Lasst uns debattieren!
Jugendliche und ihr „Indignez-vous!“ im 21. Jahrhundert
Viele Uni-AbsolventInnen kehren nach ihrem Studium im Ausland nach Luxemburg zurück und beklagen die mangelnde Kreativität und jenen konservativen Konformismus, die schon fast charakteristisch für das kleine Land sind. Diese Klagen sind jedoch sehr pauschal und werden dem komplexen Auf und Ab des jugendlichen Aktivismus, der individuellen Prioritätensetzung und der sich schnell verändernden Interessengebiete nicht gerecht. Zum einen waren viele dieser jungen Menschen während Jahren in ihren Universitätsstädten und haben Luxemburg bloß zu Weihnachten oder in den Sommerferien besucht, und zum anderen ist es ja auch schwer, eine Diskussionskultur unter jungen Menschen zu entwickeln, wenn mehr als die Hälfte während ihres Studiums im Ausland lebt.1 Falsch ist jedoch die immer wieder zu hörende Aussage, dass die von der 68er-Generation so hoch gepriesene Diskussionskultur unter jungen Menschen gar nicht mehr existiert. Das „Indignez-vous!“ (Empört euch!) — Jugendliche und Studenten, die das System in Frage stellen, die aktiv an der Gesellschaft teilnehmen und die sich interessieren — existiert sehr wohl, aber verändert sich, mit neuen Möglichkeiten und auf neuen Plattformen.
Diskutieren erlernen
Eines der Ziele der non-formalen Bildung ist es, die Diskussionskultur junger Menschen zu fördern.2 Diskutieren muss erlernt werden. Wer in der Isolation groß wird und wenige Erfahrungen bei sozialen Freizeitaktivitäten sammelt, dem fehlt bereits eine wichtige Komponente dieser Diskussionskultur: die soziale Interaktion. Durch sie lernen junge Menschen neue Sichtweisen kennen, merken in Konflikt- situationen, dass es nicht nur die eine „richtige“ Meinung gibt, und trainieren ihre Kommunikationsfähigkeiten. Diese Erfahrungen müssen erlernt werden und sind Fähigkeiten, die junge Menschen3 nach und nach weiterentwickeln. Diskutieren wird jedoch nicht exklusiv in der non-formalen Bildung gelehrt und eingeübt, junge Menschen lernen die Auseinandersetzung mit aktuellen Themen und anderen Perspektiven auch im Alltag.
Unterschiedliche Diskussionssphären
Es gibt verschiedene Sphären der Diskussionskultur und damit zusammenhängende Plattformen, Kommunikationsmittel und Möglichkeiten. Aber wie drücken sich diese aus? Welches Publikum sprechen sie an und wie werden sie gefördert beziehungsweise gehemmt? Welche Faktoren bestimmen das Geflecht von Akteuren sowie von meinungsbildenden Strukturen und Institutionen? Mitte der 1970er Jahre wurden zahlreiche Jugendbewegungen und Organisationen aus der außenpolitischen Realität des Kalten Krieges heraus gegründet. Nelkenrevolution in Portugal (1974), Putsch in Chile (1973), linke Revolution in Nicaragua (1979), links-politischer Aktivismus … Viele junge Menschen beschäftigten sich mit Außen- und Entwicklungspolitik und zeigten sich solidarisch mit Entwicklungsländern. Heute sind es andere Themen, die die Jugend zusammenbringt: Datenschutz, Jugendarbeitslosigkeit, Schulpolitik. Vielleicht kann man sagen, dass die Themen eher Ich-bezogen sind? Junge Menschen kämpfen für ihre Rechte, ihre Zukunft, ihre Ausbildung und für ihre Freiheit. Es geht um sie, um die eigene Identität und Selbstbestimmung. Vielleicht ist dies eine Konsequenz des heutigen Individualismus, des Neo-Liberalismus und des Leistungsdrucks unserer täglich mehr fordernden Gesellschaft? Oder hat es etwas mit der Greifbarkeit dieser Themen zu tun, welche der Jugend erlaubt, sich durch proximales Engagement einzubringen? Junge Generationen halten an Altbewährtem fest, aber beschäftigen sich vor allem mit aktuellen Themen. Es ist ein wellenartiges Empfinden von neuen Prioritäten, neuen Aktionsfeldern, die eine breite Masse auf die Straße bringt oder für Aufregung auf Facebook und Twitter sorgt.
