Leben Totgesagte länger?

„Kirche vs. Staat“: Erdbebenspalte der Luxemburger Politik

Beginnen wir, der Großwetterlage entsprechend, mit einer Dystopie.Wir schreiben das Jahr 2030. Im Lande Luxemburg ist der Teufel los. LuxLeaks und Panama Papers sind längst passé. Doch es waren nur die ersten von sieben Plagen, die den fiskal-industriellen Komplex mit verschwörerischer Regelmäßigkeit und apokalyptischer Zersetzungskraft heimgesucht haben. Petabyte für Petabyte an diskreditierenden Indiskretionen schaufeln die ICIJ-Journalisten ans Tageslicht. Die digitale Revolution frisst ihren gelehrigsten Schüler. Es geht um Steuerausfälle in Billionenhöhe. Der Schaden ist planetar. Selbst Rifkin weiß keinen Rat.

Jetzt steht die EU-Kommission unter Zugzwang. Unter dem Druck der empörten Weltöffentlichkeit kann sie nicht anders, als das Land der einst stolzen Karlspreisträger unter Vormundschaft der Staatengemeinschaft zu stellen, mit Hohem Repräsentanten, Troika und den Untersuchungsrichtern vom noch jungen EU-Finanzgerichtshof. Sie sollen den Stall ausmisten. Die großherzogliche Regierung ist abgesetzt, die Abgeordnetenkammer geschlossen, gegen fast alle Spitzenpolitiker wurde ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Die politischen Parteien lösen sich, nahezu unbemerkt, auf.

Drei Jahre später, also unerwartet schnell, ist der Laden saniert. Die fremden Zwangsverwalter ziehen ab. Mit neuer Verfassung steht Luxemburg wieder souverän auf eigenen Füßen. Auch das Gros seiner bekannten Politiker ist wieder da. Wegen Mangels an Beweisen wurden, bis auf zwei oder drei, alle Anklagen fallengelassen.

Das System rekonstituiert sich. Institutionen, Ministerien, Verwaltungen, Gerichtsbarkeit – trotz zeitweiligen Blackouts ist die Kontinuität des Staates gewährleistet. Nur die Parteien tun sich äußerst schwer. Was sich ehedem zusammengehörig fühlte, mag jetzt nicht mehr zusammenwachsen.

Das gilt für alle drei „Altparteien“ gleichermaßen. Warum bräuchte es noch eine christlich-soziale Volkspartei in einem Land, das mittlerweile durch und durch säkularisiert ist? Die einst mächtige, mit der Weltlichkeit so eng verflochtene Katholische Kirche hat sich unter dem Motto „Klein, aber authentisch“ mit ihrem Nischendasein arrangiert. Ja, mehr noch: Dank ihres unerschrockenen Eintretens für eine andere, gerechtere, solidarische Weltwirtschafts- und -finanzordnung hat sie, ganz im Sinne des jüngst selig-gesprochenen Papst Franziskus, mit dazu beigetragen, den einheimischen Steuervermeidungssumpf trockenzulegen. Nicht wenige aus der Gilde ehemaliger CSV-Finanzgranden haben diesen „Landesverrat“ ganz und gar nicht goutiert. Nur die alten Junckeristen, jene Herz-Jesu-Marxisten also, die sich nie auf den Cocktailpartys der Banken, Fondsgesellschaften, Wirtschaftsprüfer und Geschäftsanwälte blicken ließen – bzw. nie eine Einladung erhielten –, kichern sich ins Fäustchen, wenn auch ganz klammheimlich.

Warum bräuchte es, zum Zweiten, noch eine sozialistische Arbeiterpartei in einem Mittelschichtenschlaraffenland wie Luxemburg? Mit abgehalfterten, skurrilen Ritualen wie dem Absingen der Internationale („Debout les damnés de la terre! Debout les forçats de la faim!“), während auf dem Parkplatz vor der Kongresshalle die hochmotorisierten Statussymbole von arrivierter Selbstgefälligkeit auf der Sonnenseite des Lebens künden?

Warum bräuchte es schließlich, zum Dritten, ein sich „liberal“ titulierender Selbstbedienungsladen mit Namen DP, wo doch die wahren Herolde von freiem Unternehmertum und schlankem Minimalstaat längst in die innere Emigration geflüchtet sind (oder gleich das Weite gesucht haben) und den verbliebenen Rumpf als dampfplaudernde, sozialdemokratisierte Gefälligkeitspolitiker gering schätzen?

