkauf einer Reihe wichtiger Mediengruppen durch Mediahuis, nachdem es in den Niederlanden schon NRC mit dem berühmten NRC Handelsblad oder De Telegraaf und 2019 den irischen Medienkonzern Independent News & Media (INM) erworben hatte. Mit dem Luxemburger Wort baut Ysebaert eine neue Medienstellung auf einem dritten signifikanten ordoliberal orientierten europäischen Finanzplatz außerhalb Flanderns auf. Gemeinsam ist allen drei Standorten: Sie sind für die flämische Wirtschaft wichtig. London ist ein wichtiger Partner für Antwerpen, Dublin, Amsterdam und Luxemburg, und dort sind die Folgen des Brexit für die Geschäfte noch nicht abzusehen. Schwer auszumachen, was das in der Luxemburger Medienlandschaft bewirken wird, aber politisch neutral oder im Sinne einer Kontinuität alter Konstellationen wird sich die Übernahme des Wort durch das explizit multimediale Mediahuis nicht gestalten.

Während der Pandemiewochen kam es sogar zu einem Clash mit Belgien, als Umweltministerin Carole Dieschbourg am 12. Mai in einer dringend einberufenen Pressekonferenz die Pläne der belgischen Regierung offenlegte, u. U. an der Luxemburger Grenze ein Atommüllendlager errichten zu wollen, ohne die Luxemburger Regierung im Vorfeld konsultiert zu haben.3 Die belgische Umweltministerin, die skandalerfahrene Liberale Marie-Christine Marghem, sprach von einem „ernsten diplomatischen Zwischenfall“. So etwas hat es mit Belgien nicht mehr gegeben, seit es vor hundert Jahren seine Annektierungsbestrebungen gegenüber Luxemburg aufgegeben hatte. In Belgien sorgten Dieschbourgs Informationen für größere Unruhe unter den von ihrer eigenen Föderalregierung nicht informierten Regionalministern, Parlamentariern und Bürgermeistern der betroffenen wallonischen Gemeinden am Rande des kränkelnden Königreiches, wofür sich einige so nachdrücklich bei Dieschbourg bedankten, als würden sie am liebsten von Luxemburg aus regiert werden. Kurzum: Die Entwicklungen vom inneren Zerwürfnis zur inneren Zersetzung des Königsreichs nehmen ihren Lauf.

Deutschland

So wie Luxemburg eine mit einem oder mehreren B-Plänen ausgestattete Frankreich- , Benelux- und besonders eine Belgienpolitik bräuchte, so sollte es auch stärker nach Deutschland schauen. Die Grenzschließung zu Luxemburg und zu Frankreich, dessen Nordosten vom deutschen Robert-Koch-Institut zum Krisengebiet erklärt worden war, geschah unilateral und ohne Vorwarnung, also nicht konform zum Schengen-Abkommen. Luxemburg erhielt nie eine schlüssige Antwort auf die Frage nach den Gründen dieser Entscheidung. Deutschland verhing dieselben Maßnahmen über Luxemburg wie über Frankreich, so als ob es das Land mit seinen 120.000 Grenzpendlern aus der französischen Krisenzone nur noch als ein Anhängsel Frankreichs betrachten wurde, auch wenn das explizit so nie gesagt wurde.

Anders als das Nordrhein-Westfalen von Armin Laschet, das seine Grenzen zu Belgien und den Niederlanden offen ließ, unterwarfen sich die Landesregierungen von Rheinland-Pfalz und Saarland anfänglich den Entscheidungen von Innenminister Seehofer, und die SPD trug die Sache duldsam mit. Als rufschädigende Zwischenfälle sich vermehrten, die Absurdität der Grenzschließung immer offensichtlicher wurde und Bürgermeister und Landespolitiker aufmuckten, wurde sie zwar fristgemäß, aber nicht einen Tag früher, am 15. Mai, also nach zwei Monaten, von Berlin aufgehoben.

