„Kinder stark machen“

Ein Interview mit dem Sexualpädagogen Simon Görgen über Jugend, Porno und Sexualerziehung

Das Internet hat den Zugang zu Porno für Jugendliche und sogar Kinder wesentlich vereinfacht. Was bedeutet dies für die Sexualerziehung?

Simon Görgen: Tatsächlich ist es heute für junge Leute sehr einfach auf Pornoseiten zuzugreifen, sei es über das Internet zu Hause oder im Schulhof über das Handy eines Freundes. Zugänglich ist Porno alle Mal. Weltweit stehen „Sex“ und „Porn“ auf Platz vier und sechs auf der Rangliste der Suchbegriffe von Jugendlichen.

Wichtig ist in diesem Zusammenhang, das nötige Handwerkszeug zu bieten, damit sich Kinder schützen und den Unterschied zwischen Realität und Film machen können. Dementsprechend sollte ein Dialog zu dem Kind aufgebaut werden. Man kann z.B. versuchen herauszufinden, was sie genau über Pornos und deren Produktion wissen oder weshalb sie glauben, dass sich Kinder in ihrem Alter Pornos anschauen. Über diese Fragen kann dann diskutiert werden, es handelt sich darum, über Pornos (auf)zuklären und aufzuschlüsseln. Es geht somit darum, eine Orientierungshilfe zu bieten. Dabei gilt es gleichzeitig, Offenheit zu signalisieren und nicht zu bewerten, damit das Kind versteht, um was es geht. Selbstständigkeit fördert das Selbstbewusstsein: Wenn das Kind das nötige Wissen hat, kann es Situationen besser einschätzen.

Angesichts des erhöhten Pornokonsums von jungen Leuten, sprechen manche von der „Generation Porno“. Gibt es diese wirklich? Wer gehört dazu?

S.G.: Es gab schon immer verschiedene Labels für die einzelnen Generationen. Die „Generation Porno“, wenn es die dann geben sollte, ist ein Etikett, das ein Bild einer übersexualisierten, enthemmten, ja sogar verwahrlosten Generation malt. Dieses Label wurde aber von den Erwachsenen produziert und aufgedrückt. Wir Erwachsenen sollten nicht alles mit unseren Vorstellungen schmücken, denn Erwachsenenpanik ist meistens das eigentliche Problem. Besser ist zu hinterfragen, was die Kinder eigentlich mit den Begriffen, die sie benutzen, meinen und was sie brauchen.

Inwiefern riskieren Pornos falsche Erwartungen in Bezug auf die eigenen sexuellen Erfahrungen hervorzurufen?

S.G.: Manche können den Unterschied zwischen Film und Realität natürlich besser machen als andere. Sexualerziehung spielt hier eine große Rolle: Sie schützt die Kinder und macht sie stark. Kinder lernen, was auf sie zukommt und wie ihr Körper funktioniert. Schlimmer ist, wenn nicht über die Fragen der Kinder geredet wird, dann wird’s immer spannender für sie. Folglich besteht das Risiko, dass Kinder oder Jugendliche ihre ersten sexuellen Erfahrungen lediglich früher haben, um herauszufinden, was es eigentlich ist und nicht weil sie bereit sind.

Sie pochen sehr auf die Sexualerziehung. Wo stehen wir denn heute in puncto Sexualkunde in Luxemburg?

S.G.: Sicherlich ist die Umsetzung der Sexualkunde (sie steht schon seit 1977 auf dem Lehrplan!) besser als früher. Nichtsdestotrotz fehlt es weiterhin an Stellen, denn die Nachfrage ist hoch und wir sind jetzt schon bis zum nächsten Sommer ausgebucht. Es fehlt aber insbesondere auch an Qualitätssicherung. Sexualerziehung steht und fällt mit dem Lehrpersonal. Theoretisch genügt es nämlich, sich nur mit der Autonomie der Geschlechtsorgane zu beschäftigen. Praktisch gesehen empfiehlt es sich aber, Projekte zu Themen wie persönliche Grenzen, gute und schlechte Geheimnisse und Gefühle, die Rolle des Mannes und der Frau, das Verliebtsein, u.v.m. zu organisieren. Dieser Themenkomplex kann den anatomischen Aspekt der Sexualerziehung ergänzen. Der Besuch von SexualerzieherInnen des Planning familial im Klassenraum ist hierbei ein Plus: Wir kommen nur auf Anfrage und ersetzen nicht den Sexualkundeunterricht. Wir können also keine Qualitätssicherung leisten, diese Verantwortung liegt weiterhin beim Lehrpersonal.