Das Ende der Katholikenpartei in Italien

Doch verlassen wir nun vorübergehend die Dystopie und wenden uns der verbürgten Historie zu, wie sie sich in der Italienischen Republik der frühen 1990er Jahre zugetragen hat. Unter der Losung Mani pulite („saubere Hände“) lancierten Mailänder Staatsanwälte 1992 eine weiträumige Operation gegen Korruption, Amtsmissbrauch und illegale Parteienfinanzierung. Das kriminelle Geflecht, das sie schrittweise zu Tage förderten, ging dank der melodiösen Wortschöpfung Tangentopoli (tangente = Schmiergeld) in die Geschichte ein. Es überzog rasch das ganze Land; gegen mehr als 5000 Personen liefen Ermittlungen, die zu etwa 3200 Gerichtsprozessen führten.

Sämtliche Parteien waren visiert, doch zwei davon hatten bei der Geldbeschaffung besonders fürstlich abgesahnt: die Christdemokraten (Democrazia Cristiana, DC) und die Sozialisten (Partito Socialista Italiano, PSI), beides tragende Säulen der Ersten Republik. Am Ende implodierte das gesamte italienische Parteiensystem der Nachkriegszeit. Die einst allmächtige katholische Volkspartei DC löste sich im Januar 1994 auf, der traditionsreiche, über hunderjährige PSI im November 1994.

Es war ein Beben, das die Parteienlandschaft auf der Apennin-Halbinsel dem Erdboden gleichmachte. Die parlamentarische Demokratie als solche war indes nicht in Frage gestellt: Abgeordneten-kammer, Senat, Regierung und alle anderen Institutionen funktionierten weiter. Selbst die politische Klasse, das Heer der onorevoli mit ihren trikoloren Schärpen, blieb, mit Ausnahme derer, die es wirklich zu bunt getrieben hatten, der glückstrahlenden Nation erhalten. Es stellte sich lediglich in neuer Formation auf.

Was die Christdemokraten anbelangt, so zählte die DC 1990 über 2,1 Millionen Mitglieder. Nach dem Ende der Partei zerstoben sie in alle Himmelsrichtungen. Den christlich-sozialen Flügel zog es in die linke Mitte, wo er sich 2007, nach mehreren Zwischenetappen, u.a. mit den inzwischen zu Linksdemokraten (Democratici di Sinistra) mutierten früheren Kommunisten zum heutigen Partito Democratico (PD) zusammenschloss. Der katholisch-konservative Parteiflügel landete mehrheitlich im Fahrwasser von Silvio Berlusconi und seinen sukzessiven Volksbewegungen, hat sich inzwischen aber vom skandalgeschädigten Cavaliere emanzipiert und tummelt sich seit 2013 größtenteils im Nuovo Centrodestra (NCD). Die Aufrechten und Unentwegten wiederum, jene also, die trotz Änderung des Wahlsystems und der dadurch forcierten Bildung von zwei großen politischen Blöcken (Mitte-rechts und Mitte-links) am Mantra eines eigenständigen christlich-demokratischen Zentrums festhielten, nisteten sich in einer schier unübersehbaren Zahl von Kirchlein, Kapellen und Klausen ein, wo sie von vergangenem Ruhm zehren und ihre Honoratioren-Egos kultivieren.

Die balena bianca aber, der Weiße Wal, wie die DC ehrfürchtig von Freund und Feind genannt wurde, sollte nie mehr von den Toten auferstehen. Und das, obwohl Italien bis heute, vor allem kulturell, zu den katholischsten Ländern der Welt gehört. Nach dem Systemkollaps der 1990er brauchte es ganz einfach keine spezifische Partei mehr für die Katholiken. Warum? Weil der von den Begründern der Cleavage-Theorie, den Politikwissenschaftlern Seymour Martin Lipset und Stein Rokkan1 definierte Staat-Kirche-Konflikt zum Zeitpunkt der Neubildung des italienischen Parteiensystems Ende des 20. Jahrhunderts nur noch marginale Bedeutung hatte, wogegen er bei der Gründung des Nationalstaats 1861 und der Einführung des allgemeinen Wahlrechts 1912, insbesondere wegen des spannungsgeladenen Verhältnisses zum Heiligen Stuhl, von brennender, dominierender Aktualität war2.

