Klasse für die Masse

Zehn literaturkritische Gebote (Teil 2/2)

6. Du sollst danach streben, die Zahl der Leser zu erhöhen

Beginnen wir mit einer anthropologischen Bestimmung: Der Mensch ist das Lebewesen, das seinen Artgenossen und sich selbst, meist mit großer Lust, Geschichten erzählt. Hierzu bietet ihm die Literatur einen reichen Fundus an. In gedruckter oder elektronischer Form harren die narrativen Texte der Weltliteratur als Drehbücher für Kopfkinofilme der individuellen Umsetzung durch den lesenden Menschen. Indes, die Wartezeiten können in Luxemburg sehr lang sein.

So ergab eine Umfrage von TNS Ilres1 zwar, dass 82% der Befragten im Jahr 2015 mindestens ein Buch lasen, jedoch ist nicht bekannt, ob es sich hierbei vielleicht um einen Ratgeber zur Steuererklärung handelte.2 Fakt ist, dass im vergangenen Jahr weniger als die Hälfte der Studienteilnehmer eine Bibliothek von innen sah. Fakt ist ebenfalls, dass lediglich jeder Vierte eine Lesung besuchte. Weit schlimmer aber wiegt die Tatsache, dass längst nicht jedermann die Literatur zur Kultur zählt. Es ist bezeichnend, dass kein einziges Mal der Name eines Schriftstellers fiel, als es darum ging, eine Kultur schaffende Persönlichkeit aus Luxemburg zu nennen.

Diese ernüchternden Erkenntnisse scheinen zu bestätigen, was Hans-Magnus Enzensberger bereits vor drei Jahrzehnten zu beobachten vorgab, nämlich, dass Literatur wieder zu einer „minoritäre[n] Angelegenheit“ geworden sei.3 Vielleicht ist dem wirklich so, doch es muss ja nicht dabei bleiben. Nach meinem Dafürhalten können wir als Kritiker neben den Bibliothekaren, Lehrern, Buchhändlern, Verlegern und Autoren nämlich einiges dazu beitragen, dass die Zahl der Leser wieder steigt. Es ist sogar unsere Pflicht, alle rhetorischen Anstrengungen zu unternehmen, damit nicht nur mehr, sondern auch bessere Bücher gelesen werden.

7. Du sollst den literarischen Geschmack prägen

Kritiker haben einen literaturpädagogischen Geschmacksbildungsauftrag. Wir sollen den Leser aufklären, seine ästhetische Urteilskraft schulen und ihn vom Bann des Bestsellermarktes befreien, sofern er unter diesem steht. Ich bin ganz bei Sigrid Löffler, wenn sie der Literaturkritik aufträgt, „die Kritik-
fähigkeit des Publikums gegenüber […] Marktstrategen [zu] schärfen“ sowie „als Markt-Korrektiv [zu] wirken, indem sie vorzugsweise Bücher propagiert, die keine Massenbasis haben“.4

Unser kulturpolitisches Fernziel muss das einer kritischen literarischen Öffentlichkeit sein. Angesichts der seichten Druckwerke, die sich seit jeher am besten verkaufen, wird das damit verbundene ambitionierte Projekt namens „Klasse für die Masse“ allerdings nur dann nicht scheitern, wenn wir die Leser dort abholen, wo sie stehen. Somit stellt die Herausbildung einer breiten Leser-Mittelschicht, die künftig lieber zu Leopold von Sacher-Masochs Venus im Pelz anstatt zu E.L. James’ Fifty Shades of Grey und zu Bram Stokers Dracula anstatt zu Stephenie Meyers Twilight greift, eine notwendige Zwischenetappe dar.

8. Du sollst offen für Neue/s sein

Ich habe Verständnis dafür, dass so mancher Kritiker lieber den neuen Portante oder den neuen Helminger bespricht, als sich auf ein im Selbstverlag veröffentlichtes, womöglich unbeholfenes Debüt eines völlig unbekannten Creative-Writing-Studenten einzulassen. In Ermangelung ausgewiesener Literaturagenten sollten sich aber zumindest ein paar von uns dazu berufen fühlen, unter anderem bei Jugend-Literatur-Preisen wie dem „Prix Laurence“ oder dem „Concours Jeune Printemps“ nach literarischen Talenten Ausschau zu halten und diese gegebenenfalls an passende Verlagshäuser zu vermitteln.

Offen für Neues zu sein, das bedeutet auch Fachkollegen im In- und Ausland mit Interesse zu lesen, sich mit ihren unterschiedlichen Rezensionsstilen auseinanderzusetzen und bereit zu sein, das eine oder andere von ihnen zu lernen. Es bedeutet ferner, das Auftauchen innovativer Formen der Literatur-
produktion und der Literaturvermittlung nicht zu verschlafen und darauf zu reagieren. Ansonsten steht zu befürchten, dass die Verlagswerber unter den Buchbloggern und die Sternchenverleiher auf Amazon den (semi-)professionellen Kritikern schon bald den Rang ablaufen.

