Kreatives Schreiben ist Leben
Die Bewegung ATD Vierte Welt entstand 1957 im Bidonville von Noisy-le-Grand bei Paris. Ihr Gründer, Père Joseph Wresinski, war selbst in bitterer Armut aufgewachsen. Er wollte, dass die ausgeschlossenen Familien und Bevölkerungsgruppen ihre Erfahrungen in die Gesellschaft einbringen und diese als gleichberechtigte Partner mitgestalten können.
ATD Vierte Welt gibt es seit 1981 auch in Luxemburg, mit Sitz in Beggen.
Um Elend und Ausgrenzung zu überwinden, baut die Organisation auf das persönliche Engagement von Menschen, die sich als direkt Betroffene wehren und auf Verbündete aus allen Berufssparten. Gemeinsam entwickeln diese Mitglieder Projekte, unter anderem im Bereich der Bildung und Kultur. Zu diesen Projekten zählt auch die Schreibwerkstatt, die seit 1998 regelmäßig in der „Maison culturelle“ in Beggen organisiert wird.
Die Schreibwerkstatt
In einfachen Worten erklärt, ist eine Schreibwerkstatt ein Ort, wo gemeinsam geschrieben wird und dabei anhand von verschiedenen Techniken das Kreative beim Teilnehmer hervorgerufen und gefordert wird.
Für den Gründer von ATD Vierte Welt bedeutet Kultur „Kreation“; das heißt auch, dass durch das Miteinanderteilen von kreativem, authentischem Ausdruck in Wort und Sprache, Begegnung und Respekt zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft möglich wird.
Die ausgewählten Themen der kreativen Schreibwerkstätte behandeln nicht unbedingt sozial – politische Probleme, sondern orientieren sich am Leben schlechthin. Die angewandte Technik ist nicht zu verwechseln mit dem therapeutischen Schreiben. Und es geht auch nicht um Alphabetisierung.
Wir leben in einer Leistungsgesellschaft, in der Perfektion nach vorgeschriebenen Regeln uns so langsam erstickt. Wir sind verkrampft, bemühen uns bis zur Erschöpfung, haben Schuldgefühle oder werden sogar ausgegrenzt, wenn wir diesen Ansprüchen nicht gerecht werden.
Beim kreativen Schreiben sollte es erlaubt und möglich sein, sein Inneres nach außen zu kehren, ohne Zensur, ohne Richtig und Falsch, ohne Gut und Schlecht.
Es ist einfach, es ist das Leben, mein Erleben, dein Erleben, meine Erinnerung, deine Erinnerung, aber vor allem sind es meine Gefühle, deine Gefühle verbunden mit der Erinnerung.
Mit der Übung und der Erfahrung, aber besonders mit einer Haltung, die besagt, „alles ist erlaubt“ und der sogenannten künstlerischen Freiheit, mit dem „ich darf mich aus-drücken“, „ich werde nicht bewertet“, „mir wird zugehört“, werden die Texte offener, tiefer, verrückter, befreiender.
Ablauf des Ateliers
Die Schreibwerkstätten in Beggen finden jeweils an einem Samstagnachmittag statt (4x im Jahr), sechs bis zehn Mitschreiber treffen sich dann, um zusammen zu den verschiedensten Themen zu schreiben, ob auf Luxemburgisch, Deutsch oder welcher Sprache auch immer, ob drei Zeilen oder zwanzig Zeilen. Das vorgeschlagene Thema wird in kurzen Sätzen einleitend vorgestellt, Fotos, Bücher, Bilder helfen bei der Inspiration.
Der Teilnehmer muss auch nicht selber schreiben können, um in einer Schreibwerkstatt mitzumachen; seine Gedanken, Ideen, werden dann von Mitteilnehmern aufgeschrieben und später auch vorgelesen.
Es gibt Schreibtechniken, die besonders hilfreich und effizient sind. Da gibt es zum Beispiel den sogenannten Perspektivenwechsel – so haben wir Bäume zum Sprechen gebracht. Oder man benutzt Schreibhilfen für Gedichte, wie das Elfchen oder den Siebenzeiler. Ein Elfchen ist ein modernes Gedicht ohne Reimform
Zeile: ein Wort
Zeile: zwei Wörter
Zeile: drei Wörter
Zeile: vier Wörter
Zeile: ein Wort (ergeben zus. 11)
Beispiel:
Ich
Ich schreibe
Ich schreibe endlich
Ich schreibe endlich den
Artikel
Oder der Siebenzeiler
Zeile: Ein Ort
Zeile: Ein Ich-Satz mit einer Tätigkeit
Zeile: eine Frage
Zeile: etwas mehr Details
Zeile: und noch mehr Details
Zeile: wie Zeile 1 aber anders
Zeile: wie Zeile 2 aber anders
Beispiel
Am Schreibtisch
Ich denke scharf nach
Was könnte ich diesmal schreiben?
