- Klima
Klimakrise
Wir brauchen einen Systemwandel jenseits des Technofix
Laut Weltklimarat hat die Menschheit weniger als zehn Jahre Zeit, um die Klimawende zu schaffen.1 Wir brauchen daher eine mutige und schnelle Dekarbonisierung anhand von vorhandenen und skalierbaren wirtschaftlichen und technischen Lösungen in den Bereichen Energie, Gebäude, Verkehr, Industrie und Landwirtschaft. Die klimapolitischen Bestrebungen sämtlicher Länder haben in den letzten Jahrzehnten jedoch gezeigt, dass wir diese Ziele ohne einen Systemwandel nicht erreichen können.2 Die bis jetzt abgegebenen Reduktionsversprechen im Rahmen des Pariser Abkommens sind nicht radikal genug, um schlimme Erderwärmungsszenarien abzuwenden.3
Dieser Beitrag beruht auf der Idee, dass eine auf Technologiewandel basierende Dekarbonisierung nicht genug ist – obwohl sie absolut notwendig wäre. Die folgende Analyse stützt sich auf der Arbeit des Nachhaltigkeitsrates, der NGO-Plattform Votum Klima und von CELL – the Transition Hub.
Der systemische Ansatz
Wenn sich die Politik nur auf bestimmte Schadstoffe, Sektoren oder Ursachen konzentriert, besteht die Gefahr, dass sie wesentliche Hebel zur Problemlösung übersieht. Es kann zu Problemverschiebungen und Rebound-Effekten kommen. Wir brauchen daher tiefgreifendere Veränderungsprozesse und eine multidimensionale Perspektive, die über den Kohlenstoff hinausgeht und sich der Lebensprozesse des Planeten bewusst ist.
Der ökologische Fußabdruck
Das Luxemburger Wirtschaftssystem führt zu einem außergewöhnlich großen ökologischen Fußabdruck. Ein großer Teil davon besteht aus Kohlenstoff. Wenn der luxemburgische Pro-Kopf-Verbrauch der globale Maßstab wäre, bräuchten wir mehr als sieben Planeten, um ausreichend wiederherstellbare Ressourcen zu liefern. Die Konsequenz: Beim Earth Overshoot Day Mitte Februar 2023 landete Luxemburg weltweit auf dem zweiten Platz.
Der Pro-Kopf-Energieverbrauch in Luxemburg ist mit 60 Megawattstunden fast doppelt so hoch wie der europäische Durchschnitt.
Der Luxemburger Nachhaltigkeitsrat hat 2023 eine sektorielle Aufteilung des Fußabdruckes anhand von Zahlen des Luxembourg Institute of Science and Technology (List) vorgelegt. Dabei schlagen die Ernährung (insbesondere Fleisch), der verkehrsbedingte Treibstoffkonsum und der Verbrauch von Konsumgütern in Luxemburg besonders hoch zu Buche. Allerdings ergeben sich daraus auch sehr konkrete Pisten für Verbesserungen.
Der Konsum
Der Pro-Kopf-Energieverbrauch in Luxemburg ist mit 60 Megawattstunden fast doppelt so hoch wie der europäische Durchschnitt4. Im europäischen Vergleich ist der Energiemix extrem kohlenstoffhaltig und zu 78 % von fossilen Brennstoffen abhängig.5 Damit ist Luxemburg der größte Pro-Kopf-Emittent von Treibhausgasen in der Europäischen Union.6

Die mögliche Antwort auf „zu viel“ ist logischerweise „weniger“. Mehr Genügsamkeit (kein Verzicht!) bedeutet nicht nur eine Befreiung von Reizüberflutungen, sondern stärkt auch lokale Wirtschaften und die Entwicklung von alternativen Gesellschaftsmodellen, in denen Konsumgüter geteilt und repariert werden und ihre Nutzung so verlängert wird.
Der Flächenverbrauch
Durch künstliche Bebauungsprojekte wird in Luxemburg jährlich eine Fläche von umgerechnet 250 Fußballfeldern versiegelt.7 Mit einem geschätzten jährlichen Bevölkerungsanstieg von bis zu 13.000 Einwohner*innen bis 20608 und der europaweit höchsten Pro-Kopf-Wohnfläche mit etwa 53 Quadratmetern9 lässt sich diese Bebauungsrate kaum bremsen. Wo mehr Einwohner*innen leben, benötigt eine Gegend außerdem mehr Infrastruktur für Bildung, Gesundheit, Handel und Verkehr.
