- Politik
Köpfe und Herzen
Über die Schwierigkeiten und die Wichtigkeit eines Dialogs mit China
Am 12. Februar ist Neujahrstag. Für über zwei Milliarden Menschen in der Volksrepublik China, in Südostasien und in der ganzen Welt beginnt dann das Jahr des Ochsen. Wer China besucht, trifft unweigerlich auf Darstellungen der chinesischen Tierkreiszeichen, ob in Souvenirläden oder Museen. Eine der prächtigsten Umsetzungen des Zeichens des kommenden Jahres ist der Ochsenkopf aus Bronze, zu sehen im Poly Art Museum in Beijing, der aus dem „Alten Sommerpalast“ stammt. Zwölf Tierköpfe verschönerten dort einen Brunnen, der auch eine Art Wasseruhr war, bis sie nach 1860 über die ganze Welt verstreut wurden. Der Ochsenkopf ist bereits im Jahr 2000 nach China zurückgekehrt, die Rückkehr des Pferdekopfs wurde dagegen im November vergangenen Jahres mit einer Sonderausstellung gefeiert. Der verstorbene Milliardär Stanley Ho hatte das Artefakt 2007 bei einer Kunstauktion erworben und es dem chinesischen Amt für Kulturerbe vermacht, das sich dann entschied, es am Ursprungsort im Sommerpalast fürs Publikum zugänglich zu machen.
Verlorene Köpfe
Von den zwölf Tierköpfen sind sieben wieder in China, es fehlen nur noch der Drache, die Schlange, das Schaf, der Hahn und der Hund. Der Kopf der Ratte, Tierkreiszeichen des zu Ende gehenden Jahres, ist erst 2013 in chinesische Hände zurückgekehrt, nach einer Transaktion zwischen zwei französischen Geschäftsmännern und Kunstsammlern: François-Henri Pinault hat Pierre Bergé den Ratten- und den Kaninchenkopf abgekauft und dem chinesischen Staat geschenkt. Fassen wir zusammen: Die schönen Bronzeköpfe des „Alten Sommerpalastes“ sind Stück für Stück nach Beijing zurückgekehrt und werden nun triumphal ausgestellt. Freuen wir uns also mit den Chinesen darüber – und reden dann weiter über die politische Aktualität, zum Beispiel die Menschenrechtsverletzungen in der Volksrepublik …
Doch für eine Chinesin oder einen Chinesen sind die Bronzeköpfe mehr als nur Ausstellungsstücke. Ihre Heimkehr ist ein Zeichen für die Überwindung des „Jahrhunderts der Demütigungen“, wie die Zeit zwischen 1850 und 1950 gerne genannt wird. Sogar ein Jackie-Chan-Film von 2013 ist dem Thema gewidmet. In Chinese Zodiac 12 versucht der Agent JC, die verlorenen Bronzeköpfe ausfindig zu machen. Als er entdeckt, dass es seinen Auftraggebern nur ums Geld geht, entscheidet er sich gegen sie und für sein Vaterland. Und am Anfang des Filmes wird daran erinnert, dass die Artefakte nicht etwa verloren gegangen sind, sondern geraubt wurden: 1860 bei der Erstürmung des Sommerpalastes durch westliche Armeen. Und die bisher wiedergefundenen Bronzeköpfe sind nicht etwa restituiert worden, sondern mussten von Mäzenen zurückgekauft werden, zu Preisen, die vom Marktprinzip bestimmt werden. Für Chinesinnen und Chinesen ein typisches Beispiel dafür, wie der Westen das Recht immer so anwendet, wie es ihm gerade passt. Ob Marktgesetz, internationales Seerecht oder Menschenrechtscharta – es geht immer auf Kosten Chinas.
Alles für die Menschenrechte
Menschenrechte? Kann man die wirklich mit ein paar Bronzeköpfen vergleichen, so wertvoll diese auch sein mögen? Ja, fand der Kunstsammler und Besitzer des Ratten- und des Kaninchenkopfs Pierre Bergé 2009, als er die beiden Artefakte versteigern lassen wollte und dafür herbe Kritik aus China erntete. Die Forderung nach einer Restitution werde er gerne erfüllen, so Bergé, „wenn China erkläre, die Menschenrechte zu respektieren, den Tibetern ihre Freiheit zurückzugeben und den Dalai Lama einreisen zu lassen“. Was wohl als Provokation gedacht war, und im Westen viel Beifall fand, wurde in China und im globalen Süden als Neuauflage des Diskurses der „zivilisatorischen Mission“ angesehen, mit der der Westen im 19. Jahrhundert die Kolonisierung gerechtfertigt hatte.
