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Kleine Ethnographie der Ökonomie des kooperativen Lebens
Ein Blick aus dem Jahr 2035
„Eine Ware scheint auf den ersten Blick ein selbstverständliches, triviales Ding. Ihre Analyse ergibt, dass sie ein sehr vertracktes Ding ist, voll metaphysischer Spitzfindigkeit und theologischer Mucken.“ (Karl Marx, Das Kapital, 1. Buch, 1. Kapitel, 1867)
Jeremy Rifkin (1945-2032) war ein bekannter, US-amerikanischer Ökonom, Publizist und Berater vieler Regierungen. Mit einem wissenschaftlichen Team arbeitete er 2015-2016 eine Strategie für Luxemburg aus, die dem Großherzogtum zu einer sogenannten Dritten Industriellen Revolution verhelfen sollte. Aus der heutigen Perspektive des Jahres 2035 möchte ich Alltagsaspekte einer Ökonomie des kooperativen Lebens darstellen, die retrospektiv weit über Rifkins technologielastige und teilweise recht inkohärente Grundannahmen hinausgehen und in Wirklichkeit auf tatsächlichen Veränderungen von sozialen und politischen Strukturen aufgebaut wurden:
Menschen. Sie sind aktive Bürger und echte Teilhaber der Wohngemeinschaften, -gemeinden und der Gesellschaft im Allgemeinen. Sie sind Talentträger und Anbieter von Waren sowie Dienstleistungen. Sie fungieren als Macher, Mitarbeiter, Produzenten, Koproduzenten, Schaffende, Kreative, Händler und Verteiler. Durch Zusammenwirken und -arbeit schaffen diese Menschen Gemeinschaften, Unternehmen, Organisationen und Verbände, die Peer-to-Peer-Prinzipien (P2P)1 beachten. Teil- und Tauschbörsen (Carsharing, Leihgemeinschaften, o.ä.), die ihren Ursprung in der Krisenzeit/ den Krisenzeiten zwischen 2008 und 2020 haben, haben sich weiterentwickelt, so dass sie nicht nur „die Umwelt schonen“ und „einen bewussteren und sozialeren Konsum ermöglichen“. Während die frühe Sharing Economy noch Ausdruck der Erlebnis- und Spaßgesellschaft und das Privileg derjenigen war, die Zugang zur virtuellen Welt hatten, wurden durch die Protest-bewegungen der 2. Dekade des 21. Jahrhunderts frühe Design-Fehler überarbeitet. So wurden z.B. Arbeiter bei Airbnb im Jahre 2015 wie „Independent Contractors“ behandelt und somit ausgelagert. Dementsprechend waren sie – wie bei herkömmlichen kapitalistischen Entwicklungen – der Willkür einer ausbeuterischen Profitmission ausgesetzt. Somit wurde die Sharing Economy kooptiert und in die Logik des Kapitalismus einverleibt. Eines der historisch belegten Hauptprobleme derartiger Unternehmen war, dass sie nur auf Effizienz und Innovation, jedoch nicht auf Suffizienz und echten und institutionalisierten Werten basierten (siehe auch 4. Governance).
Planet. 2015 war der planetare Overshoot2 dermaßen fortgeschritten, dass Luxemburg seine ihm zustehenden Ressourcen bereits am 1. Februar aufgebraucht hatte. Um die Regeneration des Planeten zu ermöglichen, bestand die frühe Ökonomie des kooperativen Lebens darauf, ein Produkt nicht linear, sondern in einem Kreislauf zu begreifen. Das Produkt entstand hier erstmals nicht nur aus Gründen der Markterschließung oder kurzfristigen finanziellen Profits und man versuchte Teile des Produktes wiederzuverwenden. Dieses Recycling entstand aus guten Intentionen, wurde jedoch vom Profitdenken und der Globalisierung eingeholt. Weiterhin flossen in diesen veralteten Modellen im Sinne von „Weniger-Schaden-Anrichten“ nur Teile des Produktes in einer Downcycling-Spirale anstatt in einem wirklichen geschlossenen Kreislauf. Das Cradle-to-Cradle-Konzept (C2C)3 ist seit ca. 2025 den Kinderschuhen entwachsen und als Konsequenz wurden z.B. Gift- und Schadstoffe aus Produktionszyklen entfernt, da ihre Präsenz in menschlichen und umweltlichen Systemen nicht mehr tragfähig war. In der Ökonomie des kooperativen Lebens erfahren biomimetische Prozesse mittlerweile die weitaus stärkste soziale und kulturelle Wertschätzung, da sie in direkter Verbindung mit dem Wohl des Planeten und dem Gemeinwohl aller Lebewesen stehen. So gehören heute z.B. biomimetische Wasseraufbereitungsanlagen und semipermeable Biomimesis-
Kleidung zum kulturellen Standard.
