Krise der Öffentlichkeit?
Einige Überlegungen zur Situation der Medien in der Gegenwart
Die Entwicklung der Medien in Europa ist in der Gegenwart durch tiefgreifende Veränderungen geprägt, deren Umfang wie auch deren Konsequenzen sich kaum greifen lassen. Ein wesentlicher Faktor dieser Veränderungen ist die Digitalisierung, die seit den 1980er Jahren eine Revolution der Medien vorantreibt. Zwei Daten markieren den Beginn dieser Entwicklung: 1981 hat IBM den ersten Personal Computer (PC) entwickelt, ab 1989 wurde das Internet in der heutigen Form des World Wide Web für ein breites Publikum zugänglich. Beide Erfindungen haben in Kombination miteinander das Alltagsleben nahezu aller Menschen in Europa fundamental verändert.
Eine fundamentale Umstellung des Alltags
Diese Umwandlungen sind nicht einfach zu beschreiben. Digitalisierung ermöglicht mehr als nur eine Beschleunigung oder bessere Zugänglichkeit für mediale Inhalte. Sie macht vor allem eine bisher unvorstellbare Vermischung verschiedener medialer Technologien möglich: Ein analoger Schallplattenspieler kann Töne abspielen, aber ein Computer kann sie zusätzlich versenden, speichern, bearbeiten, verändern, analysieren und sogar darauf reagieren. Die Digitalisierung bedeutet so nicht nur für die gegebenen Kommunikationsmedien tiefgreifende Änderungen, sondern vor allem auch eine Erweiterung dessen, was als ‚Medien‘ begriffen werden kann. Die Technik der digitalen Gesichtserkennung etwa hat in den letzten Jahren entscheidende Fortschritte gemacht – und wird beispielsweise in China bereits jetzt zur flächendeckenden Überwachung und Kontrolle der Einwohner genutzt. Autonom fahrende Kraftfahrzeuge befinden sich zur Zeit noch im Versuchsstadium – der umfassende Einsatz dieser digitalen Technologie dürfte aber in absehbarer Zeit den Straßenverkehr radikal ändern. Smarthome-Systeme wie Amazons „Alexa“ können per Sprachsteuerung verschiedenste Haushaltssysteme steuern. Auf diesen und anderen Gebieten entfaltet die digitale Revolution eine fundamentale Umgestaltung des Alltags für jedes Individuum.
Auch die Situation der klassischen Kommunikations- und Massenmedien ändert sich durch die Digitalisierung grundlegend. Durch die neuen Technologien (Internet, Computer, Smartphone) ergeben sich neue Verbreitungsformen für ‚klassische‘ Medien – etwa die Webpräsenz von Radio- und Fernsehsendern (incl. Mediatheken) oder von Zeitungen, die Einbindung von einzelnen Artikeln in social media (z.B. Twitter oder Facebook). Darüber hinaus sind neuartige mediale Formate entstanden, beispielsweise Blogs, Streaming-Dienste (wie z.B. Netflix), YouTube-Clips, Vlogs, Tweets. Diese Umwälzungen haben Folgen für das gesamte Mediensystem. Diese zeigen sich vor allem im Bereich der Printmedien (welche, anders als die Radio- und TV-Sender in den meisten europäischen Ländern, nicht von Gebühren finanziert werden). Die Auflagenzahl der Zeitungen und Zeitschriften in Europa kennt seit 1990 nur eine einzige Richtung: nach unten. In Deutschland etwa halbierte sich die Gesamtzahl der verkauften Tageszeitungen zwischen 1991 und 2018 von 27,3 auf 14,1 Millionen. Angesichts dieser Entwicklung wurden zahlreiche Stellen gestrichen, Redaktionen verkleinert oder abgeschafft: Gerade im Bereich der Lokalredaktionen ist es üblich geworden, dass mehrere Zeitungen von einer Redaktion beliefert werden. Angesichts dieser Reduzierung von Qualität und Vielfalt erscheinen Printmedien insgesamt zunehmend weniger relevant.
Die Auswirkungen dieser Entwicklung auf die Lektürekompetenz sind noch nicht umfassend erforscht. Es gibt allerdings zahlreiche Hinweise darauf, dass selbst Studierende immer weniger über die Fähigkeit verfügen, lange und komplexe Texte zu verstehen. In entsprechenden Studien ist die Rede von „Lesefaulheit“ oder „intellektueller Legasthenie“ (bei Studierenden).1
Demokratisierung oder Zerfall politischer Öffentlichkeit?
