- Geschichte, Gesellschaft, Kultur
Klasse für die Masse
Zehn literaturkritische Gebote (Teil 1/2)
Es gibt eine Literaturkritik in Luxemburg. Man muss gelegentlich darauf hinweisen, denn diese Tatsache ist noch weniger bekannt als die Existenz luxemburgischer Literaturen. Überhaupt scheinen Bücher hierzulande vornehmlich mit Telefonnummern, Bildern, Rezepten oder Leichen in Verbindung gebracht zu werden. Dem breiten Lesepublikum ist die besorgniserregende literarische Ahnungslosigkeit, die sich monatlich an den nationalen Bestsellerlisten ablesen lässt, gleichwohl am wenigsten vorzuwerfen. Wir, die Kritiker, sollten uns dagegen in Selbstkritik üben, uns über unsere Aufgaben verständigen – und dann zusehen, dass wir diese effektiv erfüllen.
Die zehn literaturkritischen Gebote, die ich im Folgenden formulieren, ausführen und zur Diskussion stellen werde, sind keineswegs apodiktisch gemeint. Vielmehr möchte ich sie als einen ersten Beitrag zu einer notwendigen Debatte über die Ausrichtung der luxemburgischen Literaturkritik verstanden wissen. Ich habe den Geboten das Motto „Klasse für die Masse“ vorangestellt, in der tiefen Überzeugung, dass das Leitziel der Kritik darin bestehen sollte, möglichst viele Leser für möglichst gute Bücher zu gewinnen.
1. Du sollst ein Buch nicht nach seinem Einband beurteilen
Es ist nicht alles Gold, was glänzt. Der Shakespeare-Spruch mag abgedroschen klingen, falsch ist er nicht. Mit Hebbel wäre noch zu ergänzen, dass auch nicht alles glänzt, was Gold ist. Dementsprechend garantiert der schillernde Name eines Schriftstellers ebenso wenig, dass sein aktueller Roman etwas taugt, wie eine bekannte Marke automatisch die Qualität eines neuen Produkts verbürgt. Umgekehrt kann eine unscheinbare, wenig beworbene No-Name-Ware eine echte Entdeckung sein. Gewissheit verschafft letztlich nur die Einzelfallprüfung. Bezogen auf die Literaturkritik impliziert dies, dass man jedes Buch unvoreingenommen und genau lesen muss, ehe man es bewertet.
Es kann nicht angehen, dass Perlentaucher-Texte collagiert, nahezu wörtlich aus dem Deutschen ins Luxemburgische übersetzt und dann, ohne Quellenangabe, als eigenständige Rezension präsentiert werden. Sollten, was mir zu glauben widerstrebt, diese und andere unprofessionelle Praktiken in Luxemburg Usus sein, müssen wir uns wohl oder übel Anwürfe wie den von Jungkritiker Jonathan Schaake gefallen lassen. Der F.A.Z.-Korrespondent befand eine in der größten luxemburgischen Tageszeitung erschienene Rezension von Nora Wageners E.Galaxien für „sehr viel unterirdischer“ als das besprochene Buch, weil der Kritiker „nicht weit über die Inhaltsangabe des Klappentextes“ hinausgekommen sei. Die luxemburgische Literaturkritik bedarf dringend der Selbstkontrolle, wenn sie nicht weiter in Misskredit geraten will.
2. Du sollst ein Werk vor allem an seinem eigenen Anspruch messen
Junkfood, Hausmannskost und die Erzeugnisse der Spitzenküche lassen sich nicht sinnvoll miteinander vergleichen. Es wäre unangemessen, von einer Schweinshaxe zu erwarten, dass sie nach Austern schmeckt. Bei großem Appetit spricht sogar einiges dafür, das Eisbein vorzuziehen. Speisen aus Knochenputz sind hingegen immer schlecht und werden nur von Menschen mit gröbstem Gaumen für genießbar gehalten.
In der Literatur liegt die Sache ähnlich: Man kann einen Thomas-Pynchon-Roman nicht gegen einen Thriller von Stephen King ausspielen. Zwar schreiben beide Autoren keine Schmonzetten, ansonsten existiert aber kein vernünftiger Vergleichsmaßstab. Der Kritiker ist folglich gefordert, sich als literarischer Vorkoster mit sensiblen und erfahrenen Geschmacksnerven zu betätigen und kraft seiner Unterscheidungskompetenz (kritikē téchnē) herauszuschmecken, welche Art von Gericht der Schriftsteller zubereiten wollte und inwiefern es als solches mundet.