Die Ziele der Luxemburger Landesplanung zur Reduzierung und Konzentration der Bodenversiegelung sind zwar lobenswert, eine „Netto Null“-Bodenversiegelung bis 2050 wird allerdings nicht ausreichen, um Lebensräume und Arten nachhaltig zu schützen: Mit „Netto“ darf zwar die Gesamtfläche des Landes nicht weiter versiegelt werden – das Risiko, dass wertvolle Ökosysteme für Infrastrukturprojekte geopfert werden, weil sie woanders flächenmäßig „kompensiert“ werden können, bleibt dennoch. Denn die in dem Gebiet verlorenen Arten sind trotzdem verloren. Ansätze zur „absoluten Null“ in der Neuversiegelung liegen darin, Bestehendes zu sanieren, Neubauten auf die bereits versiegelten Flächen in den drei Ballungsräumen Agglo-Zentrum, Südregion und Nordstadt zu konzentrieren, auf urbane Verdichtung zu setzen, und Wohnformen wie Wohngemeinschaften, Wohnungsgenossenschaften und Mehrfamilienhäuser zu fördern.
Die Exnovation
Luxemburg investiert jährlich erhebliche Fördergelder in die Innovation. Damit will die Politik unter anderem den Ausstieg aus fossilen Technologien finanzieren: Europaweit ist Luxemburg Spitzenreiter an Innovationsgeldern pro Kopf.10 Damit Innovationen bestehende Technologien und Praktiken aber nicht nur ergänzen, sondern langfristig ersetzen, müssen wir nicht-nachhaltige Produktionsmodelle, Produkte und Praktiken aufgeben. Eine Exnovation wird fällig.
Die mögliche Antwort auf „zu viel“ ist logischerweise „weniger“.
Die Verantwortlichen müssen diesen Übergang frühzeitig politisch planen, durchdacht einleiten und begleiten. Der Strukturwandel wird somit nicht zum Strukturbruch. Ein in der Gesetzgebung (und Regulierung) verankerter Ausstiegsplan, idealerweise mit Branchenvertreter*innen ausgehandelt, bietet allen Beteiligten Planungs-, Investitions- und Rechtssicherheit.
Die soziale Innovation
Jenseits der Technologie sollte der Staat die Entwicklung sozialer und institutioneller Innovationen unterstützen. Das geht teilweise durch finanzielle Unterstützung – allerdings nicht ausschließlich. Um der Komplexität der Transformationen gewachsen zu sein, muss die Regierung das Trial and Error-Prinzip stärken.
Räumlich und zeitlich begrenzte Experimentier- und Planspiele mit neuen Regelungen demonstrieren die Machbarkeit gesellschaftlicher und institutioneller Innovationen. Auf lange Sicht unterstützen sie damit eine Transformation, die das Leben der zukünftigen Generationen gewährleisten kann. Auch die konsequente Einbindung neuer Akteur*innen und der Zivilgesellschaft helfen dabei, nachhaltige Anpassungen zu fördern: Diese Pionier*innen des Wandels ziehen weitere Multiplikatoren mit transformativem Potenzial mit sich – etwa so, wie es bereits in Reparatur-, 3D Druck- und Hacking-Techniken passiert ist.
Das Postwachstum
Das Wirtschaftswachstum wird keine erheblichen Verbesserungen hervorbringen, solange es sich lediglich mit den Attributen „nachhaltig“, „grün“ oder „sozial“ schmückt – im Gegenteil. Quantitatives Wirtschaftswachstum, gemessen durch den Anstieg des Bruttoinlandsprodukts (BIP), korreliert mit einem Anstieg der Treibhausgasemissionen. Für den Umweltschutz ist das kontraproduktiv.
Unsere Gesellschaft braucht andere Indikatoren zur Messung des Gemeinwohls, der Lebensqualität, der sozialen Gerechtigkeit, des Umweltschutzes und der Interessen künftiger Generationen. Die Regierung sollte das seit Jahren bestehende Projekt „PIBien-être“ auch tatsächlich als politisches Entscheidungsinstrument nutzen.