9. Du sollst dem Autor helfen

Der Kritiker ist gehalten, dem Autor nach gründlicher Lektüre seines Werkes eine ehrliche Rückmeldung in Form einer fairen Besprechung zu geben. So gern die Schriftsteller auch Lob hören und lesen, Gefälligkeitsrezensionen sind tabu! Wenn ein Buch missraten ist, muss es im Interesse des Lesers und letztlich auch des Autors in aller Entschiedenheit, niemals aber ohne Begründung, abgelehnt werden. Nur so kann die Kritik „die Mittelmäßigen zu Bedeutenderem nötigen“ und „die Großen warnen“.5 Was den Dilettanten betrifft, so ist diesem am meisten geholfen, wenn man in den Worten des geschätzten Roger Manderscheid feststellt: „Il wullte bien, mais il puffte pas.“6

10. Du sollst der Literatur dienen

Der ideale Literaturkritiker hat viele Facetten. Er ist leidenschaftlicher Werber für das Lesen, geschmacksbildender Kaufberater des Lesers, engagierter Förderer vielversprechender Nachwuchsautoren und aufrichtiger ‚Freund‘ etablierter Schriftsteller und Verleger. Vor allem aber dient er als Torwächter der Literatur. Da in der luxemburgischen Verlagslandschaft Lektorate immer noch Seltenheitswert genießen und bei manchen Verlagshäusern die Quantität der Bucherzeugnisse leider größer als deren Qualität ist, kommt dem Kritiker als einer Art Literatur-TÜV diese Gatekeeper-Funktion im besonderen Maße zu. Man erwartet von ihm angemessene Auswahlkriterien, eine kompetente Prüfung der literarischen Qualität und eine klare Antwort auf die Frage: „Ist das gute Literatur – oder kann das weg?“

Einerseits ist die Zeit der mit dem Hammer urteilenden, medial hyperpräsenten Großkritiker à la Marcel Reich-Ranicki vorbei, andererseits dürfen wir nicht vergessen, dass alles, was unserem Gewerbe als zuverlässigem Kompass im Bücherdschungel eine größere Sichtbarkeit verleiht und die gebührende Anerkennung zuteilwerden lässt, mittelbar auch der Literatur selbst zugutekommt und diese verstärkt in den Fokus der öffentlichen Wahrnehmung rückt. Auf Letzteres sollte es uns im Endeffekt ankommen. Deshalb müssen wir Literaturkritiker endlich sicheren Schrittes von der dritten in die zweite Reihe schreiten und dort miteinander ins Gespräch kommen, über literarische Wertung, über Zwecke, Maßstäbe und Verfahren der Kritik. Dieser Artikel ist nur ein Anfang. Ich erhoffe mir von ihm, dass er als Öl im rostigen Getriebe der luxemburgischen Literaturkritik fungiert. u

1 Die Umfrage wurde vom Kulturministerium in Auftrag gegeben und hatte zum Ziel, die gesellschaftliche Bedeutung der Kultur zu untersuchen. (http://www.gouvernement.lu/6110070/201602_ TNS_Ilres_Sondage.pdf)

2 Auf Anfrage teilte mir das statistische Amt STATEC außerdem mit, dass Luxemburger im Jahr 2014 in ihrer Freizeit täglich nur für die Dauer einer Sitcom-Folge lasen. In diese durchschnittliche Lesezeit von läppischen zwanzig Minuten ist die Lektüre von Zeitungen und Magazinen, offline wie online, bereits eingerechnet.

3 Hans Magnus Enzensberger, „Rezensenten-Dämmerung“ in: Ders., Mittelmaß und Wahn. Gesammelte Zerstreuungen, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1991, S. 53-60.

4 Sigrid Löffler, „Die versalzene Suppe und deren Köche. Über das Verhältnis von Literatur, Kritik und Öffentlichkeit“ in: W. SchmidtDengler und N.K. Streitler (Hrsg.), Literaturkritik. Theorie und Praxis, Innsbruck [u.a.], Studien-Verlag, 1999, S. 38.

5 Marcel Reich-Ranick, „Nicht nur in eigener Sache. Bemerkungen über Literaturkritik in Deutschland“ in: Ders., Lauter Verrisse, München, dtv, 1970/2000, S. 24.

6 Roger Manderscheid, Der sechste Himmel (Feier a Flam), Saarbrücken, Gollenstein Verlag, 2006, S. 222.

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