Während man im 20. Jahrhundert eine Untergrenze definierte in Bezug auf das, was wirtschaftlich notwendig ist, um leben zu können, wurde von der ABCF (Alliance of Bioregions4 for a Cooperative Future), zu deren Gründungs„staaten“ im Jahre 2018 auch Luxemburg zählte, eine Obergrenze definiert, bei deren Umsetzung das Gemeinwohl das primäre ethische Prinzip und Leitbild darstellt. Diese Obergrenze wird oft als Langzeit-Engagement verstanden, da sich die Konsequenzen der Wirtschaftsausrichtung im 20. Jahrhundert tief in die Vergangenheit und weit in die Zukunft ausgedehnt haben. Besonders sichtbar wurde dies beispielsweise durch die Endlichkeit der fossilen Energien, die globalen Energiekriege am Anfang des 21. Jahrhunderts, und das Begreifen auf politischer Ebene um 2021, dass der Lebensstil der damals noch als „Industriestaaten“ bezeichneten Länder eine direkte Gefahr für die Menschheit darstellte. Diese Entwicklung, die den Paradigmenwechsel ins kooperative Zeitalter vollzog, passierte aufgrund von drei Ereignissen zwischen 2019 und 2020:
1. die Nuklearkatastrophe von Johannesburg,
2. die durch Ölrationierungen ausgelösten Unruhen und Hungersnöte sowie das Umstellen der lokalen Lebensmittelproduktion auf agroökologische Landwirtschaft
3. der geomagnetische Sturm, der die gesamte globale Internetarchitektur sowie seine technischen Abhängigkeiten am 5. März 2019 für sechs Monate komplett lahmlegte und eine wahrhafte Explosion von grassroots, low-tech Innovationen in den Bereichen Arbeitserleichterung, Transport, Energie, usw. mit sich zog.
Wertschöpfung und Tauschsysteme. In der Ökonomie des kooperativen Lebens produzieren Menschen, Organisationen und Gemeinschaften als aktive Teil-
nehmer Waren und Dienstleistungen. Dieses Angebot entsteht durch kollektive und kooperative Mechanismen, welche sozial, kulturell und rechtlich verankert sind. Neben den Kooperativen des 20. Jahrhunderts, die im Luxemburg von 2030 immer noch bestehen, gibt es nun Allmende-Organisationen, die das größte soziale und kulturelle Prestige mit sich bringen. Die Produktion ist offen und zugänglich für alle diejenigen, die produzieren wollen und Entrepreneurship wird aktiv gefördert. Persönliche und finanzielle Sicherheit wird nicht mehr individuell gedacht wie noch Anfang des 21. Jahrhunderts, sondern ist immer eingebettet im größeren Kontext von Gemeinschaft, Ökologie, Zeit und Raum. Diese Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten geht mit der Motivation der Akteure einher, sich für produktive Aktivitäten zu engagieren, anstatt nur einen Job während einer bestimmten Anzahl von Stunden oder sogar für den sprichwörtlichen „historischen Boss“ zu erledigen.