Dass diese Entwicklungen einen Einfluss auf die politische Öffentlichkeit Europas ausüben, ist unbestreitbar. Die neuen medialen Plattformen (Facebook, Twitter) wurden noch vor wenigen Jahren von Medienwissenschaftlern als Garanten einer neuen Demokratisierung gelobt (man bezeichnete den ‚Arabischen Frühling‘, der im Dezember 2010 in Tunesien begann, als „Facebook-Revolution“). Interessant und neu ist an den social media, dass hier die in den traditionellen Medien grundlegende Grenzziehung zwischen ‚Sendern‘ und ‚Empfängern‘ verflüssigt wird: Jede/r Nutzer/in von Twitter oder Facebook kann jederzeit Nachrichten von anderen Medienformaten jeglicher Art teilen und somit distribuieren, aber auch kommentieren oder gleich eigene Artikel, Fotos oder Videos veröffentlichen. Auch viele der neuen medialen Formate im World Wide Web – Blogs, YouTube-Clips, Vlogs – erlauben erstmals eine massenmediale Wahrnehmung ohne jede redaktionelle Kontrolle und mit sehr geringer Einflussmöglichkeit staatlicher Behörden. Auf Plattformen wie Facebook werden bestimmte Inhalte von ‚Löschteams‘ entfernt (nach nicht öffentlich zugänglichen Regeln), dies bezieht sich jedoch vor allem auf pornografische Beiträge, Gewaltdarstellungen sowie ausdrückliche hate speech. Damit ergab sich in den Augen vieler Beobachter die Chance, eine alte Medienutopie in die Realität umzusetzen: die endgültige Aufhebung der Unterscheidung zwischen Sendern und Medienempfängern und damit die absolute Ausdehnung und Demokratisierung des öffentlichen Raums. Diese Utopie hat etwa Bertolt Brecht in seinen Schriften zur Radiotheorie formuliert: „Der Rundfunk ist aus einem Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat zu verwandeln. Der Rundfunk wäre der denkbar großartigste Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens, ein ungeheures Kanalsystem, das heißt, er wäre es, wenn er es verstünde, nicht nur auszusenden, sondern auch zu empfangen.“2 Der Optimismus, der in den social media die Verwirklichung dieser demokratischen Utopie sehen wollte, wurde in den letzten Jahren jedoch von immer weniger Beobachtern geteilt. Soziale Netzwerke wie Facebook oder Twitter distribuieren und organisieren die Kommunikation im Internet – und beide erweisen sich nicht als Medien einer funktionierenden politischen Öffentlichkeit. Die politische Kommunikation wird hier von ‚Trollen‘ dominiert – bezahlten und unbezahlten, menschlichen und nicht-menschlichen (social bots). Dies führt zu einer Fokussierung auf Provokation und Empörung, zu Zersplitterung und Radikalisierung der politischen Kommunikation im Netz.
‚Gegen-Öffentlichkeiten‘ haben sich entwickelt, in denen politische Positionen vertreten werden können, die in den ‚Mainstream-Medien‘ zuvor nicht ohne weiteres geäußert werden konnten (wie Verschwörungstheorien, Rechtsradikalismus). Eine generelle Tendenz vieler neuer Medienformate ist eine strukturelle Vermischung von Information und Entertainment: Klickzahlen sind hier häufig wichtiger als seriös recherchierte Nachrichten (die 2006 gegründete Webseite buzzfeed.com, die sich auf das Posten von Listen spezialisiert hat, kann als Paradigma dieser Vermischung gelten). Die Situation in Europa ist bei weitem nicht vergleichbar mit derjenigen in den USA – wo die Medienlandschaft so polarisiert ist, dass es keine überparteilichen Medien mehr zu geben scheint –, aber die Entwicklung geht auch hier in die ähnliche Richtung.