Eine weitere große Baustelle für die kommende Regierung wird das Entkoppeln der Sozialversicherung (unter anderem des Rentensystems) vom Wirtschaftswachstum sein. Um das aktuelle Rentensystem weiter finanzieren zu können, müssten im Jahre 2040 mehr als 800.000 Menschen in Luxemburg arbeiten!11
Ein regeneratives Wirtschaftssystem
Ein regeneratives Modell muss unser (noch) bestehendes Wirtschaftsmodell ersetzen. Es gilt nicht nur, weitere Schäden zu verhindern: Wir müssen auch reparieren, was bereits zerstört wurde, und regenerieren, was verloren gegangen ist. Die Verpflichtung zu einer Kreislaufwirtschaft, das Erreichen der CO2-Neutralität und der Aufbau einer widerstandsfähigen Infrastruktur sind drei entscheidende Schritte, mit denen wir die globale Erwärmung reduzieren können.
Die Klimakrise wird weitgehend durch die umweltschädigenden Aktivitäten einer Minderheit der Bevölkerung angeheizt.
Ein wichtiger Hebel ist dabei die schrittweise Reduzierung der Klimaauswirkungen des luxemburgischen Finanzsektors: Finanzakteur*innen sollen künftig dazu verpflichtet werden, Investitionen in fossile Brennstoffe zu reduzieren – genau wie Unternehmen, die sich nicht am Pariser Abkommen orientieren. Außerdem müssen sie die Klimaauswirkungen ihrer Finanzprodukte transparent machen. Neue Wirtschaftsparadigmen – etwa die Gemeinwohlökonomie – lassen sich in Pilotprojekten erproben.
Die soziale Gerechtigkeit
Die Klimakrise wird weitgehend durch die umweltschädigenden Aktivitäten einer Minderheit der Bevölkerung angeheizt: Die reichsten 10 % der Weltbevölkerung sind für fast 50 % des gesamten Kohlenstoffausstoßes verantwortlich.12 Gleichzeitig leiden die Menschen mit dem geringsten Einkommen der Welt am stärksten unter den Auswirkungen des Klimawandels. Noch dazu haben sie weniger Ressourcen, um sich anzupassen oder umweltfreundliche Verhaltensweisen anzunehmen.
Umweltfreundliches Verhalten darf nicht ausschließlich wohlhabenden Haushalten vorbehalten sein. Alle politischen Maßnahmen müssten deswegen das öffentliche Interesse und das Gemeinwohl in den Vordergrund stellen, die Solidarität und Widerstandsfähigkeit der Gesellschaft stärken, sozial gerecht sein und dafür sorgen, dass keine zusätzlichen Kosten für benachteiligte Menschen anfallen.
Die Regierung muss ihre zaghaft begonnenen Baustellen weiterführen: Dazu gehört, ihre Klimapolitik mit Maßnahmen in anderen Politikbereichen zu kombinieren (zum Beispiel im sozialen Wohnungsbau und im öffentlichen Nahverkehr) und eine echte Steuerreform durchzuführen. Diese soll auf mehr soziale Gerechtigkeit abzielen.
Kohärenz
Die Zivilgesellschaft fordert seit langem Politikkohärenz. Diese soll verhindern, dass Teile der Regierungsmaßnahmen die positiven Bemühungen auf einer anderen Seite (etwa in der Kooperationspolitik oder Klimapolitik) zunichtemachen. Die zukünftige Regierung muss in der Politikgestaltung einen systemischen Ansatz verfolgen, die Koordination zwischen den Strategien (der verschiedenen Ministerien) stärken und die Regierungsführung verbessern.
Der systemische Ansatz kann sich nur entwickeln, wenn die Politik auf allen Ebenen eine transversale Verantwortung anerkennt: zwischen den Ministerien, zwischen der Regierung und den Gemeinden und Regionen, aber auch zwischen den unterschiedlichen Akteur*innen (Öffentlichkeit, Privatunternehmen, Bürger*innen und Vereinswesen, Forschung und Bildung). Der Rechnungshof schlägt etwa vor, die Tripartite zu einer Quadripartite zu erweitern, um die Stimme des Klimaschutzes und zukünftiger Generationen zu integrieren.
