Können Bürgerräte unsere Demokratie retten?
Einführungs ins Dossier
Viele Staaten erleben derzeit eine Krise, ja vielleicht sogar eine Erosion der Demokratie. Tatsächlich lassen sich einige Tendenzen beobachten, die unsere Demokratien auf Dauer bedrohen könnten. Ein erstes Indiz ist das abnehmende Vertrauen in etablierte Institutionen. Vertreter*innen aus verschiedenen Sphären – sei es in Politik, Medien oder Wissenschaft – kämpfen seit Jahren um ihre Glaubwürdigkeit. Die Pandemie hat diesen Vertrauensverlust noch verstärkt. Ein weiteres Symptom für eine Krise der Demokratie ist die tendenziell sinkende politische Beteiligung, die zum Teil auf den Vertrauensverlust zurückzuführen ist. In den vergangenen Jahrzehnten ist es den Volksparteien nicht gelungen, ihre traditionellen Wähler*innen hinter sich zu vereinen. Populistische Parteien erleben währenddessen einen Aufwärtstrend – ein weiteres Symptom der aktuellen Malaise der Demokratie.
Demokratie in der Krise
Der weltweite Niedergang der Demokratie ist durchaus alarmierend und bereitet Politikwissenschaftler*innen seit einiger Zeit viel Kopfzerbrechen. Krisendiagnosen sind deshalb allgegenwärtig. So sind in den letzten Jahren Hunderte von Büchern über den demokratischen Untergang erschienen. Eine der Hauptbotschaften, die aus diesen Werken hervorgeht, ist, dass der Untergang der Demokratie wahrscheinlich nicht über Nacht geschehen wird – etwa durch einen gewaltvollen Putsch oder einen Militärcoup –, sondern eher durch eine viel subtilere schleichende Untergrabung demokratischer Grundprinzipien.
So galt Indien beispielsweise bis vor Kurzem als „die größte Demokratie der Welt“. Doch seit dem Machtantritt von Premierminister Modi wurden die Rechte der muslimischen Minderheiten im Land weiter eingeschränkt. Auch die USA, die lange ein Vorbild in Sachen Demokratie waren, zeigen seit einigen Jahren starke antidemokratische Tendenzen. So sind Vertreter der Republikanischen Partei dabei, Wahlgesetze zu ihrem Vorteil zu verändern. Im aktuellen Ranking von Freedom House sind die USA mittlerweile irgendwo im Mittelfeld anzutreffen, hinter Ländern wie Argentinien und der Mongolei. Luxemburg schneidet in diesem Ranking bislang eher gut ab. Dennoch gibt es auch bei uns durchaus Grund zur Sorge.
Vergessenes Demokratiedefizit
Das Großherzogtum leidet bekanntlich unter einem Demokratiedefizit. Nahezu die Hälfte der in Luxemburg ansässigen und arbeitenden Bevölkerung darf bei Nationalwahlen nur zuschauen. Dem Index der Migrantenintegrationspolitik (MIPEX) zufolge hat Luxemburg „eine der exklusivsten nationalen Demokratien in der entwickelten Welt, mit dem größten Anteil an Erwachsenen, denen das Wahlrecht bei nationalen Wahlen entzogen wird“. Obwohl das Ausländerwahlrecht seit dem Referendum von 2015 offensichtlich vom Tisch ist, bleibt das Problem des wachsenden Demokratiedefizits bestehen. Gerade deshalb sollte das Großherzogtum sich bemühen, die politische Partizipation (und somit die Demokratie) zu fördern. Bürgerräte könnten einen Ausweg bieten. Denn hier kann man problemlos Grenzgänger*innen und Ausländer*innen miteinbeziehen.
Bürgerräte als Lösung für das Demokratiedefizit?
Bürgerräte sind (neben anderen demokratischen Innovationen wie Bürgerforen oder Referenden) eine von vielen möglichen Erweiterungen unseres politischen Systems, die den Input von Bürger*innen in die Politik befördern sollen. Dieses demokratische Instrument wird in vielen Ländern bereits routiniert eingesetzt. Das Prinzip des Bürgerrates ist einfach: Durch ein Losverfahren wird nach bestimmten demografischen Kategorien (etwa Geschlecht, Alter und Bildung) eine repräsentative Kleingruppe von Bürger*innen ermittelt. Diese deliberiert dann stellvertretend für die gesamte Population über ein spezifisches politisches Problem. Bezogen auf die Demokratie hat Deliberation eine doppelte Bedeutung: diskutieren und entscheiden.
Um eine erfolgreiche Deliberation zu ermöglichen, sind einige Grundvoraussetzungen notwendig. In erster Linie ist es wichtig, dass der Prozess von Anfang an transparent ist, dass das Mandat des Bürgerrates verbindlich geregelt ist, und dass die Kleingruppe auch tatsächlich die Diversität der Bevölkerung widerspiegelt. Außerdem sind ein angemessener Informationsaustausch sowie eine inklusive und lösungsorientierte Moderation besonders wichtige Voraussetzungen für eine gelungene Deliberation. Wichtig ist auch, die Bürger*innen während des Beratungsprozesses zu begleiten und ihnen genug Zeit zu geben, die neuen Informationen zu verarbeiten und zu reflektieren, damit sie motiviert bleiben und nicht vorzeitig abspringen.