Gewiss müssen zusätzliche, formale, inhaltliche, relationale, wirkungsbezogene oder gesellschaftliche Wertmaßstäbe zur Urteilsbildung herangezogen werden, wenngleich die Wahl derselben in stärkerem Maße individuellen Präferenzen oder historischen Moden folgt. Die Kernfrage aber bleibt: Verspricht der Autor mehr, als er imstande ist einzulösen? In diesem Zusammenhang meinte der große Theaterkritiker und Spötter Alfred Kerr dereinst: „Nur was anspruchsvoll kommt und schundhaft ist: dem frommt Schadenfroheit und Spott“.1 So weit würde ich nicht gehen. Nur eines sollte man in jedem Fall: klar und deutlich urteilen.
3. Du sollst klar und deutlich urteilen
Es gehört ohne Zweifel zu den schwierigeren Aufgaben des hiesigen Kritikers, sich der Befangenheit in der Beurteilung zeitgenössischer Luxemburgensia zu erwehren, denn ist er nicht gerade mit dem Autor verwandt, verschwägert oder freundschaftlich verbunden, so wird er ihm zumindest des Öfteren begegnen.
Jedoch, es lässt sich nicht ändern: Man muss wahrhaftig bleiben und mit dem Mut zur Zuspitzung unmissverständlich urteilen. Das gilt auch und gerade, wenn ein Buch nichts taugt. Dann heißt es, Samthandschuhe abgelegt und ordentlich zugepackt, denn, wie schrieb bereits der alte Fontane: „Schlecht ist schlecht und es muss gesagt werden!“2 Es wäre unangebracht, sich aus falsch verstandener Höflichkeit und Rücksichtnahme hinter einem Gestrüpp aus Phrasen und verschleiernden Ausdrücken zu verschanzen. Nein, der Kritiker muss nicht, wie Walter Benjamin meinte, vernichten können,3 aber er muss entschieden und eindeutig werten.
4. Du sollst nicht langweilen
Eine Buchbesprechung zu lesen oder zu hören darf für den Laien keiner Selbstkasteiung gleichkommen. Was ellenlang und nur Fachleuten verständlich ist, wird selbst von diesen ungern gelesen. Die Lektüre einer Kritik sollte vergnüglich sein, sie sollte Lust auf das besprochene Buch machen, sofern es denn gelobt wurde. Vergessen wir nicht, dass der Literaturkritiker in einer seiner vielen Rollen ein Werber für die Literatur und das Lesen ist. Er spielt diese Rolle dann am überzeugendsten, wenn er es versteht, so geistreich wie anschaulich zu schreiben und mit Begeisterung über Bücher zu sprechen. Wer keine leidenschaftliche Beziehung zur Literatur pflegt, der sollte ernsthaft über einen Berufswechsel nachdenken.
Für den Literaturkritiker darf Infotainment, anders als für Neil Postman,4 kein Schmähwort sein. Unterhaltsam informieren heißt nicht zwangsläufig „boulevardisieren“, wenn auch der Drahtseilakt nicht ohne Gleichgewichtssinn gelingt. Die auf den geschätzten Kollegen Hubert Winkels zurückgehende dichotomische Kritikertypologie von emotionaliserendem Emphatiker und seriösem Gnostiker greift schlicht zu kurz.5 Es gibt sehr wohl einen Mischtypus. Sein prominentester Vertreter heißt Denis Scheck.
5. Du sollst nicht nur für deinesgleichen schreiben
Unsere Arbeit darf nicht zu einer narzisstischen, gar inzestuösen Tätigkeit für einen engen Kreis bildungsbürgerlicher Leser werden. Wir sollten nicht ausschließlich das Interesse des Kenners im Blick und den Schulterklopfer des Kollegen zum Ziel haben. Vielmehr sollten wir danach streben, alle Leser zu erreichen, auch die potenziellen. Volker Weidermann, Literaturkritiker beim Spiegel und Gastgeber des neuen Literarischen Quartetts, ermahnte unsere Zunft schon vor zehn Jahren nach Mitteln und Wegen zu suchen, „wie man das oftmals trockene Geschäft der Literaturkritik populärer machen kann, wie man die eigene Begeisterung für die Literatur vermitteln kann, ohne immer nur unter sich zu bleiben“6. Jenseits der Mosel ist diese Suche noch nicht abgeschlossen, diesseits hat sie nicht einmal begonnen.
Es wird höchste Zeit.
1 Alfred Kerr, Gesammelte Schriften, S. Fischer, Berlin, 1917, S. X.
2 Theodor Fontane, Sämtliche Werke, Carl Hanser Verlag, München, 1969, S. 875.
3 Walter Benjamin, Einbahnstraße, Ernst Rowohlt Verlag, Berlin, 1928.
4 Neil Postman, Wir amüsieren uns zu Tode. Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie, S. Fischer, Frankfurt am Main, 1985.
5 Hubert Winkels: „Emphatiker und Gnostiker“ in: Die Zeit, 30.03.2006, Nr. 14.
6 Volker Weidermann: „Das Lesen ist schön“ in: F.A.Z., 03.04.2006, Nr. 79.
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