Der von der Regierung eingeführte Nohaltegkeetscheck auf Gesetzesentwürfe, Verordnungen und öffentlichen Einrichtungen ist verbesserungswürdig: Sie könnte transparente Kriterien integrieren, ein Monitoring durch eine regierungsunabhängige Instanz durchführen lassen und die Resultate des Checks als bindend verordnen.
Eine konsequente Bürgerbeteiligung
In Luxemburg lässt sich seit einigen Jahren ein Trend der Bürger*innenbeteiligung beobachten: Das Biergerkommitee Lëtzebuerg 2050, der Klima-Biergerrot oder kommunale Foren zu unterschiedlichen Themen sind nur einige Beispiele dafür. Entscheidend für die Qualität von Partizipationsverfahren ist allerdings nicht ihre Anzahl, sondern die Beteiligungstiefe. Wenn Teilnehmende von Beteiligungsformaten diese als Alibiveranstaltungen ohne inhaltliche Relevanz für die spätere Entscheidungsfindung wahrnehmen, sind solche Verfahren sogar kontraproduktiv. Sie können bei den Bürger*innen zu Frustration und Misstrauen gegenüber diesen demokratischen Instrumenten führen.
Die Politikwissenschaftlerin Sherry R. Arnstein veröffentlichte 1969 die „Ladder of Citizen Participation“, in der sie unterschiedliche qualitative Ebenen der Teilhabe an Entscheidungen vorstellt.13 Eine echte Partizipation erfordert nach Arnstein unter anderem eine integrative Moderation, Transparenz und einen regelmäßigen Austausch mit der Gesellschaft. Die Bevölkerung soll von Anfang bis Ende des Prozesses einbezogen und dazu legitimiert werden, sich zu beteiligen.
Dazu gehören auch Vorkehrungen, die den Bürger*innen den Zeitaufwand für partizipative Projekte ermöglichen, etwa durch Arbeitszeitverkürzung, Beteiligungsurlaub oder ein universelles Grundeinkommen. Bürger*innen sind zu mehr fähig als nur punktuell ihre Meinung zu öffentlichen Projekten und Prozessen abzugeben. Eine „Bürger*innenkammer“ parallel zur Abgeordnetenkammer und permanentere partizipative Denkfabriken könnten die tatsächlichen Bedürfnisse der Gesellschaft ermitteln und langfristige Übergangsstrategien entwickeln.
Nur durch das gemeinsame Handeln von Politik und Gesellschaft können wir eine nachhaltigere Zukunft aufbauen, von der auch unsere Enkel*innen etwas haben. Noch haben wir Zeit, aber nicht mehr viel: Die kommende Legislaturperiode wird im Kontext der Klimakrise entscheidend sein!
1 https://www.ipcc.ch/2022/04/04/ipcc-ar6-wgiii-pressrelease/ (Alle Internetquellen, auf die in diesem Beitrag verwiesen wird, wurden zuletzt am 25. August aufgerufen).
2 https://ourworldindata.org/co2-emissions
3 https://www.ipcc.ch/report/sixth-assessment-report-cycle/
4 https://ourworldindata.org/grapher/per-capita-energy-use?tab=table
5 https://www.iea.org/reports/luxembourg-2020
6 https://ourworldindata.org/grapher/co-emissions-per-capita?tab=table
7 https://tinyurl.com/4u9jdrf7
8 https://tinyurl.com/5n79ynzb
9 https://tinyurl.com/2p8fecv4
10 https://tinyurl.com/33m5kz3t
11 https://orbilu.uni.lu/bitstream/10993/11566/2/LSF_Kolumne_Okt2010final.pdf
12 https://tinyurl.com/y4uex6y5
13 Arnstein, Sherry R., „A Ladder of Citizen Participation“, in: Journal of the American Planning Association, 35 (1969), No. 4, S. 216-224.
Passend dazu: unsere Dossiers in den forum-Heften 431 Suffizienz (2023), 356 Négocier le climat (2015) und 291 2°C? (2009)
Norry Schneider, gelernter Naturwissenschaftler, arbeitet seit 2015 für das Luxemburger Transition Hub CELL und ist Vizepräsident des Luxemburger Nachhaltigkeitsrates.
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