Im Idealfall können Bürgerräte sensible Themen depolarisieren. Deliberative Arenen erlauben Bürger*innen, komplexe Informationen aufzunehmen, ihre Wissensausgangsposition zu verstärken, und sich bei demokratischen Entscheidungsprozessen einbezogen zu fühlen. Damit fördern sie die politische Partizipation. Außerdem unterstützen Bürgerräte auch Politiker*innen, um bei komplexen Themen zu regieren.
Das Experiment Klima-Biergerrot
Der Klimabürgerrat, der Anfang dieses Jahres von Premier Xavier Bettel ins Leben gerufen wurde, gibt Hoffnung. Allerdings sind Bürgerräte kein Allheilmittel zur Lösung der Krise der Demokratie. Im schlimmsten Fall können Bürgerräte die Krise vertiefen. Ein Blick über die Grenze genügt, um die Risiken des Klimabürgerrates zu verdeutlichen. Eines der bekanntesten Beispiele ist die Convention citoyenne pour le climat (CCC), die Emmanuel Macron 2019 in Reaktion auf die „Gelbwestenbewegung“ einberufen hatte, um über die Frage zu beraten, wie CO₂-Emissionen auf sozial gerechte Weise gesenkt werden können. Im Sommer 2020 überreichte die CCC Macron eine Liste mit 149 (!) Vorschlägen – die übrigens alle mit starken Mehrheiten erarbeitet wurden. Allerdings wurde allzu schnell deutlich, dass Macron sein Versprechen, „alle“ Vorschläge auch tatsächlich umzusetzen, nicht halten würde.
Dadurch haben viele Bürger*innen das Vertrauen in die Politik endgültig verloren. Ein Bürgerrat kann das Vertrauen in die Politik stärken. Aber wenn das Mandat des Bürgerrates nicht von Anfang an klar ist (also hinreichend verbindlich geregelt ist), und wenn Entscheidungsträger*innen die Beratungsergebnisse von Bürgerräten nicht ernst nehmen, dann besteht die Gefahr, dass das Vertrauen in die Politik weiter untergraben wird. Man darf gespannt sein, wie sich der Luxemburger Klima-Biergerrot entwickelt. Es steht viel auf dem Spiel.
Überblick
Dieses Dossier konzentriert sich ganz bewusst auf deliberative Formen von Bürgerbeteiligung. Andere haben wir bereits mehrfach bei forum diskutiert, ausgiebig u. a. in einem Dossier zur „Zukunft der Demokratie“ im Januar 2020 (forum 402). Wir wollen Sie, liebe Leser*innen, aber auch herzlich einladen, das Gespräch über Bürgerbeteiligung auszuweiten. In unserer Rubrik forum+ wollen wir Ihre Positionen zu – auch nicht-deliberativen – Formen von Bürgerbeteiligung veröffentlichen. Schicken Sie uns Ihre Textvorschläge gerne an forum@pt.lu.
Nicht nur Léonie de Jonge befindet, Luxemburg habe ein Demokratiedefizit. Hierzulande sind rund zwei Drittel der Bürger*innen – weil sie im nahen Ausland wohnhaft sind oder nicht über die luxemburgische Staatsbürgerschaft verfügen – nicht wahlberechtigt. Dieses Missverhältnis nähre das Demokratiedefizit, ist auch Jürgen Stoldts Überzeugung. In seinem Artikel zu Bürgerräten und -versammlungen als mögliche Antwort auf dieses Defizit geht er nicht nur auf das Referendumsdebakel von 2015 ein, sondern unterstreicht ebenfalls den begrenzten Charakter dieser Volksbefragungen, die versuchen, komplexe Probleme auf Ja/Nein-Antworten herunterzubrechen. Dialogische, deliberative Beteiligungsformate könnten, Stoldts Meinung nach, eine Alternative darstellen, wenn die Teilnehmenden nach dem Zufallsprinzip ausgewählt werden und so auch Menschen zu Wort kommen, die unter anderen Umständen nicht gehört werden. Wie eine „permanente, deliberative Bürgerbeteiligung“ idealerweise aussehe, mache das Beispiel Ostbelgien vor. Das Parlament der deutschsprachigen Gemeinschaft habe nach einem erfolgreichen Pilotprojekt Anfang 2019 einstimmig beschlossen, ein strukturiertes Modell der Bürgerbeteiligung einzuführen, das mittlerweile schon seinen dritten Konsultationsprozess begonnen habe, führt Stoldt aus.