In einer Ökonomie des kooperativen Lebens koexistieren viefältige Tauschsysteme, Wertschöpfungsmöglichkeiten und Handlungsanregungen. Komplementärwährungen wie der „Beki“, der „Sou“, der obsolete „Héngerdéif“ und der „Miseler“ haben die Menschen viel über regionale Kreisläufe gelehrt und wurden weiterentwickelt hin zu elektronischen, völlig transparenten Systemen, die das Finanzsystem Luxemburgs revolutioniert haben. Zeitbanken5, soziale Investitionen und Sozialkapital fördern die effiziente Nutzung von vorhandenen irdischen Geschenken (bis zum 21. Jh. waren diese nur salopp ausgedrückt unter dem Begriff „Ressourcen“ bekannt) und basieren vor allem auf materiellen und nichtmateriellen Belohnungen, wie z.B. Anerkennung von Leistung, Unabhängigkeit und Pioniergeist, Achtung in der Gemeinschaft, usw.
Im Sinne der linearen, energieintensiven Wirtschaft des 19.-20. Jahrhunderts war Abfall am Anfang des 21. Jahrhunderts ein Übel, das sich in Form von winzigen Plastikmolekülen von Weichmachern im menschlichen Körper wiederfand und hormonelle Systeme aus dem Gleichgewicht brachte sowie im küstenentferntesten Teil des Ozeans, in denen es regelrechte Müllstrudel gab. In der kooperativen Ökonomie existiert das Wort „Abfall“ nur als Idee der „Ressource am falschen Ort“. Stoffkreisläufe sind größtenteils geschlossen, sodass die Mehrheit der Tauschsysteme auf regionaler Ebene abgewickelt werden. Es würde niemandem mehr einfallen, in einem geschlossenen System wie der Erde etwas als „Externalität“ auszulagern6; das globale Bewusstsein kann diese Art Denkfehler einfach nicht mehr ausklammern. Im Systemdenken, das sich zur kulturell dominanten Denkweise entwickelte, werden Auswirkungen einer Aktion immer berücksichtigt und integriert. Durch bewährte partizipative Entscheidungs- und Governance-Systeme (siehe 4. Governance) werden Ressourcen sowohl effizient als auch gerecht verteilt. Verfügbare Ressourcen werden so denjenigen zugewiesen, die anhand geschlossener Kreisläufe arbeiten. Die Nutzung eines Produkts wird durch Strukturen wie Genossenschaften und Modelle wie etwa den kollaborativen Konsum gewährleistet. Dies hat eine große Veränderung in Bezug auf das kulturelle Verständnis von Streben nach Eigentum bewirkt, was wiederum bewirkt hat, dass eine Ideologie des Wachstums sich zunächst als nicht zumutbar entpuppte. In der Folge wurden dann andere Möglichkeiten sichtbar, praktizier- und „salonfähig“ gemacht hat. Diese anfangs sehr kontroverse und vom Staat bekämpfte Entwicklung ist die Basis des heutigen Envelopment Wirtschaftsmodells sowie der Weaving-Arbeitsteilung, welche beide von der ABCF als erstrebenswert erlebt werden.
Governance.7 Die Ökonomie des kooperativen Lebens bietet den Bürgern die Möglichkeit, Macht auf wirtschaftlicher wie auch sozialer Ebene umzuverteilen. Hier wurde über Jahrzehnte ein offener, demokratischer Entscheidungsprozess in ein entsprechendes, robustes Governance-System eingebettet, das sich „Soziokratie“ oder liquid democracy nennt. Bei ihr handelt es sich um eine evolutive Organisationsform, mit der Organisationen verschiedener Größe – von der Familie, über Unternehmen und NGOs bis zu Bioregionen – konsequent Selbstorganisation umsetzen können. Sie basiert auf Erkenntnissen der Systemtheorie. Ihr Hauptziel besteht in der Garantie einer Untergrenze für soziale Sicherheit, weil ein Ignorieren von Bedürfnissen strukturell vermieden wird. Die Mitglieder einer Organisation entwickeln Mitverantwortung, sowohl für den Erfolg der Organisation als Ganzes als auch für jeden Einzelnen. Dieses System erleichtert den gemeinsamen Zugriff auf emergierende Handlungsmöglichkeiten.