Ein ähnliches Räsonnement lässt sich mit Bezug auf das kommunistische, sozialistische und liberale Lager in Italien anwenden: Die innergesellschaftlichen Gräben, die seinerzeit die Bildung entsprechender Parteien begünstigten, sind soweit zugeschüttet, dass diese Begriffe auf breite Wählerschichten keine Anziehungskraft mehr ausüben. All das wiederum bedeutet keineswegs, dass es heute in Italien keine Christdemokraten, Kommunisten, Sozialisten und Liberale, also Personen mit politischem Bewusstsein gibt, die sich diesen Denkrichtungen und Weltanschauungen verbunden fühlen. Es gibt sie sehr wohl, manchmal auch vereint unter dem Dach einer und derselben Partei. Indem sich das Puzzle neu zusammengefügt hat, wurden aus politischen Gegnern von einst Parteifreunde und umgekehrt aus früheren Parteikollegen erbitterte Konkurrenten. Wobei es sich aus Sicht des politischen Katholizismus in fine höchst tröstlich anfühlt, dass die DC zwar mausetot, dafür aber viele Ex-DC-Mitglieder mit jetzt unterschiedlicher Parteicouleur nach wie vor wichtigste Schlüsselpositionen besetzen. Staatspräsident Sergio Mattarella und das vielfarbige Regierungsbündnis in Rom sind dafür beredte Beispiele.

Bruchlinien von vor hundert Jahren

Nach diesem Abstecher nach Bella Italia kehren wir kurz zurück ins dystopische Luxemburg einer imaginären Zukunft. Sollte es dereinst, aus welchen Gründen auch immer (Skandalitis, Revolution, Fremdbesatzung, Cattenom, Klimawandel, Donald Trump,…), zu einem Zusammenbruch des hergebrachten Parteiensys-tems kommen, und sollte danach, wie im Stiefelland geschehen, aus der Restmasse ein neues erwachsen, würde Letzteres mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht mehr die gesellschaftlichen Bruchlinien Luxemburgs des Jahres 1919 – oder auch 1944 – reflektieren. Oder anders ausgedrückt: Wäre das allgemeine Wahlrecht nicht 1919 eingeführt worden, sondern stünde dieser Zivilisationssprung erst heute, 2017, bei gleicher Wirtschaftskraft, Demographie und Lebensart, auf der Tagesordnung, so würde das sich nunmehr formierende Parteiensystem gewiss nicht mehr von Cleavages nach dem Muster „Kapital vs. Arbeit“ oder „Kirche vs. Staat“ bestimmt. Es entstünde keine CSV mehr, keine LSAP und auch keine DP, wie wir sie bis dato kannten. Für jüngere, „modernere“ Bewegungen wie die ADR (nationale Souveränität vs. europäische Integration; autoritär vs. libertär), die Grünen (Produktivismus vs. Postmaterialismus) oder auch déi Lénk (Globalisierung vs. Altermondialismus) stünden die Chancen sicher besser.

Doch heißt das, dass die drei großen alten Damen unter Luxemburgs Parteien ausgedient, ihre nationale Schuldigkeit getan haben? Man möge bitte keine falschen Schlüsse ziehen! Obschon ihr Erbgut, ihre DNA, also das, was sie selbst, ihre edelst gesinnten Mitglieder und treuesten Stammwähler mittels poetischer Grundsatzrhetorik im Innersten zusammenhält, kaum mehr auf ein begeisterungsfähiges Massenpublikum übertragbar ist, bedeutet das noch lange nicht, dass sie als potenziell seriöse und vertrauenswürdige Sachwalter des Allgemeinwohls, als umsichtige Kämmerer der öffentlichlichen Finanzen, solide Garanten von Ruhe und Ordnung sowie fachkundige Technokraten breitestmöglichen Wohlbefindens ausgedient hätten. Die große Mehrheit der Wählerschaft entscheidet sich schließlich nicht aus ideologischem oder philosophischem Ansporn für diese oder jene Partei, sondern ganz profan deswegen, weil sie auf den Erhalt ihrer imaginären Privilegien spekuliert oder die Verbesserung dessen, was sie, mehr oder weniger diffus, unter Lebensqualität versteht.

