- Gesellschaft
„Komm, mei Liebele!“
Liebe im Spiegelbild des Volksliedes Ein Gespräch mit dem Kulturhistoriker und Musiker Guy Schons
Seit der Romantik wird das Mittelalter nostalgisch verklärt, und auch heute tragen populäre Mittelaltermärkte zur Idealisierung dieser Epoche bei. Troubadoure und Minnesänger besangen die Liebe und das Begehren. Doch wie stand es wirklich um die Liebe im Mittelalter? Entsprach diese Darstellung der Realität?
Guy Schons: Die Gesellschaft im Mittelalter war eine Ständegesellschaft. Nicht etwa die gegenseitige Zuneigung oder Liebe der zukünftigen Eheleute, sondern Standesbewusstsein und Opportunität spielten im Adel eine entscheidende Rolle. Die einst in Luxemburg populäre Ballade von den Königskindern, die seit dem 15. Jahrhundert in über 500 Varianten in ganz Europa verbreitet war, endet tragisch: Zwei Liebende sind durch ein tiefes Wasser getrennt, welches die Kluft des sozialen Unterschieds symbolisiert. Der Liebhaber versucht, das Wasser schwimmend zu durchqueren. Das Mädchen weist ihm den Weg mit einem Lichtzeichen, das heimtückisch von einer bösen Frau – der ständischen Ordnung – gelöscht wird. Das Mädchen findet am nächsten Morgen die Leiche seines Liebhabers und ertränkt sich aus Verzweiflung.
„Es waren zwei Königskinder,
Die hatten einander so lieb.
Sie konnten beisammen nicht kommen,
Das Wasser, das war zu tief.“
Liebesehen so wie wir sie heute kennen, basierend auf selbstbestimmter Partnerwahl, gab es also nicht?
G.S.: Die Liebesehe ist eine Idee, die erst im 19. Jahrhundert unter dem Einfluss der Romantik zum Ideal des Bürgertums wurde. Ohne Rücksicht auf die Standes- und Vermögensverhältnisse konnte kein heiratswilliger Mann, weniger noch eine Frau, eine Partnerwahl treffen. Außerdem schränkten die grundherrschaftlichen Rechte die individuelle Freiheit bei der Partnerschaftswahl ein.
Wurde sich gegen die aufgezwungene Partnerwahl gewehrt?
G.S.: Ein Romeo und Julia auf dem Dorfe gab es in Mittelalter und Früher Neuzeit kaum. Höchstens ein adeliges Fräulein konnte die Heiratspläne seiner Eltern durchkreuzen. So beispielsweise Polyxena, die Tochter des Grafen Peter Ernst von Mansfeld (1517-1604), des Gouverneurs von Luxemburg. Sie hatte eine Liebesbeziehung begonnen mit Palamedes, dem unehelichen Sohn des René von Chalon, und war mit diesem ins Ausland geflüchtet, wo sie heirateten.
In dem in Siebenbürgen aufgezeichneten Lied Es saß ein klein wild Vögelein, welches ich in unsere Sprache übersetzt habe, steht das Vöglein symbolisch für die selbstbewusste Haltung eines Mädchens gegenüber einem Bewerber, der es mit Reichtum bezwingen will. Elemente aus der Lyrik des Minneliedes verschmelzen mit solchen aus der populären Liebesdichtung.
„Et soutz e kleng wëll Vijelchen
Op engem gréngen Ästchen.
E soutz déi ganz Wanternuecht,
Séng Stëmm huet wäit erklongen.
Sang du mir méi, sang du mir méi!
Du kleng wëll Vijelchen.
Ech wëll dir schreiwen op déng Flijel,
Mat gielem Gold a grénger Seid.
Hal du däi Gold, hal du déng Seid!
Ech wëll dir net méi sangen.
Ech bleiw’n e kleng wëll Vijelchen,
A kee Mënsch ka mech zwéngen.“
Welches Bild der partnerschaftlichen Liebe propagierte die Kirche zu jener Zeit?