Das weiße Blatt ist eine Herausforderung
Es hungert nach Wörtern, nach Ideen
Vor einer leeren Seite auf meinem Pult
Dampft mir das Hirn
Schreiben hat auch immer etwas mit „narrativer“, sprich „erzählerischer Freiheit“ zu tun, es ist eben alles erlaubt, es ergibt sich plötzlich eine Idee, die geboren wird, geschrieben und gelesen.
Auf die sogenannte „emotionale Wahrheit“ kommt es uns an: etwas ist eben so, wie ich es erlebt habe, bewertet habe, erzählen möchte, in Erinnerung habe. Schreiben heißt auch gleichzeitig, sich selbst und dem Gegenüber etwas zu offenbaren. Und dann das Träumerische – es gibt nichts Schöneres, als durch eine Geschichte Träume wahr werden zu lassen, Hindernisse zu umgehen, ein Held zu sein.
Dann erleben wir noch das expressive Schreiben, so als wäre die Welt des kreativen Schreibens eine Parallelwelt, in der ich probeleben kann, in der ich Versäumtes nachholen kann, in der Gerechtigkeit und das Gute endlich siegen,… wo ich mich entspannen kann, wo ich meine Gedanken sortiere, wo nur ich das Wort habe…
Die Vielfalt der Themen und Methoden stimulieren die Phantasie der Teilnehmer und dadurch den kulturgeprägten Austausch. Das Gemeinschaftsgefühl der Teilnehmer, das sich während des Schreibens und auch in einer anschließenden Leserunde einstellt, fördert die Solidarität, denn beim Schreiben und Lesen geht es immer um Beziehung, um Kultur und um Sprache.
Ein konkretes Beispiel
Für das Thema des Tages „Gedichte schreiben“ diente Das Kopfkissen der Hofdame Sei Shonagon (Manesse Bibliothek der Weltliteratur) als kultureller Input.
Es handelt sich um ein klassisches Werk der japanischen Dichtung, ein Skizzenbuch oder Tagebuch, mit den Einfällen, Gedanken, Erlebnissen einer Hofdame, welche diese sonst nur dem Kissen anvertrauen hätte. Es ist stellenweise sehr witzig geschrieben.
Die Einleitung des Ateliers besteht darin, sowohl das Buch als auch die Autorin und ihren Schreibstil vorzustellen. Wir wagen uns dann einfach mal, diesen Schreibstil nachzuahmen. Bevor wir mit dem Schreiben anfangen, hören wir einem vorgetragenen Textauszug zu:
Was Mitgefühl erregt
Eine jammernde Stimme, die eine traurige Geschichte erzählt, indem sich die Person fortwährend die Nase putzt.
Das Gesicht einer Frau, die sich die Augenbrauen auszupft. (Auszug s.175)
Anschließend war die Schreibvorgabe für die Teilnehmer:
„Was Herzklopfen verursacht!“
Ich habe Herzklopfen bei Stress
Bei Aufregung
Wenn ich unter der Dusche bin und mein Handy klingelt
Wenn ich schnell arbeiten muss
Wenn ich meinen Mann sehe
Durch meine Katzen
Josée
Was Herzklopfen verursacht
Zu viel Cola
Aufregung
Wenn man die Brieftasche verliert
Wenn meine beiden Hunde auf die Strasse laufen
Ed
Was Herzklopfen verursacht
Zu starker Kaffee
Telefonklingeln mitten in der Nacht
Wenn man erwischt wird
Verliebt sein
Kurz bevor man lügt
Martine
In der Schreibwerkstatt lernt man weder schreiben noch lesen, es geht weder um Grammatik noch um Orthographie, nein, es geht um das Leben selbst, die Hoffnungen, Erfahrungen, Träume, die einen Menschen ausmachen.
Oder wie sich einer unserer Teilnehmer ausdrückte: „Seit ich in der Schreibwerkstatt bei ATD mitmache, habe ich gelernt nachzudenken, nachzudenken über mein Leben.“
Erstaunlich, dass E., ein Mann, der ein Problem damit hat, seine Gefühle auszudrücken, der sehr schlecht lesen und schreiben kann, durch das Nachdenken auch gelernt hat, selbstbewusster zu sein, sich Anderen öffnet, sich mitteilt. Das ist gelebte Inklusion.
Schreiben ist und bleibt etwas Persönliches; es erlaubt, sich selbst zu sehen, sich selbst zu entdecken, aber auch andere nicht zu übersehen und nicht zu bewerten. Schreibwerkstätten sind eine von vielen Möglichkeiten, durch Kultur Begegnung zu gestalten, über jegliche soziale Grenzen hinaus.
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