Die sozialdemokratischen und miteinander gut bekannten Außenminister Jean Asselborn und Heiko Maas trafen sich auf der Schengener Brücke. Man gab sich versöhnlich. Ersterer, der seit der Grenzschließung täglich vor dem Schaden warnte, den Europa nehmen würde, erklärte feierlich die Wiederherstellung des Schengenraums und bezeichnete Luxemburg resigniert zum xten Mal als einen „Kollateralschaden“. Wovon, sagte er nie. Der andere bedauerte das Ganze, als ob er nichts damit zu tun gehabt hätte. Über Frankreich verlor man kein Wort, wie man auch in Luxemburg nicht über dessen autoritäres Vorgehen sprach, auch nicht über das Verbot für in Luxemburg Ansässige, die Grenze nach Lothringen zu überschreiten. Ansonsten tat man, als sei die Sache vom Tisch. Bürger kamen hier nicht zu Wort. Schüler des Schengenlyzeums aus luxemburgischen und lothringischen Ortschaften brachten die Sache auf den Punkt, als sie am ersten Schultag, dem 16. Mai, vor Fernsehkameras erklärten, dass sie sich auf einmal unwillkommen gefühlt und in den Wochen der Sperrung etwas erlebt hatten, das alles, was ihre Schule ihnen vermittelt hatte, über den Haufen warf.

Diese zwei Monate waren ein tiefer Einschnitt. Es wird auf jeden Fall schwer sein, so zu tun, als ob nichts passiert wäre. Der Glaube an Deutschlands Zuverlässigkeit und Vertragstreue ist generationsübergreifend bei den Betroffenen tiefer erschüttert, als es die Politiker auf beiden Seiten der Grenze wahrnehmen wollen. Und die Irritationen, die Luxemburgs frühe Parteinahme für Macrons Europapolitik in Berlin ausgelöst hat, sind trotz Angela Merkels integrationsfreundlicher Kehrtwende in dieser Frage auch noch nicht vom Tisch. Eine mit allen Regierungssparten verbindlich abgestimmte Strategie und Politik gegenüber Deutschland wäre hier vonnöten.

Die Niederlande

Während der Krise hat sich Luxemburg von einem weiteren traditionellen Partner still, aber spürbar entfremdet: von den Niederlanden, denen es historisch im 19. Jahrhundert und dann seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges über die Benelux zuerst, später dann über die Gründung der europäischen Institutionen stark verbunden war. Auch jetzt noch setzt sich Luxemburg wie die Handelsnation der Niederländer stark für die Freizügigkeiten des Binnenmarktes ein und sucht Wege, den Impakt des Brexits auf beide Länder abzuschwächen. Aber anders als die Holländer will Luxemburg auch eine Vertiefung des europäischen Integrationsprozesses und hat sich für ein neues gemeinschaftliches Schuldeninstrument in der jetzigen Krise eingesetzt. Damit hat es sich von seinem engen Partner, der wegen seiner harten Haltung in Sachen Corona-Hilfe in Südeuropa verpönt ist und sich als Leader der „Frugalen“ kompromittiert hat, politisch weiter entfernt denn je. Und dies trotz der engen wirtschaftlichen Verbindungen und der gemeinsamen strategischen Interessen.

China, Russland und die USA

Ein ähnliches Vorgehen wäre gegenüber China und Russland und den Betriebsniederlassungen und Investitionsvorhaben von Betrieben aus diesen Ländern vonnöten, am besten im Rahmen einer europäischen Außenpolitik, die allerdings 27 Jahre nach Inkrafttreten des Maastrichter Vertrags noch immer nicht zustande gekommen ist. Offiziell leben ca. 1.800 Russen und 3.900 Chinesen in Luxemburg. Staatseigene oder regierungsnahe Betriebe aus diesen Ländern spielen inzwischen in strategischen Wirtschaftsbereichen – Banken und Finanzen, IT, Luftfahrt, Raumfahrt, Energie – eine wichtige Rolle, ohne von anderen Abhängigkeiten im pharmazeutischen, sanitären und industriellen Bereich zu reden, die die Coronakrise offengelegt hat. Zwei systemische Banken sind fest in chinesischer Hand. Die Verwaltungsräte großer russischer und chinesischer Firmen nehmen, ganz in der Tradition des lokalen institutionellen Inzests, gerne Luxemburger Spitzenpolitiker aus der Mehrheit oder der Opposition, aktive und aus dem politischen Leben zurückgezogene, als „men of influence“ bei sich auf.