G.S.: Für die Kirche stand die partnerschaftliche Liebe ausschließlich im Dienst der Fortpflanzung. Außereheliche Liebesbeziehungen oder das Verhältnis mit einem Geistlichen wurden als Sünde verurteilt und mit hohen Kirchenstrafen belegt. Die Ballade Es wollt ein Mädchen früh aufstehn basiert auf einer Sage, die sich bis in die mittelalterliche Predigtliteratur zurückverfolgen lässt. Das Lied schildert die Begegnung eines Mädchens mit einem „schwarzen Mann“, dem Teufel. „So mach aus mir, was dir gefällt“ und „reiten“ sind Metaphern für den Geschlechtsverkehr. Weil das Mädchen ein buhlerisches Verhältnis mit mehreren Geistlichen hatte, wird es zur Strafe in ein Pferd verwandelt. Der Teufel reitet das Mädchen zum Schmied und fordert ihn auf, ihm sein Ross zu beschlagen. Als der Schmied die Nägel einschlägt, fließt Blut, und das Pferd gibt sich als seine Tochter zu erkennen.
„Es wollt ein Mädchen früh aufstehn,
Frisch Wasser wollt es holen gehen.
Was sah es dort am Wege stehn?
Ein schwarzer Mann und der war schön.
Ach Mädchen, fürchte du dich nicht:
Ich bin ein Mann, und der dich liebt.
Bist du ein Mann, und der mich liebt,
So mach aus mir, was dir gefällt!
Er macht aus ihr ein schönes Pferd
Und reit’ wohl vor des Goldschmieds Thür.
Ach, Goldschmied, beschlage mir mein Pferd,
Mein Pferd ist hundert Thaler wert.
Der erste Nagel, den er schlug,
Da kam heraus das rote Blut.
Den zweiten Nagel, den er schlug,
Da kriegt das Pferd ein’ Menschenfuss.
Den dritten Nagel, den er schlug:
Halt ein, halt ein, oh Vater mein:
Ich bin Euer jüngstes Töchterlein!
Der Schmied, der warf den Hammer weg:
Ich hab geschmied’t, schmied nimmermehr!
Er ritt mit ihm vor die Höllenthür:
Mach auf, mach auf, du Lucifer!
Der erste bringt den Sessel raus,
Der zweite bringt ein Kissen drauf,
Der dritte bringt ein’ bittren Trank.
Trink aus, trink aus, lieb Fräuelein,
Jetzt musst du in die Höll hinein.“
Das Konzil von Trient (1545-1563) erklärte die lustfreie Liebe zum Ideal für alle Christen. Nicht Liebe oder Glück standen dabei im Vordergrund, sondern die Erfüllung der von Gott gegebenen ehelichen Aufgaben, wie das früher bei uns verbreitete Ehestandslied bezeugt:
„Merk auf, mein Christ, was ich erklär,
Wo kommt der Ehestand her?
Merk auf mit Fleiss!
Er kommt von keinem Menschen nicht,
Gott hatt ihn selber eingerichtet
Im Paradäis.“
Hatte das Volkslied demnach vor allem exemplarischen Charakter?
G.S.: Nein, nicht alle Lieder hatten einen moralischen Auftrag. Im Volksmund entlud sich auch das Spannungsverhältnis zwischen dem von der Kirche geforderten keuschen Verhalten und der Realität der menschlichen Natur. Der Ehebruch gehört zu den beliebtesten Themen der Schwankballade. Meist treten Schreiber, Reiter, Geistliche und umherziehende Handwerker als Liebhaber auf, während der Bauer fast ausschließlich in der Rolle des geprellten Ehemanns agiert. Die Schwankballade vom Betrogenen Ehemann, der nach Hause zurückkehrt und fremde Pferde, Reiter, Stiefel usw. vorfindet und dessen Ehefrau ihn mit allerlei Ausreden zu besänftigen sucht, ist in zahlreichen Varianten von Schottland bis nach Siebenbürgen, von Luxemburg bis nach Portugal belegt.
Wenn die Ehe nicht auf Zuneigung basierte, sondern nur dem Erhalt des Besitzes und der Fortpflanzung diente und der Partner kein Wunschpartner war, war die Heirat bestimmt nicht immer ein freudiges Ereignis?
G.S.: Das am Hochzeitstag vorgetragene Lied Komm heraus, du traurige Braut betont die schwere Trennung der Braut vom Elternhaus und das Eintreten in den Ehestand:
„Komm heraus, du traurige Braut,
Heute führ ich dich heraus.