„Volkspartei der sozialen, fortschrittlichen Mitte“

Dazu gesellt sich die Frage, ob nicht die CSV selbst, nach donnernder Reconquista 1979, das Image eines verstaubten Konservatismus mit moderigem Sakristei-Geruch abgelegt hat? Hat der Ikonoklast Juncker, Klosterschüler mit Cohn-Bendit-Allüren, nicht wiederholt Domkapitel, Apostolischen Nuntius und LW-Chefredaktion das Fürchten gelehrt? Und hat sich die als klerikal verschriene Rechtspartei von einst nicht zu einer „modernen Volkspartei der sozialen, fortschrittlichen Mitte“ gewandelt, deren Bindewirkung weit über die Grenzen der angestammten Jagdgründe des betenden Volkes hinausreicht?

Alles analytisch richtig und mit harten Wahlergebnissen dokumentiert! Doch ein hinreichender Beweis dafür, dass Lipset und Rokkan mit ihren Cleavages danebenlagen oder heute, 50 Jahre später, obsolet geworden sind, ist es nicht. Die Neuzeit in Luxemburg wurde im März 1848 eingeläutet, mit Abschaffung der Pressezensur und Geburt des Luxemburger Wort, den Wahlen zur Assemblée constituante und dem Inkrafttreten der neuen Verfassung am 1. August. Von Anfang an waren die Fronten des politischen Kampfes klar: hier die liberalen, städtischen Großbürger, viele von ihnen Freimaurer, Alliierte des protestantischen König-Großherzogs aus dem Hause Oranje-Nassau, dort das gemeine Landvolk, Nachkommen der heroischen Klëppel-Krieger, katholisch bis ins Mark, in Treue fest verbunden mit Muttergottes und Klerus.

Überall in Kontinentaleuropa tobte der Kulturkampf, dessen Ausgangspunkt in den Wirren der Französischen Revolution gelegen hatte. Auch in Luxemburg ging es überaus heiß her, nachdem 1841 der ultramontane Haudegen Jean-Théodore Laurent zum Apostolischen Vikar ernannt worden war. Er wollte die Kirche aus der Umklammerung des Josephinismus3 befreien, damit sie, vollständig unabhängig vom Staat, nur dem Papst verpflichtet sei, wogegen sich die liberalen Regierenden gar heftig zur Wehr setzten, weil sie den Klerus unter staatlicher Bevormundung halten wollten4.

Obschon sie erreichten, dass Laurent seinen Posten räumen und Luxemburg verlassen musste, war es ab dieser Stunde mit der trauten Eintracht im Staat-Kirche-Verhältnis vorbei. Zwischen Bischöfen und Obrigkeit entflammten immer wieder Scharmützel, die 1912 im mit harten Bandagen geführten Schulkampf gipfelten, als der Geistlichkeit per Gesetz die Aufsicht über den Schulunterricht entzogen wurde. Es war die Zeit, wo Liberale und Sozialisten sich zum sogenannten Linksblock zusammengeschlossen hatten, um gemeinsam Front gegen die „Klerikalen“ zu machen. Letztere wiederum gründeten am 16. Januar 1914 die „Partei der Rechten“, die ihre Anhängerschaft im florierenden, von Bischof Jean-Joseph Koppes nach Kräften geförderten Vereinskatholizismus rekrutierte und sich die Verteidigung der Rechte und Lebenswelten der Gläubigen5, ob materieller oder ideeller Natur, Klerus oder Laien betreffend, auf die Fahnen schrieb6. Bei den ersten allgemeinen Kammerwahlen vom 26. Oktober 1919 erzielte sie mit 27 von 48 Sitzen eine komfortable absolute Mehrheit. Ab jetzt dominierte der politische Katholizismus – nach dem 2. Weltkrieg hat sich der Begriff „christliche Demokratie“ etabliert – die Luxemburger Politik.

Der subsidiarische Wohlfahrtsstaat

Und siehe da: Für Rechtspartei/CSVund Catholica wurde es eine Win-win-Operation7.