Sie haben den Aspekt der Gefühle erwähnt. In Luxemburg spricht man in der Tat von der „éducation sexuelle et affective“. Wie sieht eine affektive Erziehung aus? Kann man Gefühle überhaupt „erziehen“?

S.G.: Zuerst wird darüber diskutiert, welche Gefühle es überhaupt gibt. Von den fünf Basisgefühlen ist eigentlich nur eins positiv: die Freude. Es stellen sich also Fragen wie: Warum gibt es die negativen Gefühle und wie gehe ich mit diesen um? Warum kann es manchmal gut sein, Angst zu empfinden und wütend zu sein? Außerdem versuchen wir den Heranwachsenden beizubringen, dass nicht alles eklig und negativ ist, was mit Sex zu tun hat. Denn viele sehen Sex heute tatsächlich eher als negativ, als etwas, das weh tut. Ich denke auch, dass diese Einstellung sich verstärkt und extremer geworden ist im Vergleich zu früher.

Negative Aspekte oder Gefühle können jedoch auch positiv bewertet werden, deshalb ist die Orientierungsarbeit so wichtig. Erzieher oder Eltern haben oft Angst, dass diese positive Bewertung die Kinder dazu motiviert, Lust auf Sex zu haben, was erfahrungsgemäß nicht so ist, sondern nur in den Erwachsenenköpfen oftmals so interpretiert werden will. Auch empirisch gesehen stimmt dies nicht: Die Niederlande, wo Sexualkunde am frühesten beginnt, ist gleichzeitig das Land, in dem „das erste Mal“ am spätesten stattfindet. Sexualerziehung erlaubt es jungen Leuten, ihre Grenzen kennenzulernen und zu respektieren. Sie lernen dann Sex zu machen, wenn sie das auch wirklich selbst wollen.

Was sind für Sie persönlich große Herausforderungen als Sexualpädagoge?

S.G.: Bei der Sexualerziehung bringt man immer die eigene Person mit in den Prozess. Folglich muss man sich selbst sowie die eigenen Vorstellungen und Verständnisse ständig hinterfragen. Wenn mich z.B. jemand fragt, was ein „Gang Bang“ ist, dann muss ich zuerst mal herausfinden, was der Jugendliche eigentlich darunter versteht. Es ist dann auch viel einfacher, den Begriff im Dialog mit dem Jugendlichen zu definieren. Denn manchmal kenne auch ich nicht alle Begriffe. Natürlich kommt es dabei auch immer auf das Alter und die Entwicklungsstufe an.

Bis jetzt haben wir uns vor allem auf Eltern und Schule bezogen. Kinder verbringen heute aber viel Zeit in den Maison relais. Welche Rolle spielen die Erzieher im non-formalen Bereich in Sachen Sexualkunde?

S.G.: Die Erzieher, und der non-formale Bereich überhaupt, spielen eine sehr wichtige Rolle in der Aufklärung. Früher fungierten hauptsächlich das Lehrpersonal und die Eltern als Ansprechpartner. Für viele Kinder und Jugendliche waren es aber nicht die richtigen Ansprechpartner.

Die Maison relais ist heute ein neuer Raum für Fragen. Beim Tischabräumen kann die oder der Erzieher(in) dann schon mal gefragt werden, ob sie oder er denn schon mal Sex hatte. Hier ist es jedoch wichtig, dass die Eltern den Weg mitgehen, weil es gibt ja kein Curriculum wie in formalen Strukturen. Es ist also gut, wenn die Häuser eine ganz eigene Haltung und Philosophie zum Umgang mit Sexualität entwickeln. Deshalb bilden wir im non-formalen Bereich Multiplikatoren aus, die das Thema dann innerhalb ihrer Teams weiterverbreiten können.

Was geben Sie diesen mit auf den Weg?

S.G.: Obwohl es kein richtig oder falsch gibt glaube ich, dass die Anwendung verschiedener Leitlinien wie z.B. der Res-pekt vor verschiedenen Religionen und sexuellen Orientierungen in der Sexualerziehung wichtig ist. In Frankreich bspw. müssen Sexualpädagogen unterschreiben, dass sie entsprechende Leitlinien verfolgen werden. Damit wird ein Teil der Qualitätssicherung gewährt. Ich glaube aber, dass der wichtigste Aspekt, der nach wie vor vermittelt werden sollte darin besteht, dass alle Beteiligten sich wohl fühlen bei dem was sie machen. „Beide müssen es wollen“, wie im gesamten Spektrum der Gesundheits- und Sexualerziehung.

Danke für das Gespräch!

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