Sphäre 1: die implizite Förderung von Diskussionskultur
Vereine und eine eventuell darauf folgende ehrenamtliche Tätigkeit bieten vielerorts die Plattformen, den Ort des Zusammenkommens für Diskussionen. Einige Vereine und Organisationen haben dieses Ziel ausdrücklich formuliert, andere fördern es implizit durch ihre Programme und Ideen. Das Engagement in Non-Profit-Organisationen und Vereinen bringt junge Menschen zusammen. Sie engagieren sich gemeinsam für eine Sache. Der Wunsch, „mehr“ machen zu wollen, sich nicht auf den Konsum zu beschränken, einen vielfältigeren Tagesablauf als Schule, Sport und Fernsehen zu haben, ist ein wichtiger erster Schritt in der Diskussionskultur von jungen Menschen.
Die Menschen, die sich aktiv an Diskussionen beteiligen, haben gelernt, etwas zu geben, sich für Ziele und Ideen einzusetzen. Sie kommen aus Jugendorganisationen wie den Pfadfindern, der freiwilligen Feuerwehr, Kirchengruppen oder lokalen Vereinigungen. Wo Menschen sich freiwillig engagieren, kommt ein Dialog zu Stande, zunächst wohl ein Dialog, der die eigene Sache betrifft, der sich dann aber bei weiterem Engagement über viele gesellschaftspolitische Themen ausweiten kann. Die Diskussionskultur in Jugendorganisationen kann also relativ unstrukturiert sein, sie ist eine Art Nebenprodukt und steht selten im Vordergrund. Dennoch gibt sie wichtige meinungsbildende Ideen mit auf den Weg, lässt Kontakte entstehen und überwindet vor allem die Barrieren, die viele Jugendliche gegenüber Engagement, Diskussionsforen und Gruppen mit einem expliziteren Wunsch nach Teilnahme verspüren.
Sphäre 2: die institutionalisierte Diskussionskultur
Eine explizitere Form der Diskussionskultur wird in institutionalisierten Plattformen angeboten. Ihr Ziel: Förderung von Dialog und Diskussion, politische Partizipation und Entwicklung von verantwortungsvollen jungen Bürgern. Die Conférence générale de la jeunesse du Luxembourg (CGJL)4, die Conférence nationale des eÌtudiants du Luxembourg (CNEL)5 oder das Jugendparlament6 sind Paradebeispiele für diese Foren. Sie vertreten klar die Interessen der Jugend, der Schüler und Studenten. Mit dem Ziel, jungen Menschen Politik, demokratische Prozesse, Engagement und Debattieren nahe zu bringen, sind sie die maßgeblichsten Plattformen zur Förderung einer Diskussionskultur in Luxemburg. Leider sprechen diese Initiativen nur wenige junge Menschen an. Die breite Mehrheit nimmt an diesen Projekten nicht teil. Die Mehrzahl der Teilnehmer entstammen einer eher elitären Gruppe, wo aktuelle Themen aus den Medien auch im Elternhaus diskutiert werden.7 Nur Wenige, die diesen privilegierten Hintergrund nicht mitbringen, werden als Jugendliche durch Werbung, Kampagnen oder über das Umfeld angesprochen. Von daher scheint die Repräsentativität der Teilnehmer dieser bestehenden Plattformen und institutionalisierten Diskussionsforen begrenzt. Sie sollten sich daher regelmäßig selbst hinterfragen: Wie sind Jugendliche aus sämtlichen geographischen Regionen in einem Jugendparlament vertreten? Wie viele Prozent der Mitglieder sind im technischen Sekundarunterricht und wie viele ausländische Jugendliche nehmen teil? Das sind alles Fragen, die sich ein Jugendparlament, genauso wie andere Foren und Organisationen stellen und in ihrer Rekrutierung berücksichtigen sollen.
Ein interessantes Phänomen ist jenes der Institutionalisierung von Diskussionsplattformen. Jahrelang wurde von den wechselnden Regierungen Luxemburgs mehr Einsatz und mehr finanzielle Unterstützung in der Jugendpolitik in Aussicht gestellt. Sowohl in der Kooperations- wie der Jugendpolitik hat sich dann auch enorm viel getan. Aus jungen, wenig formal organisierten Jugendgruppen entstanden ASTM, ASTI und Co. Aus Pfadfindern, JEC und anderen Jugendorganisationen, die sich noch vor 40 Jahren selbst finanzieren und organisieren mussten, entstanden in den letzten 20 Jahren Organisationen mit staatlichen Konventionen, Angestellten und riesigen „Vereinshäusern“. Das Jugendministerium rief staatlich geförderte Projekte und Organisationen wie das Jugendparlament und die CNEL ins Leben.