Als gutes Beispiel dient die Energiever-sorgung, welche heute gänzlich regional aufgestellt und in Bürgerhand ist. Die Umgestaltung der Entscheidungsprozesse und somit der Machtverteilung erlaubt Bürgern eine reelle Anteilnahme an der Basisinfrastruktur (z.B. Energieversorgung, Arbeitsteilung, Lebensmittelproduktion und Bildungsangebot) und einen fairen Lohn für jeden. Heute verbindet Bildung Generationen, Praxis und Theorie, Module über Systeme und Empowerment. Das archaische Denken in „Disziplinen“ hat immer noch seinen Platz bei spezialisierten, technischen Aspekten von Projekten, doch jeder hat die Notwendigkeit transdisziplinarer Zusammenarbeit verstanden und Gemeinschaften setzen dies auch praktisch um. Menschen sind motiviert, um unternehmerisch zu handeln, da Gemeinwohl nicht mehr gegenteilig zu Egoismus verstanden wird. Die Ungleichheit, Armut und Ausschluss können somit verringert und der Handel gerecht (und immer in Verbundenheit mit Gemeinwohl als höchstem Gut) gestaltet werden.
Durch die Öffnung von Gesetzesgestaltung durch Massenteilnahme-Plattformen ist der Mechanismus für die Gesetzgebung wahrlich demokratisch, öffentlich und jedem zugänglich. So sind die betroffenen Menschen direkt involviert und tragen Teilverantwortung, ihre Gesetze kontinuierlich zu verbessern und dem Kontext anzupassen. Dies geschieht durch offene, erlernte und strukturierte Kommunikationstechniken, die heute als essenzielle Kulturtechniken begriffen werden. Das heißt nicht, dass Konflikt gänzlich abwesend ist, im Gegenteil: Es lohnt sich, die Bedürfnisse, die dem Konflikt innewohnen durch kommunikative Prozesse herauszuarbeiten und sie ans Licht zu bringen. Die Kultur wertzuschätzen, ermutigt und befähigt Menschen, ihr Bestes zu leben und ganzheitlich zu evoluieren. Der mit dieser sozialen Strukturierung einhergehende Lebensstil bestärkt Menschen, Vertrauen, Gesundheit, Glück und andere Ziele des guten Lebens als erweiterte Konzepte zu erproben und weiterzuentwickeln. Die Ökonomie des kooperativen Lebens ist transversal über ehemals zerstrittene Sektoren, Regionen, Religionen, Ethnien, Geschlechter und wirtschaftliche Hintergründe hinaus eingebettet.
1. Siehe Kasten.
2. Der World Overshoot Day, also der Welterschöpfungstag fand dieses Jahr am 13. August statt. Ermittelt wird dieses Datum alljährlich vom „Global Footprint Network“. Die Berechnungen dieser Organisation beruhen auf dem ökologischen Fußabdruck von 150 Nationen mit 5400 Datenpunkten pro Jahr und Land. Problematisch ist in diesem Kontext, dass die Menschheit nicht nur seit Jahrzehnten immer mehr ökologische Schulden aufbaut, sondern auch jährlich einen höheren Kreditrahmen beansprucht, d.h. jedes Jahr ist der Welterschöpfungstag früher.
3.Siehe Kasten.
4.Eine Bioregion ist eine Region, die eine ökologische und geografische Einheit bildet, d.h. die durch physische Eigenschaften wie zum Beispiel Wasserscheiden, Gebirge oder Wüsten und anthropogene, kulturelle Merkmale definiert werden.
5.Eine Zeitbank ist eine meist lokale Vereinigung zur Erbringung gegenseitiger Leistungen auf Grundlage einer geldlosen Tauschwirtschaft. Sie stellt eine organisierte Form der Nachbarschaftshilfe dar. Im Unterschied zu den Tauschringen besteht bei Zeitbanken die explizite Möglichkeit ein Ansparguthaben zur zusätzlichen Altersversorgung aufzubauen.
6.Als externen Effekt oder Externalität bezeichnet man in der Volkswirtschaftslehre die unkompensierten Auswirkungen ökonomischer Entscheidungen auf unbeteiligte Marktteilnehmer – vereinfacht gesagt also Auswirkungen, für die niemand bezahlt oder einen Ausgleich erhält.
7.Governance bezeichnet allgemein die Lenkungs- und Entscheidungsformen, die eine politische oder soziale Gemeinschaft sich auferlegt, und nach denen sie handeln möchte.
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