Damit machte sich Bergé in den Augen seiner Gegner zum Nachfolger des anglo-französischen Expeditionskorps, das 1860 den Sommerpalast verwüstet und geplündert hatte. Es war dies der krönende Abschluss eines Krieges, in dem es offiziell um die Menschenrechte (der chinesischen Christen), in Wirklichkeit aber um Handelsprivilegien und insbesondere um den „freien“ Opiumhandel ging. Über die Verletzung des nationalen Stolzes hinaus führte der Krieg zu einer dramatischen Verschlechterung der Lebensbedingungen für Millionen von Chinesen, vergleichbar mit den Folgen der von der Weltbank aufgezwungenen Liberalisierungen und Marktöffnungen in den Ländern des Südens in den vergangenen Jahrzehnten. Doch in den westlichen Lehrbüchern sind die Opiumkriege, anders als in den chinesischen, nur ein Nebenkriegsschauplatz der Weltgeschichte – was gewiss Bergés Nonchalance erklärt.
Ein weiterer Aspekt der chinesischen Geschichte, der bis in die heutige Zeit hineinwirkt, ist die territoriale Integrität. Das Jahrhundert der Demütigungen ist auch jenes der Gebietsverluste: Hong Kong (1842 an Großbritannien), Macao (1887 an Portugal), Mandschukuo (1890 von Russland, ab 1905 von Japan kontrolliert) und Taiwan (1895 an Japan). In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten die westlichen Mächte das restliche China in Einflusszonen aufgeteilt. Hätte China nicht den Sprung in die Moderne geschafft, so die Vorstellung, dann wären daraus womöglich Kolonialgebiete geworden. Kein Wunder, dass die „Rückkehr“ von Hong Kong und Macao 1997 und 1999 als nationaler Triumph gefeiert wurde.
Das heutige starke China holt sich zurück, was dem früheren schwachen von den Kolonialmächten abgerungen worden war, so die typische patriotische Erzählung. Mittlerweile geht es in erster Linie um die Insel Taiwan, die nach dem Ende der japanischen Herrschaft zur Rückzugsbasis der nationalistischen Partei wurde, als diese der kommunistischen Bewegung unterlag. Bei Taiwan wie bei den von China beanspruchten Inseln im süd- und ostchinesischen Meer wird auf die Rolle des US-Imperialismus verwiesen, gewissermaßen als Nachfolger des westlichen Kolonialismus. Damit versucht China auch, die Forderungen nach Autonomie – oder einfach nur dem Respektieren der Grundrechte – in Tibet oder Xinjiang vom Tisch zu wischen: Alles nur Versuche, die wiedergefundene Einheit Chinas zu zerstören. Völlig aus der Luft gegriffen sind solche Sorgen nicht, wie die jüngste Vergangenheit mit der „Befreiung“ Jugoslawiens, Afghanistans oder des Irak zeigt. In allen diesen Fällen wurden ethnisch geprägte Bürgerkriegsarmeen und der Diskurs über Menschenrechte vom Westen für seine Zwecke instrumentalisiert.
Verlorenes China
Die historische Schuld – falls es so etwas gibt – des Westens gegenüber China wird auf unserer Seite des Globus oft ignoriert oder kleingeredet. Doch auf der anderen Seite wird sie oft aufgebauscht und instrumentalisiert – vor allem in den vergangenen zehn Jahren. Wer China, die Menschen, die Kultur, das Land, kennt, kann nur erschrecken darüber, wie Beijing spätestens seit dem Amtsantritt von Xi Jinping den Nationalismus geschürt und die Denk- und Handlungsansätze für mehr Freiheit, Universalismus und Dialog mit dem Rest der Welt an den Rand gedrückt hat. Gewiss, die Niederschlagung der Studentenbewegung 1989 am Tian’anmenplatz hatte einem Jahrzehnt von Freiheitlichkeit ein blutiges Ende bereitet.
Doch Chinas politischer Kurs war in Entwicklung begriffen, eine Öffnung zu mehr Demokratie, Menschenrechten und internationaler Zusammenarbeit erschien möglich oder gar wahrscheinlich. Das große Interesse vieler westlicher Menschen an dem Land, oft eine Mischung wirtschaftlicher, kultureller und menschlicher Motive, ermöglichte einen fruchtbaren Dialog der Zivilisationen. Der neue Kurs in Beijing hat – auch weil er Wasser auf die Mühlen der Warner vor der „gelben Gefahr“ ist – das Chinabild im Westen gründlich verändert. Mittlerweile ernten Chinakennerinnen und -kenner statt bewundernder meist nur noch mitleidige Blicke.