Der Staat antwortete u. a. so auf die jahrelangen Forderungen nach mehr Anerkennung und Unterstützung von Jugendlichen. Und dennoch werden heute immer wieder Stimmen laut, die beklagen, dass Jugendliche nicht genügend Diskussionskultur entwickeln. Beklagen diese Stimmen vielleicht, dass es nicht genug „unorganisierte“ Diskussionskultur gibt? Sind das nicht vielleicht jene Menschen, die der anfänglichen Selbstorganisation nachtrauern? Ist es nicht paradox, jetzt, nachdem eine staatliche Unterstützung besteht, wieder mehr spontane Initiativen zu fordern?
Sphäre 3: die punktuelle, nicht-institutionelle Diskussionskultur
Die dritte Sphäre ist am wenigsten greifbar. Sie stellt eine Mischung aus punktueller, proximaler Ausdrucksmöglichkeit, selbst-organisierter Plattformen, kultureller Begegnungsorten und Demonstrationen dar. Diese Form der Diskussionskultur befindet sich im permanenten Wandel, in einer Bewegung, die von den Menschen getragen wird. Sie nimmt Form in Rundtischgesprächen, Open Mics, Festivals8, Kunstprojekten und Demos. Oft tritt sie bei ganz konkreten Themen in Erscheinung, wie beispielsweise der Initiative Freedom not Fear. Mal wird sie von Künstlerkollektiven wie Richtung 22 gefördert, die konsequent unsere Gesellschaft in Frage stellen. Demonstrationen gegen den Irakkrieg oder die Reform der Studentenbeihilfen sind Beispiele für punktuelle Diskussionen, die eine große Zahl von Menschen mobilisieren. Auch Online-Plattformen, wie die Facebook Initiative des nee2015 im Rah- men des Referendums, fallen unter die Kategorie der Pop-Up Initiativen zu konkreten Thematiken.9
Ein aktuelles Potenzial?
Die hochaktuelle Flüchtlingsproblematik hat das Potenzial, eine Diskussionskultur getragen von Aktivismus und Solidarität anzuregen. Hier ist es die Herausforderung zu informieren, sich als Zivilgesellschaft aktiv einzubringen und auch wieder etwas zu leben, was in den letzten Jahren weniger deutlich geworden ist: intergenerationelle und interkulturelle Solidarität. Nun geht es darum, die gemeinsame Menschlichkeit und Empathie wieder zu erwecken und von älteren Generationen zu erfahren, wie in der Vergangenheit Flüchtlinge einen Platz in unserer Gesellschaft erhalten haben. Gleichzeitig bringen junge Menschen, Schüler, Studenten, Aktivisten und Engagierte durch Elan, neue Kommunikationsmöglichkeiten und Kreativität Dynamik in die Debatte. Die nächsten Monate werden zur Probe und hoffentlich zum Vorbild für eine Diskussionskultur, die etwas bewegen möchte, die ein Zeichen setzt, und wo generationsübergreifende Beiträge geleistet werden können.
1 Genaue Zahlen befinden sich im Pressedossier des Hochschulministeriums zur RentreÌe acadeÌmique 2015/2016.
2 Definition von Diskussionskultur aus dem deutschen Wörterbuch.
3 Ich denke hierbei an junge Menschen zwischen 14 und 26 Jahren.
4 http://www.cgjl.lu
5 http://www.cnel.lu
6 http://www.jugendparlament.lu
7 Mehr Informationen zur politischen Beteiligung im Dossier zur Bürgergesellschaft der Zentrale für politische Bildung: http://www.bpb.de/ gesellschaft/kultur/zukunft-bildung/189941/ die-ungleiche-buergergesellschaft?p=all
8 Mehr dazu in Luka Heindrichs Artikel: „Terrain vague, anyone?“ in: forum Ausgabe 345 (11.2014).
9 Über die sozialen Medien als Diskussionsplattformen wäre ein eigener Artikel nötig.
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