Luxemburg wird fatalerweise in nächster Zukunft wegen der sich verschärfenden Konfrontation der USA mit diesen beiden Mächten mit seinem seit der Trump-Regierung ungeliebten, amerikanischen Alliierten Schwierigkeiten bekommen. Luxemburg bietet sich zudem deswegen an, weil das kleine Land wegen seiner hohen internationalen Exposition und seinen Alleingängen ein schwaches Glied in der Kette der Unionsmitglieder ist, die Washington zusammen mit den Briten zu spalten versucht. Zeit also, sich auch hier nicht nur opportunistisch, sondern strategisch verbindlicher mit den großen Nachbarn einzulassen und aus der praktischen Erfahrung heraus wieder in die Mittlerrolle zu finden.
Mehr als innenpolitische Schnitzer

Mehr als innenpolitische Schnitzer

Aber auch innenpolitisch hat das Fehlen einer Methode des Regierens während der Pandemie wüste Blüten getrieben, eigentlich Skandale, für die so manch eine nordische Regierung oder zumindest Regierungsmitglieder längst hätten ihren Hut nehmen müssen.

So wurden die PCR-Tests für die Massentests auf das Coronavirus bei einer Siemens-Tochter, der luxemburgischen Firma FTD, früher ein Teil der Laboratoires réunis (LR), für 3,7 Millionen Euro bestellt. Diese Tests, die noch keine CE-Zertifizierung hatten, wurden von den LR begutachtet und schon vor ihrer Zertifizierung von diesen eingesetzt. Dieselben LR bekamen nun den Auftrag von 40 Millionen Euro, die Massentests durchzuführen, wohlwissend, dass es überall auf der Welt Engpässe bzw. Exportverbote in die USA und nach China für die Extraktionsreagenzien und die Swaps gibt, ohne die solche Tests weder durchgeführt noch ausgewertet werden können. Den ganzen Vorgang, ein unentwirrbares Knäuel von Interessenskonflikten, wie es sie täglich in Luxemburg gibt, bezeichnete der frühere CSV-Vorsitzende Claude Wiseler, höflich wie er ist, als „delikat“.

Derselbe Wiseler hatte schon Ende April in einer Kolumne im Lëtzebuerger Land festgestellt, dass die politischen Entscheidungen der Regierung „en matière de gouvernance de la gestion de crise restent dans le sillon d’une gestion traditionnelle avec une légère propension à une concentration des pouvoirs aux mains de l’exécutif et de réduction pour autant que possible du contrôle parlementaire“, und dass Bettel II, so als ob die Krise schon vorbei wäre, auf das traditionelle Schema Mehrheit-Opposition setze.

Das ließ sich auf nicht unbedenklichen Nebenschauplätzen nachvollziehen. So zog die Regierung eine Volksanleihe bei der Finanzierung der Krisenkosten nicht einmal in Erwägung. Man ließ zugunsten des Finanzplatzes viele nationale Sparrücklagen brachliegen. Gegen alle Proteste innerhalb und außerhalb des Parlaments wurde das Votum über einen Teil des CETA-Abkommens in der Chamber durchgeboxt. Die grüne Kulturministerin Sam Tanson ernannte ihre gute Freundin, Joanne Goebbels, zur neuen Direktorin der Nationalbibliothek, was als ein Akt flagranter Vetternwirtschaft in der Öffentlichkeit aufgefasst wurde. Goebbels zog sich daraufhin klugerweise zurück: in ihrem eigenen Interesse, dem der Nationalbibliothek und dem der Ministerin. Die Stelle ging dann an Claude D. Conter, den Direktor des Centre national de littérature, der den wichtigen Posten bei Sondierungsgesprächen abgelehnt hatte, dessen Eignung aber nie zur Debatte stand.

Im Dossier der Kostenexplosion – mehr als 180 zusätzliche Millionen – bei der Herstellung und dem Betreiben des neuen Militärsatelliten bezog Minister Bausch sich vor der zuständigen parlamentarischen Kommission lediglich auf einen PWC-Bericht. Dieser aber berücksichtigte nicht die Tatsache, dass nach dem Ausscheiden von Etienne Schneider als Verteidigungsminister nach den Wahlen vom Oktober 2018 die Prämissen des ganzen Konzepts unter der Leitung des unlängst zum Generaldirektor der Luxair ernannten Generalkoordinators des Verteidigungsministeriums, Gilles Feith, geändert worden waren. Insbesondere wurde der Bodenbetrieb des Satelliten neu konzipiert, indem man von einem internen zu einem externalisierten Betrieb überging.