Noch 2010 hatte Ai Weiwei seine Version der Tierköpfe aus dem Sommerpalast in Form von überlebensgroßen Skulpturen geschaffen, die im Westen gezeigt wurden. Als Kritik am chinesischen Nationalismus, der das Jahrhundert der Demütigungen instrumentalisiert, wie die New York Times schreibt? Auch, aber nicht nur: Der Künstler erinnere, so die Zeitung, daran, dass diese „Wahrzeichen Chinas“ aus einem Palast der „fremden Dynastie“ der Mandschu stammen und seinerzeit von europäischen Künstlern mitgestaltet wurden. Das Werk ist wohl eher ein Versuch der Universalisierung der Tierköpfe und ihrer Geschichte – und eine Anregung zum Nachdenken. Nachzudenken und die eigene Position zu hinterfragen, ist aber mittlerweile – auf beiden Seiten – eher selten geworden.
China als Fratze
Müsste man einer Chinesin oder einem Chinesen erklären, woher die oft erlebte Feindseligkeit im Westen stammt, so wüsste man nicht, womit anzufangen. Chronologisch betrachtet dürfte das Ressentiment gegenüber chinesischer „Billigware“ auf die Frühzeit der Öffnung Chinas in den 1990ern zurückgehen. China ist schuld an den Delokalisierungen, betreibt intellektuellen Diebstahl und Wirtschaftsspionage, so die nicht unbegründeten Vorwürfe. Dass diese Phänomene mehr mit der Dynamik der Marktwirtschaft als mit dem Agieren Beijings zu tun haben, wird dabei gerne vergessen.
Auch die geopolitischen Gründe dafür, China als Bedrohung zu sehen, sind eine Mischung aus Fakten und Fantasmen. Wie andere Großmächte auch, versucht das Land, seine Nachbarregionen zu kontrollieren. Dass es dabei nicht zimperlich ist und Staaten wie Nordkorea und Myanmar zu seinen Freunden zählt, ist unsympathisch, aber gewiss kein Alleinstellungsmerkmal. Wahr ist, dass Chinas territoriale Ansprüche auf Taiwan und die kleineren Inseln eine Kriegsgefahr beinhalten. Doch viele, die vor dieser Gefahr warnen, erklären den Konflikt mit dem Westen damit, dass China immer noch kommunistisch sei – was völliger Unsinn ist.
Neben den „harten“ Argumenten spielen auch die „weichen“ eine große Rolle im negativen Chinabild. Als „fremd“ – weil schwer zugänglich – eignet sich „die chinesische Kultur“ als Projektionsfläche für alle möglichen Alpträume: stur und autoritätshörig, anti-individualistisch, nicht kompatibel mit Demokratie und Menschenrechten… und sie essen Hunde! Unterm Strich ist es beeindruckend, wie Neugier und naive Begeisterung für China in Feindschaft und Verachtung umgeschlagen sind, die sich sowohl aus berechtigter Kritik nährt wie auch aus Vorurteilen, Missverständnissen und Double Standards. Die Spirale des Misstrauens zwischen Ost und West wird auf beiden Seiten geschürt von jenen, die einen Krieg zwischen China und dem Westen für unausweichlich halten – eine tragische Entwicklung angesichts der Notwendigkeit eines Zusammenwachsens der Menschheit.
Der Westen als Vorbild?
Ist ein kritischer Blick auf China möglich, ohne in Chinafeindlichkeit zu verfallen? Ja, sofern man bei den Argumenten wie bei den Forderungen Vorsicht walten lässt. Die Einsicht, dass Menschenrechte nicht in Stein gemeißelt sind, sondern durch gesellschaftliche Prozesse immer wieder neu definiert werden, sollte den Drang bremsen, gegenüber dem chinesischen Volk die UN-Erklärung zu schwenken, wie es vor 150 Jahren die Missionare mit der Bibel taten. Wer sich auf „die westlichen Werte“ beruft, unterstellt, dass es östliche gibt, die grundlegend anders geartet sind. Damit stellt man aber selbst die Universalität von Menschenrechten in Frage – und liefert auch jenen in China Argumente, die behaupten, ihr eigenes Volk sei nicht für Freiheit und Demokratie gemacht.
Fordert man Sanktionen oder gar ein „Eingreifen“, so legt man die Verteidigung der Menschenrechte in die Hände von Akteuren, die – nüchtern betrachtet – dafür denkbar ungeeignet sind. Die westlichen Regierungen haben in den vergangenen 20 Jahren eine erschreckende Abkehr von den UN-Grundwerten vollzogen. Seit 1999 hat ihre Politik der humanitären Interventionen das Völkerrecht unterhöhlt, seit 2001 werden die Menschenrechte auf dem Altar des „War on Terror“ geopfert. Natürlich sind die Art und Weise, wie Russland militärisch interveniert oder China Minderheiten unterdrückt, noch viel gravierender. Doch die Doppelzüngigkeit der westlichen Staaten macht es immer schwieriger, solche extremen Übergriffe anzuprangern.