Heute hast du noch ein Kränzlein auf dem Kopf,
Übers Jahr hast du die Haare ausgeropft.
O weh, O weh, O weh!
Wie weinet sich die Braut so sehr!“
Weitverbreitet waren Spottlieder auf den Ehemann, der unter dem Pantoffel stand, oder auf den zu alten oder zu „kleinen“ Mann.
„Méng Mamm hat mir e Mann gin,
O, wat e Mann, wat e klenge Mann,
O, wat e klenge Mann! (…)
O, Mamm, bréngt mir en aanere Mann,
O, wat e Mann, wat e klenge Mann,
Deen elei wor mir ze kleng!“
Gab es neben ‚Affären‘ außerhalb der Ehe, auch Beziehungen vor der Ehe?
G.S.: Seit dem Tridentiner Konzil musste die Kirche immer wieder Verordnungen erlassen, welche die Enthaltsamkeit vor dem Zeitpunkt der kirchlichen Trauung forderten. Mit dem Eheversprechen war der Bursche traditionshalber berechtigt, seine zukünftige Braut abends aufzusuchen. Die Protokolle der Kirchenvisitationen des 17. und 18. Jahrhunderts tadelten immer wieder diese in mehreren Pfarreien unseres Landes gepflegte Nachtfreierei. Das von Nik. Steffen in der Mitte des 19. Jahrhunderts aus dem Volksmund aufgezeichnete Lied Komm, mei Liebele schildert den nächtlichen Besuch eines Jünglings bei seiner Geliebten sowie die Überlistung der wachsamen Eltern durch das Liebespaar.
„Wéi kommen ech an déng Kumer eran,
Herzallerliebste mein?
Du këms ganz stëll un d’Dir a kraz,
Da mengt mei Fueder et wär ons Kaz.
Komm, mei Liebele, komm, komm, komm!
O komm, mei Liebele, komm!“
Es fällt auf, dass Liebe, Leidenschaft und Erotik eher umschrieben als beschrieben wurden.
G. S.: Das Volkslied verfügt über einen kollektiv bekannten Wortschatz verhüllender Symbole und sexueller Metaphern, Schlüsselwörter, die etwas anderes meinen, als sie aussagen. Der „Eingeweihte“ versteht die Sprache, und trotz Verhüllung wird im Volkslied alles gesagt. Derb-erotische und zweideutige Volkslieder entsprachen nicht der Vorstellung vom „echten“ und „edlen“ Volkslied ihrer Sammler seit dem 19. Jahrhundert. Deshalb wurden sie nicht in ihre Sammlungen aufgenommen, beziehungsweise wurden die „obszönen“ Liedstrophen einfach weggelassen. Laut Frau Witry, einer der wichtigsten Vorsängerinnen des Luxemburger Volksliedforschers Mathias Thill am Anfang des 20. Jahrhunderts, gehörten diese Lieder zu denen, welche das Volk am liebs-ten sang, wenn es angeheitert war. Trotz oder gerade wegen der rigiden christlichen Sexualmoral.
In seinem Lied Serenad vum Hanepéip aus der Operette D’Wonner vu Spéissbech parodierte Batty Weber 1915 die prüde, spießige Mundartdichtung seiner Zeit:
Hierzegt Kand am Liichteschäin,
Vun der Musel bis zum Rhäin,
Ass kee Meedchen op der Welt,
Dat mer sou wéi s du gefällt.
Schoklasknippchen, Nonnebees,
Geckeg gin ech, wann s de sees:
Hanepéip, ech hun dech gär,
Wéini gi mer bei den Här?
Crèmeflütt, Merinkentaart,
O, wéi ass däi Mëndchen zaart,
O, wéi mockleg, O, wéi séiss,
Bass de vun dem Kapp bis zu Féiss!
Heemelmausi, Mausikaatz,
Wäiss Karnéngchen, blonde Schaatz,
Komm, nur eng Minittche blous,
Komm a setzt dech op mäi Schouss!
Këddel mech nur eng Minutt,
An d’r Akaul, O, Mamm, wéi gutt!
An da sees de lues derzou:
Péipche, Péip, ech hun dech frou!
Danke für das Gespräch!
Das Interview wurden am 4.11.2016 geführt. (CF)
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