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Kritik der hilflosen Vernunft
Die digitalen Transformationen der analogen Welten in eine vollkommen neue Dimension ähneln dem unerfindlichen Ursprung von Naturwundern. Sie haben keinen menschlichen Urheber. Sie entspringen durch die Träume und Hände der Techniker hindurch. Technik als übermenschliches Subjekt eines wie von selbst tätigen Fortschritts hat sich ihrer Bediener und Hebammen bemächtigt, die das Wunder aus der Maschine entbinden.
Der Philosoph Günter Anders hat diese totale Herrschaft der Technik über den Menschen, der nur noch die Rolle des Bedieners einzunehmen hat, schon vor 50 Jahren in seinen Büchern über die „Antiquiertheit des Menschen“ präzise vorausgesagt.
Die Vorteile, Verführungen und Geschenke, die die Digitalisierung und ihre technischen Instrumente den Konsumenten bieten, sind unumkehrbar. Mit Verbotsmaßnahmen, nach welchen besonders diejenigen nach Staat und Staatsanwälten rufen, die um den Verlust ihrer Macht und Deutungshoheit fürchten, ist nichts Faktisches mehr einzuschränken noch jemals wieder aus der Welt zu schaffen.
Wer die Maschine aufhalten will, kommt, wie zu befürchten ist, unter die Räder. Der längst als User umdefinierte und gescannte Mensch verweigert sich den Geschenken neuer Freiheiten und Angebote nicht.
Er braucht Wissen nicht mehr selbst mühsam zu erlernen und zu erwerben. Er holt es, wie er es braucht und zu nutzen versteht, aus der „Cloud“, er folgt dem Diskurs der Maschinen untereinander. Sie sind in der Lage seine Bedürfnisse und Wünsche zu lesen.
Die wirkliche Welt scheint durch das „Internet der Dinge“ aufgewertet und als Kommunikationspartner akzeptiert.
Er gibt die alteuropäischen Ansprüche auf Autonomie und Originalität auf, wenn er sie nicht schon vorher vergessen hat und gewinnt dabei an Bequemlichkeit, Chancen und Freiheit, die ihm einst die Märchen vom Schlaraffenland und vom „Tischlein deck dich“ verhießen.
Die auf „menschlichem Versagen“ beruhende Unsicherheit im Straßenverkehr wird durch ein gesetzlich geregeltes autonomes Fahren abgelöst und Diagnostik und Therapie im Gesundheitswesen werden auf der Basis der totalen Genomentschlüsselung optimiert.
Der Mensch hat nichts mehr unter dem Druck einer Anstrengungskultur zu tun, er kann sich der Optimierung seiner Bedürfnisse und Wünsche hingeben, ohne Schuldgefühl, ohne Gewissensnöte und psychische Zwänge. Die Preisgabe von allem, was „privat“ bedeutet, ist längst im Tauschgeschäft mit Daten-Maschinen wie Google, Amazon, Facebook, E-Bay derart alltäglich geworden, dass es nicht mehr als „Preisgabe“ empfunden und benannt wird.
Damit gibt er die offene Frage, wer der Mensch ist, der „Seinsvergessenheit“ anheim. Sie scheint ihm unwesentlich, angesichts der grundstürzenden Umstrukturierung, die die Technik auch mit ihm im Innern des homo sapiens in rasantem Tempo vornimmt.
Vergessen auch die Mahnung des Schriftstellers André Malraux, dass der Mensch „sein Bild nicht innerhalb der Spannweite erworbener Kenntnis zu finden vermag“, also auch nicht in den Riesenmengen von Big Data.
Denn so Malraux: „Er findet das Bild seines Selbst in den Fragen, die er stellt.“ Dieses Suchbild scheint einer obsoleten Tradition anzugehören. Man gibt seine Daten ein und liefert sich mit diesen der Maschine aus. Sie wird künftig alles für ihn richten.
Niemand braucht sich mehr Geräte kaufen, um seine Häuser und Behausungen damit voll zu stellen, niemand muss sich mehr Kultur-Konserven, wie Musiken, Bücher und Filme anschaffen und behüten. Es ist und steht alles auf Abruf bereit in der Wolke.
Das ist im Umriss die schöne neue Digitalwelt. Der Preis für diese verwirklichbare, machbare Utopie scheint gering. Der Mensch muss sich der größeren Intelligenz, der Macht des Superhirns überantworten, ihm seine Daten ausliefern, seine Erlebnisse, Wünsche und Pläne.