Nicht in dem Sinne, als die Kirchen immer voller wurden, die Menschen immer frommer und die Prozessionen immer länger. Nein, selbst in den turbulenten dreißiger Jahren, als die Sicherungen des gesunden Menschenverstands allenthalben in Europa durchbrannten, blieben jene, die einen explizit christlichen, katholischen Ständestaat nach österreichischem Vorbild herbeisehnten, im schwarzen Lager minoritär. Vielmehr machten sich die Christlichsozialen – übrigens immer im Verbund mit sozialistischen oder liberalen Koalitionspartnern – daran, den sich kontinuierlich weiterentwickelnden Luxemburger Wohlfahrtsstaat so zu fassonieren, dass der Diesseits-Katholizismus sein Wissen und Können zwecks Mehrung des nationalen Gemeinwohls maximal einbringen konnte. Dass dabei auch die fürs Jenseitige, also pastorale und seelsorgerische Angelegenheiten zuständigen Bodentruppen Gottes nicht der Prekarität anheimfielen, versteht sich von selbst8.

Im Klartext: Mit dem zügigen Aufbau eines modernen, subsidiarisch organisierten Sozial- und Gesundheitswesens, zu dem sich später eine spendable Familien-, Jugend- und Seniorenpolitik gesellte, erschlossen sich für Caritasverband, Schwesternkongregationen und viele andere Leis-tungsträger ganz neue Betätigungsfelder. Ob Altenpflege oder Flüchtlingshilfe, Arbeitslosenschulung oder Kinderbetreuung, Behindertenwerkstätten oder Partnerschaftsberatung – in diesem Land gibt es kaum eine öffentlich-rechtlich umrahmte Sozialdomäne, in der das weitverzweigte Konglomerat der Katholischen Kirche – mit Tausenden von Arbeitsplätzen – nicht präsent wäre9. Hinzu gesellen sich die katholischen Spitäler, Internate, Privatschulen und Bildungseinrichtungen sowie ungezählte kleinere und größere NGOs, die in der Entwicklungskooperation und humanitären Hilfe tätig sind. Ist es da blinder Zufall, wenn so hochrangige CSV-Exponenten wie Marie-Josée Jacobs und Fernand Boden10 nach ihrem Ausscheiden aus der aktiven Politik zu zwei Flaggschiffen der christlichen Sozialwirtschaft überwechseln?

Trennung? Welche Trennung?

Wie man unschwer erkennt, haben die Kräfte, die das Land tatsächlich, vollständig und unwiederbringlich in einen laizistisch-jakobinischen Staat nach dem Vorbild der Französischen Republik umbauen wollen, den größten und schwierigsten Teil ihres Parcours noch vor sich. Die intransigentesten unter ihnen können sich mit der bislang vereinbarten Augenwischerei einer „Trennung“ von Kirche und Staat nicht zufriedengeben. Die organisierte katholische Zivilgesellschaft bleibt auch künftig einer der privilegiertesten Partner (und Geldempfänger) der öffentlichen Hand. Gar nicht zu reden von so symbolträchtigen Ärgernissen wie der Tatsache, dass Armee und Polizei weiterhin quietschfidel ihre heiligen Schutzpatrone (St. Martin und St. Michael) feiern und der Großherzog samt Familienanhang in vollem Ornat, d.h. keineswegs als Privatperson, sondern als Staatsoberhaupt und „Souverän“ bei der Schlussprozession mitdefiliert und seinen Glauben öffentlich bezeugt.

Das aber kann nichts anderes bedeuten, als dass der oft totgesagte Staat-Kirche-Cleavage – wiewohl er nicht mehr ausreichend gesellschaftliche Mobilisierungskraft besäße, um hic et nunc eine christlich-demokratische Großpartei mit inhärentem Regierungsanspruch entstehen zu lassen – nach wie vor Lebenszeichen aussendet, ja zum Humus des politischen Gartens in Luxemburg gehört. Der Erfolg der Petition Fir de Choix mit 25000 Unterschriften gegen die Abschaffung des Religionsunterrichts in den öffentlichen Schulen (zuzüglich Großdemonstration in der Hauptstadt) sowie die Revolte der im Syfel föderierten Kirchenfabriken gegen die vom Erzbistum mit der blau-rot-grünen Regierung ausgehandelte Kirchenfonds-Konvention belegen, dass, wenn es um die „Kirche im Dorf“ geht, noch so manches Konfliktpotenzial vorhanden ist11.