Dass der Erfolg demokratischer Innovationen nicht als selbstverständlich angesehen werden darf, betont Benjamin Leruth, Assistenzprofessor für Europäische Politik und Gesellschaft an der Universität Groningen, in seinem Beitrag. Bürgerbeteilung sei in den vergangenen zehn Jahren zu einem Trendthema geworden, das den Anspruch habe, die wachsende Vertrauenskluft zwischen Bürger*innen und ihren gewählten Vertreter*innen zu überwinden. Partizipative Modelle seien eingeführt worden, um die Bürger*innen in den Mittelpunkt der Entscheidungsfindung zu stellen. Sie führten jedoch nicht immer zu den erwarteten Ergebnissen, warnt Leruth. Auf nationaler Ebene seien vor allem die jüngsten Erfahrungen von zwei Ländern ideale Fallstudien für Erfolg und Misserfolg eines solchen Experiments: Irland und Island haben versucht, ihre Verfassungen im Rahmen eines deliberativen Prozesses zu überarbeiten – mit sehr unterschiedlichen Ergebnissen. Aus diesen Erfahrungen ließen sich, so Leruth, drei Bedingungen für den Erfolg demokratischer Innovationen ableiten. Des Weiteren fordert der Autor die Schaffung einer ständigen Struktur, die für die Organisation regelmäßiger „Mini-Publics“ (also Bürgerbeteiligungen) zuständig ist, da Bürger*innen so häufig wie möglich miteinbezogen werden sollten.
In einem Kurzinterview äußert sich Elder Statesman Alex Bodry zur partizipativen Demokratie. Dabei reagiert er u. a. auf den Vorwurf, Parlamentarier*innen hätten Vorbehalte gegenüber Formen der direkten Demokratie. Bodry geht in diesem Kontext auf das Instrument des Referendums, auf nationaler wie kommunaler Ebene, ein und plädiert für eine grundlegende Reform der parlamentarischen Verfahren, da Luxemburgs System, seiner Meinung nach, abgenutzt und müde sei. Obwohl er beispielsweise die Ausweitung des Petitionsrechts für vielversprechend hält, gibt Bodry einer Erneuerung des repräsentativen Systems der gewählten Volksvertreter*innen den Vorzug vor dem Aufbau konkurrierender partizipativer Strukturen und einem möglichen Legitimitätskrieg.
Jürgen Stoldt, Moderator des Biergerkommitee Lëtzebuerg 2050, reflektiert in einem Beitrag über die Ergebnisse dieses Bürgerrats, der sich 2021 im Auftrag des Energie- und Landesplanungsministeriums und als Teil des Projektes Luxembourg in Transition mit dem Wandel Luxemburgs zu einem klimaneutralen Territorium beschäftigt hat. Stoldt war beeindruckt, dass die Teilnehmenden das Thema in seiner globalen Komplexität angingen und sich nicht bloß auf landesplanerische Aspekte konzentrierten. Das Ministerium will die Ergebnisse nun in die Formulierung des Programme directeur d’aménagement du territoire einfließen lassen. Forscher*innen der Universitäten Luxemburg und Groningen arbeiten aktuell an einer Evaluation des Biergerkommitee.
Einen thematischen Schwerpunkt von Bürgerräten vertieft Lisa Verhasselt, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Luxemburg. In ihrer theoretischen Reflexion arbeitet sie Chancen und Schwierigkeiten der Mehrsprachigkeit im Kontext der Bürgerbeteiligung aus. Unter bestimmten Bedingungen kann sprachliche Vielfalt zu Ausgrenzung führen, zu einer wahren (Sprach-)Barriere werden und den Beteiligungsprozess so behindern. Eine „ideale Sprechsituation“ gäbe es nicht. Ziel sei es jedoch, jede*n miteinzubeziehen, um ein repräsentatives demokratisches System darzustellen, so Verhasselt. Daher müsse man Mehrsprachigkeit schlichtweg akzeptieren. Zu diesem Zweck stellt die wissenschaftliche Mitarbeiterin fünf Praktiken (Übersetzung, Bildung, mehrere öffentliche Bereiche, eine Neukonzipierung der deliberativen Demokratie und die Lingua franca) vor und geht u. a. auf die Sprachpraxis im Biergerkommitee sowie im aktuell stattfindenden Klima Biergerrot ein. Verhasselt fodert zudem, man solle sich in der Wissenschaft weniger auf linguistische Gemeinsamkeiten (oder eben Differenzen), sondern vielmehr auf ein gemeinsames Verständnis konzentrieren.
Abschließend gibt Jürgen Stoldt Tipps zur weiteren Beschäftigung mit dem Dossierthema, indem er auf unterschiedliche Akteure, Institutionen und Organisationen im deutschsprachigen Raum (Deutschland, Österreich und Luxemburg) verweist. Zwar sei Bürgerbeteiligung ein durchaus innovatives Konzept, um eine neue Erfindung würde es sich jedoch nicht handeln, schreibt Stoldt. Seit über 30 Jahren werde international mit den verschiedensten Ausprägungen experimentiert, weshalb bereits zahlreiche etablierte Anlaufstellen existieren.
FS
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