Denn diese Maschinen-Intelligenz kann in des Users Umständen und Wünschen besser lesen und erkennen, als er das jemals selbst könnte. Die dauernde Fremdwahrnehmung des Superhirns ist vernünftiger als die jetzt illusionär anmutende Selbstwahrnehmung.
Man muss sich dazu weder unterwerfen, noch sich in Dankbarkeitsgesten ergehen, sondern lediglich den Funktionsabläufen folgen, wobei die Betriebsanleitungen zu seinem höheren und schnellerem Gewinn jedem verständlich und leicht umzusetzen sind. Die sozialen Medien weben täglich an der Time-Line der Beobachteten. In der freundlichen Atmosphäre von Facebook, Twitter, Amazon etc. entstehen Verlaufsprotokolle, die den Bemühungen einer Stasi in der Genauigkeit haushoch überlegen sind.
Die Verfügung über die Daten ist auch die Möglichkeit zum Missbrauch derselben. Der digitale Transformationsprozess ist im Grunde nicht aufzuhalten. Denn dieser ist nach einem beliebten Zitat: „alternativlos.“ Und liegt schon in der Magie des Satzes „alles was technisch möglich ist, wird auch angewendet“ begraben.
Der Verweis auf die Doppeldeutigkeit des Werkzeugs, die angefangen beim einfachen Messer sich schon zeigt, mit dem man Brot schneiden, aber auch töten kann, klingt angesichts des Schreckens, den die hoch-gerüsteten Bastarde des Terrors verbreiten, natürlich kaum tröstlich.
Die romantischen Propheten des Zurück, die Kulturpessimisten rühren an allen Ecken und Enden ihre Trommeln, sie wiegeln zu Boykott und Spielverderben auf, als wäre der archaische homo ludens nun auf ihrer Seite. Denn sie verwechseln die Gaben und Geschenke des technischen Fortschritts mit den Auskünften von dessen utopischen Propagandisten und Deutern. Diese sind noch so betäubt von den Wirkungen des Wunders und des Tempos, das der technische Fortschritt nun annimmt, dass sie den Bedeutungswandel, der in der Sprache sich mitvollzieht, missdeuten und noch sehr dilettantisch erst verstehen, was in dem anthropo-technisch veränderten Begriff vom Menschen vor sich geht.
Dass er trotz aller Erlöstheit von früheren Lasten dennoch nicht vollends aufgeht in dem umfassenderen Bild vom Menschen, den man als Sterblichen oder im Christentum als Sünder verstanden hat, zeigt an, dass es zu einem eschatologischen Duell zwischen Mensch und Maschine kommen wird. Der homo ludens ist als Repräsentant auch digital nicht verfügbar und im Gegensatz zu allen menschlichen Typen, in welchen er auftauchen und mitspielen kann, nicht zu vermessen. Er bleibt bestehen als imaginäre Brückenfigur zu allem wie immer überwindlich Vergangenen.
Der homo ludens inspiriert unter allen Umständen, auch denen der Digitalität, den einzelnen Menschen, der mehr will und kann als der Schwarm, der im Ja-Nein Schema gefangen bleibt und entweder schwärmt oder schmäht.
Da Techniker, die die Folgen und Wohltaten des Wunders betreuen und bedienen, naturgemäß keine Not im sprachlichen Ausdruck kennen, übernehmen die Sciencefiction-Autoren und die PR-Systeme der Giganten Apple, Facebook, Google, Amazon und ihre Datenauswertung das hermeneutische Geschäft.
Diese wissen, dass durch die forcierte Anthropotechnik, die sich im engsten Bündnis mit den technischen Errungenschaften entwickelt, zwar die Verfügbarkeit und Transparenz von Kommunikation und Bedürfnisstrukturen ständig wachsen, doch die religiösen Wurzeln im utopischen sozialen Netzwerk rasch verderben werden.
Wie bei Hubbard, dem Gründer der Scientology Church, verwandelt sich auch in der Glaubensgemeinschaft von Silicon Valley die anfangs noch intendierte neue Religion rasch in eine pragmatische Marketingtheorie.
Transparenz ist eine ideologische Marke, die nicht radikal halten muss, was sie verspricht, um den Erfolg auf die Spitze zu treiben.