Ganze 16 Tage musste die katholische Kirche auf eine Antwort der Regierung auf ihr Sicherheitskonzept warten, das eine Wiederaufnahme der Gottesdienste erlauben sollte. Der Bischof warf der Regierung Gleichgültigkeit gegenüber den Religionsgemeinschaften vor. Als endlich ein Treffen für den 22. Mai angekündigt wurde, gab Premier- und Kultusminister Bettel einen harschen, sibyllinischen, mehrdeutigen, in seiner Logik befremdenden bis abgründigen Satz in der ersten Person zum Besten: „Es ist mir nicht egal, was mit den Kultusgemeinschaften passiert, sonst hätte ich alles erlaubt, ohne Regeln“. Dieser Satz allein gäbe genügend Stoff für einen langen Exkurs über die Bettelsche Auffassung der Kunst des Regierens her, die wie ein Balanceakt zwischen Ichverliebtheit, Anomie, Autoritarismus und Willkür des Chefs der Exekutive rüberkommt, auf jeden Fall jenseits jeglichen Verfassungsrahmens.

Gefährliches Business as usual

Mitten in der Krise, die dabei ist, sich von einer sanitären zu einer wirtschaftlichen und sozialen Krise zu entwickeln, während das strategische Umfeld Luxemburgs sich tiefgreifend verändert, wird nach dem bewährten Schema von Bettel I und II weiter regiert. Politische Gegner sollen weiter aufgerieben werden. Jeder Minister zieht seine eigene Agenda durch. Die Ministerien sollen wie gewohnt als autonome Baronien mit ihren internen Subbaronien im Dienste des Chefs funktionieren. Wo die eigene Verwaltung nicht mehr mitkommt oder wegen fehlender Kompetenzen nicht mitmachen kann, werden externe Berater hinzugezogen. Zuweilen werden danach ganze Dienststellen mit Beratern aus diesen Firmen besetzt. So besteht die Direktion Space and Innovation im Wirtschaftsministerium fast ausschließlich aus angestellten Experten von Airbus.

Im Regierungsrat werden keine großen strategischen Überlegungen angestellt, auch nicht, wenn sich um Luxemburg herum alles ändert, noch weniger wenn ein europäischer Gipfel bevorsteht. Der Premier liest die Berichte des diplomatischen Apparats nicht. Seine Informationsquellen sind seine Kollegen und gut informierte Zuträger aus der Wirtschaft. Jean Asselborns diplomatische Alleingänge überraschen immer wieder seine personalmäßig gut ausgestatte Verwaltung, deren strategisches Potenzial nicht voll ausgenutzt wird. Schriftlich verbindliche Strategien, aus einer breiten Konsultation erwachsen, sind ein Tabu. Sie würden die Minister aus den drei Koalitionsparteien auf etwas festlegen, den Spielraum der einzelnen Minister beschneiden, die meisten davon abhalten, nach ihrem Gutdünken auf der ihnen zugeteilten Spielwiese zu handeln.

Damit wird Luxemburg nach innen und nach außen unberechenbarer. Der Staatsapparat erleidet einen schleichenden Kontrollverlust, der nicht nur den liberalen Ministern gleichgültig ist. Das lässt sich gut ablesen in der Art, wie Fehlentscheidungen, fragliche öffentliche Aufträge, Kostenexplosionen, Interessenskonflikte, Nachlässigkeiten, Unwahrheiten ihrer Mitglieder von einer hemmungslosen und erratischen Exekutive verharmlost und weggesteckt, und letzten Endes auch noch von einer apathischen bis mit diesem modus operandi affinen Opposition geschluckt werden. Kein gutes Omen für Luxemburg, das in der sich anbahnenden Krisenzeit, mit ihrer gefährlichen Gemengelage von Mittelknappheit, Umverteilungskämpfen und großen Veränderungen des strategischen politischen und wirtschaftlichen Umfeldes, eine Regierung – und eine Opposition – bräuchte, die all dies nicht ausblendet, sondern methodisch und mit der breitest möglichen Unterstützung angehen müsste.

  1. http://www.land.lu/page/article/674/336674/FRE/index.html (alle Internetseiten, auf die in diesem Beitrag verwiesen wird, wurden zuletzt am 25. Mai 2020 aufgerufen).
  2. http://www.land.lu/page/article/726/336726/FRE/index.html
  3. https://gouvernement.lu/fr/actualites/toutes_actualites/communiques/2020/05-mai/12-stockage-dechets-nucleaires.html

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