Einmarschieren, um kosovarische Freiheitskämpfer oder afghanische Frauen zu retten, ist ein Akt der Zivilisation, aber einmarschieren, weil einem der ukrainische Regierungswechsel nicht passt, ist ein Völkerrechtsbruch. Oder war es umgekehrt? Überwachung, Internet-Filter, gezielte Tötungen und Bombardierung von Städten sind gerechtfertigt im Krieg gegen den Islamischen Staat, doch wenn China ähnliche Maßnahmen gegen die „geistige Verschmutzung“ im Netz oder die „extremistische“ Bedrohung im eigenen Land ergreift, wird das als „unverhältnismäßig“ kritisiert. Unverständnis für das Vorgehen Russlands und Chinas zu zeigen, ist wenig glaubwürdig, wenn man Verständnis zeigt für die Art und Weise, wie der Westen auf Bedrohungen mit einer schrittweisen Aushöhlung der UN-Grundwerte reagiert hat.
Offener Dialog
Die „Schandtaten“ der Regierung in Beijing enthüllen und ihr Vorwürfe entgegenschleudern, ist eine Möglichkeit. Was wären die Bedingungen für die andere Möglichkeit, den Dialog mit Chinesinnen und Chinesen? Glaubwürdigkeit ist erstes Gebot: Wer, wie die besseren unter den Menschenrechts-NGOs, auch mit den eigenen Regierungen ins Gericht geht, wirkt dem Verdacht entgegen, ein Instrument westlicher Machtpolitik zu sein. Obwohl derzeit bei der Verteidigung der uigurischen Minderheit zum Beispiel die USA die Causa der NGOs unterstützen, müssen diese auf eine Distanzierung achten. Die von geostrategischen Interessen geleitete Unterstützung wird vergehen, ein eventueller Glaubwürdigkeitsverlust wird bleiben.
Ein Dialog setzt auch Wohlwollen voraus – vermitteln, dass man die Sorgen des Gegenübers und seine von der eigenen Geschichte und Denkweise geprägte Sicht auf die Welt ernst nimmt. Das geht einher mit einem gewissen Verständnis und Wissen über die andere Kultur. Beides steht im Gegensatz zu jener kulturellen Arroganz, mit der westliche Besserwisser erklären, warum der Dalai Lama nach Lhasa zurückkehren muss und dass die Menschenrechte ein heiliges Gut sind. Stattdessen wäre ein offener Universalismus geboten, zum Beispiel gegenüber dem im Osten beliebten Verweis auf die Wichtigkeit der sozialen gegenüber den bürgerlichen Grundrechten. In der Tat ist die westliche Fokussierung auf formale Rechte, während große Teile der Menschheit in Armut leben, problematisch – als Rechtfertigung dafür, die bürgerlichen Rechte mit Füßen zu treten, muss man das Argument aber schärfstens ablehnen.
Standfestigkeit ist durchaus Teil eines konstruktiven Dialogs. So ist das patriotische Hurra-Gehabe über die „zurückgekehrten“ Tierköpfe durchaus kritikwürdig. Nicht zuletzt, weil der Hauptakteur, der Ochse, Tiger, Schwein und Affe zusammengekauft hat, die staatseigene China Poly Group Corporation ist – einer der wichtigsten Waffenkonzerne Chinas. Unabhängig vom Wie der Rückkehr ist es sinnvoll, dass die Köpfe an ihrem Ursprungsort ausgestellt werden können. Über ihre patriotische Funktion hinaus sind sie allerdings auch Teil des „gemeinsamen Erbes der Menschheit“, nicht zuletzt, weil sie an vergangenes westliches Fehlverhalten erinnern. Eine Erinnerung, die erst dann verblassen kann, wenn die Frage, welchem Land ein Kulturschatz gehört, der Frage weicht, an welchem Ort unseres Planeten man ihn besichtigen kann, kurz, wenn die Menschheit endlich Frieden mit sich selbst schließt.
Als partizipative Debattenzeitschrift und Diskussionsplattform, treten wir für den freien Zugang zu unseren Veröffentlichungen ein, sind jedoch als Verein ohne Gewinnzweck (ASBL) auf Unterstützung angewiesen.
Sie können uns auf direktem Wege eine kleine Spende über folgenden Code zukommen lassen, für größere Unterstützung, schauen Sie doch gerne in der passenden Rubrik vorbei. Wir freuen uns über Ihre Spende!