Genau an diesem Punkt kann das Individuum seine Souveränität zurückgewinnen, ähnlich wie der Ketzer die Lichtung wahrnahm, die die dritte Person der Trinität, der heilige Geist, ihm offenbarte, wo er sich von den orthodoxen Zwängen der Kirche befreien und Distanz zum Ganzen gewinnen konnte.
Der Konsument und User der digitalen Angebote und Bedingungen kann diese annehmen, ohne sich in ihnen ganz und gar aufzugeben und zu verschleißen. Ideen sind Universalien, die den Weltlauf beeinflussen können, von diesem aber, selbst in seiner digitalisierten Formatierung, nicht ganz und gar einverleibt werden können.
Das menschliche Wissen kann vom Superhirn erweitert und auf unerhörte Weise genutzt und beschleunigt werden. Ähnliches gilt für das menschliche Denken, sofern es auf den Nutzen und die Bedürfnisse in der Gesellschaft und den dort ansässigen sozialen Netzwerken bezogen ist. Insofern dieses Denken aber auf sich selbst und die innere Freiheit tendiert, kann ihm das Superhirn zwar beratend zu Hilfe kommen, doch es niemals auslöschen oder für überflüssig erklären.
Euphorische Zukunftsbilder hier und Angstfantasien dort verschleiern das Problem, dass es für eine Entscheidung pro oder contra bereits zu spät ist.
So soll Steve Jobs, einer der Zukunftsstürmer, bereits 1983 den Geschäftsführer von Pepsi Cola gefragt haben: „Wollen Sie den Rest ihres Lebens Zuckerwasser verkaufen oder wollen Sie eine Chance, die Welt zu verändern?“
Heute sehen wir, dass er weniger die Welt, als das In-der-Weltsein verändert hat. Die Utopisten aus Silicon Valley veränderten die Art zu denken und Gefühle auszudrücken, die Interaktion mit anderen. Sie schufen neue Infrastrukturen, um den Computer, das Smartphone zum primären, letztlich einzig Maß gebenden Zugang zur Realität werden zu lassen.
Denn die IT-Konzerne überwinden den Staat, der als Fossil zurückbleiben wird, sodass seine eingebüßte Souveränität sich als Frage ganz neu stellen wird. Nicht die Frage, welche bisher behauptete Souveränität geht verloren, sondern welcher andere und neue Begriff von Souveränität entspringt der Digitalisierung, mithin dem alles beherrschenden Zugang zur Welt.
Welcher neue Schlüssel zur Ordnung der Dinge ist die Digitalisierung selber und wie kann man das beschreiben? Wie in allen Systemen ist auch hier die Kritik von außen nutzlos, es gilt ins Innere des Produktionsvorganges vorzudringen, um zu erkennen, was mit uns und den Sachen geschieht.
Denn die Digitalisierung selbst kann keine Sache sein. Sie ist eher eine Sprache oder eine Methode, die es hinter den Produkten und Innovationen, die aus ihr hervorgehen, aufzuspüren gilt. Die Utopisten selber sagen uns immerzu nur, schaut her, was wir hervorzubringen imstande sind, wollt ihr darauf verzichten, ist es nicht eine Verbesserung aller Umstände und Zustände, die ihr bisher hattet?
Es ist nicht auszumachen, wer den Epochenbruch maßgerechter zu schildern versteht, die Apokalyptiker oder die Utopisten, die sich mit Zuversicht und Begeisterung dem technischen Fortschritt verschreiben, der neben den Riesengewinnen notwendigerweise immer auch Verluste mit sich bringt.
Politische Kategorien könnten die anbrechende neue Zeit nur behindern und wären überhaupt nicht geeignet, die anstehenden Probleme zu lösen, sie führten uns nur zurück in alte, längst geschlagene Schlachten des ideologischen Zeitalters.
So verstehen die einen Edward Snowden als großen Aufklärer, die anderen als Verräter. Vielleicht ist er sogar beides, weil Aufklärung und Verrat unter den digitalen Vorzeichen der Zukunft nicht mehr wie einst bloß als Gegensätze zu unterscheiden sind.
Unter den Bedingungen der Digitalisierung aller Verhältnisse und Beziehungen, scheint es, verlieren auch die altgedienten Theorien und pragmatisch eingespielten Verfahrensregeln rasch ihren Kurswert.
Wer sich vor den Maschinen nicht huldvoll verneigt, ist verdächtig und lächerlich, denn es ist aussichtslos, sich den Maschinen in den Weg zu stellen. Sie dulden auch nicht die leiseste Skepsis im Namen des Humanen.
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