Ein gefährlicher Generalverdacht
Aus verschiedenen theoretischen Perspektiven wird Öffentlichkeit in den Sozialwissenschaften als entscheidender Faktor jedes demokratischen Systems begriffen. Mit der Französischen Revolution wird zum ersten Mal die Forderung erhoben, Politik „auf die Individuen zu gründen, die als Träger der Politik, als volonté générale, als Gegenstand der Repräsentation oder eben: als öffentliche Meinung die politische Herrschaft begründen“,3 formuliert Niklas Luhmann. Die Aufgabe der Öffentlichkeit ist dabei, eine formlose Masse von bloßen „Individuen“ in ein politisches Subjekt (als „Träger der Politik“) zu transformieren – und zugleich, die Wünsche und Meinungen dieser Individuen gegenüber den Instanzen der politischen Macht zu repräsentieren. Die politische Theorie hat einige Anstrengung darauf verwendet, die Logik der Zugangsbedingungen und der diskursiven Rationalität der Öffentlichkeit zu erörtern. Einig ist sie sich allerdings dabei, dass das Modell der Öffentlichkeit voraussetzt, dass Ideen und Standpunkte auf einer gemeinsamen Bühne geteilt und erörtert werden können.
Genau diese Prämisse der Öffentlichkeit ist aber durch das Entstehen pluraler ‚Gegen-Öffentlichkeiten‘ infolge der digitalen Revolution in Gefahr. Das Problem besteht nicht unbedingt darin, dass vereinzelte Individuen sich nicht als Teil der medial repräsentierten ‚volonté générale‘ betrachten (um dann etwa als ‚gilets jaunes‘ oder ‚Pegida‘ auf die Straßen zu gehen): die Repräsentation des politischen ‚Volks‘ konnte noch nie identisch sein mit der tatsächlichen Bevölkerung. Eine politische Gefahr besteht eher darin, dass alle in Frage kommenden Medien der Öffentlichkeit unter den Generalverdacht falscher Repräsentation gestellt werden (‚fake news‘). Infolgedessen geraten die ‚Mainstream‘-Medien (die öffentlich-rechtlichen Rundfunksender und der ‚Qualitätsjournalismus‘) in einen fortdauernden Identitätskonflikt – und unter den Erwartungsdruck, Themen und Positionen der ‚Gegen-Öffentlichkeiten‘ aufzugreifen (vgl. etwa die Präsenz von rechtspopulistischen Themen in den deutschen Medien nach 2015).
Es gehört wohl zum Wesen medialer Revolutionen, dass ihre Auswirkungen und Folgen erst im Nachhinein seriös beschrieben werden können – und die digitale Revolution hat gerade erst angefangen, den Alltag der Menschen umzugestalten. Je umgreifender diese Veränderungen sind, umso schwieriger wird es, sie während ihres Geschehens adäquat zu begreifen. Dass die Digitalisierung allerdings die Struktur der Öffentlichkeit in den Demokratien des Westens radikal ändert, lässt sich bereits heute beobachten. Digitalisierung kann heute primär als Ursache für eine Krise der Öffentlichkeit verstanden werden. Der öffentliche Raum war ein zentrales Element in den politischen Idealen der Aufklärung: als Ort der politischen Rechtfertigung und des Streites, sowie des Ringens um die besten Argumente und Lösungen. Durch die pluralen Öffentlichkeiten der digitalen Welt droht dieses Ideal in Vergessenheit zu geraten.
1) Vgl. Roman Pletter, „Ein Land verlernt das Lesen“, in: Die Zeit vom 12. November 2009, https://www.zeit.de/2009/47/DOS-Der-deutsche-Leser, letzter Aufruf: 23. März 2019
2) Bertolt Brecht, „Der Rundfunk als Kommunikationsapparat“, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 18: Schriften zur Literatur und Kunst I, Frankfurt/Main, Suhrkamp, 1967, S. 127-134, hier S. 129
3) Niklas Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, Frankfurt/Main, Suhrkamp, 2000, S. 281
Als partizipative Debattenzeitschrift und Diskussionsplattform, treten wir für den freien Zugang zu unseren Veröffentlichungen ein, sind jedoch als Verein ohne Gewinnzweck (ASBL) auf Unterstützung angewiesen.
Sie können uns auf direktem Wege eine kleine Spende über folgenden Code zukommen lassen, für größere Unterstützung, schauen Sie doch gerne in der passenden Rubrik vorbei. Wir freuen uns über Ihre Spende!