Als Treppenwitz der jüngeren Luxemburger Geschichte erweist sich dabei, dass es gerade der auf Regierungsseite feder-führende sozialistische Innenminister Dan Kersch ist, der seiner Partei, der LSAP, ungewollt einen Bärendienst erweist. Indem der als Jungkader mit dem ideologischen Rüstzeug des demokratischen Zentralismus geschulte Kersch der katholischen Basis zu verstehen gibt, sie habe ihrem Oberhirten gegenüber kuschenden Gehorsam zu üben, verstört er nachhaltig all jene kritisch-liberalen Geister aus dem Gottesvolk – zuweilen auch noch „Linkskatholiken“ genannt –, deren ekklesio-logisches Verständnis nicht mehr das einer straff hierarchisch geführten autoritären Amtskirche ist… mitsamt verlängertem Arm in der Parteipolitik.

 

1 Lipset, S. M.; Rokkan, S., „Cleavage Structures, Party Systems, and Voter Alignments. An Introduction“ in: Party Systems and Voter Alignments. Cross-National Perspectives, New York, The Free Press, 1967, pp. 1-64.

2 Lorang, P., „Die genmanipulierte Partei“ in: C wéi Choix. Chrëschtlech-sozial Perspektiven op Politik, Gesellschaft a Partei. En Essayband vum Dräikinneks- grupp, Luxemburg, Selbstverlag, 2015, S. 46: „Unter dem Begriff Cleavage (franz sisch: clivage) stelle man sich eine Art gesellschaftliche Erdbebenspalte vor, die hinreichend Reibungspotenzial f r dauerhafte, d. h. nachhaltige politische Konflikte in sich birgt. Oder ein- facher ausgedr ckt: ein Streitthema, das die Menschen polarisiert und zugleich motiviert, in der politischen Arena daf r zu k mpfen. Die Cleavage-Theorie besagt, dass sich aufgrund jener Bruchlinien, die zum Zeitpunkt der Einf hrung des allgemeinen Wahlrechts in einem bestimmten Land (oder einer Region) existierten, dort rasch Zweckgemeinschaften und Parteien her- ausbildeten, die die politische Landschaft, meist ber Jahrzehnte und bis in die Gegenwart hinein, geformt haben.“

3 Eine nach Kaiser Joseph II. von Österreich (1741- 1790) benannte Form von Staatskirchentum.

4 Pauly, M., „Kirche und Staat: auch unter Historikern ein Streitthema?“ in: Hémecht Nr. 3, 2014, S. 448.

5 Die franz sischsprachige Politikwissenschaft spricht diesbez glich von „partis de défense religieuse“.

6 Die Statuten von 1914 sahen vor: „Die luxembur- gische Partei der Rechten bezweckt den Zusammen- schluss der Katholiken des Landes und ihrer Gesin- nungsgenossen zu einheitlicher politischer Bet tigung.“

7 cf. Hellinghausen, G., „Partei, Kirche und Luxem- burger Wort“ in: CSV – Spiegelbild eines Landes und seiner Politik? Geschichte der Christlich-Sozialen Volks- partei Luxemburgs im 20. Jahrhundert (Hg G. Trausch.), Luxemburg, Editions Saint-Paul, 2008, S. 549-625.

8 Fischbach, M., 125 Jahre Luxemburger Wort. Ver- jüngung und Strahlung. Vom Wirken und Wachsen der Zeitung in den verflossenen 25 Jahren, Luxemburg, Sankt-Paulus-Druckerei, 1973, S. 50: [Die CSV ist] „diejenige Partei, die sich, jedes Mal, wenn es in der Geschichte des Luxemburger Staates darauf ankam, total f r die wahren Interessen der Kirche einsetzte“.

9 Lorang, ibid., S. 48.

10 Marie-Josée Jacobs ist Vorsitzende des Conseil de gouvernance von Caritas Luxembourg und Pr sidentin der Fondation Caritas. Fernand Boden ist Pr sident des Sozialdienstleisters Elisabeth.

11 cf. Gillen, E., Neue Verhältnisse in Luxemburg – zwischen Staat und Religionsgemeinschaften. Zu den neuen Konventionen vom 26. Januar 2015, Berlin, epubli, 2015.

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