Lebensende
10 Jahre Gesetzgebung über Palliative Care und Euthanasie
Die moderne Palliativpflege nahm vor allem in den 1960er Jahren in England ihren Anlauf in dem von der Ärztin Cicely Saunders gegründeten ‚St. Christopher’s Hospice‘, das zum Ziel hatte, Menschen mit unheilbarer Krankheit bis zu ihrem Ende eine angemessene Lebensqualität zu bieten. Der kanadische Arzt Balfour M. Mount gilt als der Vater der Palliativmedizin in Nordamerika. Die WHO (2002) bezeichnet mit Palliative Care diesen Ansatz, der bei fortschreitenden, unheilbaren Erkrankungen das Leiden der Betroffenen lindert, die bestmögliche Lebensqualität sichert und ein Sterben in Würde ermöglicht.1 Der englische Begriff deckt sowohl die Bedeutung der Palliativpflege sowie der Palliativmedizin ab.
Seit der Verabschiedung des Luxemburger „Palliativgesetzes“ im Jahre 2009 haben die Verantwortlichen, sowohl in der Politik als auch im Sozialsektor und im Gesundheitsbereich, Palliative Care wesentlich weiterentwickelt. Durch das „Palliativgesetz“ wird die hartnäckige Therapieweiterführung (acharnement thérapeutique) abgelehnt und dem Patienten das Recht auf Lebensqualität in seinen verbleibenden Tagen zugestanden. Zeitgleich trat auch das Gesetz über die Euthanasie und den assistierten Suizid am 1. April 2009 in Kraft. Es entlastet den Arzt, der unter gesetzlichen Bestimmungen einer unheilbar kranken Person zum Tod verhilft. Das Gesundheitsministerium hat 2019 die Broschüre Mein Wille am Ende des Lebens herausgegeben, bestehend aus Formularen wie Patientenverfügung und Bestimmungen zum Lebensende, die der Bürger verwenden kann, um seine Entscheidungen zu dokumentieren.
Seit die aktive Sterbehilfe in Luxemburg nicht mehr strafbar ist, hat die Nationale Aufsichts- und Bewertungskommission CNCE in ihrem diesjährigen Bericht2 insgesamt neunzehn Euthanasiefälle registriert (elf im Jahr 2017 und acht im Jahr 2018), davon drei Euthanasiefälle in einem integrierten Zentrum oder Pflegeheim, 13 in der Wohnung des Patienten, zwei in Krankenhauseinrichtungen und eine an einem privaten Ort. Das Alter der Patienten reichte von 53 bis 93 Jahren. Bisher wurden alle Meldungen nach Prüfung akzeptiert und enthielten keine Elemente, die Zweifel an der Einhaltung der formellen und materiellen Anforderungen des Gesetzes haben aufkommen lassen.
In den letzten zehn Jahren hat sich in Luxemburg eine Palliativkultur entwickelt, in der ein multidisziplinäres Team Patienten hinsichtlich der Linderung von Schmerzen und anderen belastenden Symptomen unterstützt und Familien bei der Bewältigung der Krankheit des Patienten und des eigenen Trauerfalls hilft. Das „Haus Omega“, das 2010 eröffnet wurde, ergänzt mit 15 Betten und zwei Gästezimmern im nationalen Netz der Palliativ-Dienstleistungen das Angebot von Krankenhäusern, Pflegeheimen, Assistance- und Home-Care-Netzen. In den Krankenhäusern Luxemburgs wurden 2019 mehr als doppelt soviele Patienten auf den Palliativstationen betreut als zehn Jahre zuvor. Aber auch die ambulanten Pflegedienste haben ihre Dienste enorm erweitert und so zählen heute die Stëftung Hëllef Doheem (SHD) 1.900 und HELP 1.200 Mitarbeiter. Dazu sind weitere ambulante Pflegedienste entstanden. Die Fachkräfte wurden in Sensibilisierungs- und Spezialisierungsausbildungen in Palliative Care von Omega 90 unterrichtet. Außerdem wurde eine Beurlaubung für Familienangehörige eingeführt, die Kranke am Ende ihres Lebens begleiten. Im Jahr 2010 konnten 109 Personen einen solchen Urlaub mit einer durchschnittlichen Dauer von 3,65 Tagen in Anspruch nehmen. Diese positiven Zahlen sollten den Luxemburger Gesundheitssektor jedoch nicht dazu verleiten, sich darauf auszuruhen, denn die Herausforderungen der nächsten Jahre sind beachtlich.
Ausblick auf die nächsten zehn Jahre
Die Bevölkerungsprojektionen des Statec3 zeigen ein signifikantes Wachstum der Bevölkerung über 65 Jahre. Zwischen 2019 und 2040 wird die Bevölkerung über 65 Jahre von 14 % auf mindestens 20 % der Gesamtbevölkerung ansteigen. Dieses Wachstum ist bei der Bevölkerung über 75 Jahre noch höher. In ihrem Beitrag: Demografische Entwicklungen und Situation der Pflege in Luxemburg aus Sicht der amtlichen Statistik4 zeigen Guillaume Osier und François Peltier, dass in Luxemburg die Lebenserwartung bei der Geburt seit 1960 um 13,5 Jahre bei Männern stieg (von 66,5 Jahre auf 80,0 Jahre) und um 12,5 Jahre bei Frauen (von 72,2 Jahre auf 84,7 Jahre). Dazu ist weiterhin bis 2080 mit einem deutlichen Alterungsprozess der Gesellschaft zu rechnen. Dieses Wachstum birgt nicht nur für Familien und Gesellschaft große Herausforderungen, sondern auch für die Gesundheitspolitik. Es werden neue Langzeitpflegeeinrichtungen benötigt und ambulante Pflegedienste müssen weiter ausgebaut werden.
Die alternde Bevölkerung und die zunehmende Prävalenz chronischer Krankheiten erhöhen die Nachfrage nach Palliative Care und besonders auch die häusliche Palliativpflege. Die palliative Geriatrie, d. h. Förderung und Vertiefung der palliativen Kultur in Alters- und Pflegeheimen durch das Einbeziehen der Mitarbeiter sämtlicher Berufsgruppen – Pfleger, Ärzte und Hauswirtschaft – sowie der Angehörigen und Ehrenamtlichen5 muss weiter ausgebaut werden. Omega 90 begleitet im Projekt Palliative Geriatrie die teilnehmenden Institutionen dabei, die Palliativkultur in ihrer Einrichtung zu fördern. Die Pflegeheime, die sich zu gesellschaftlichen Orten des Sterbens entwickeln, sollten sich in ihrer Qualität auch an der Frage messen lassen: „Ist dies ein Ort, wo hochbetagte Menschen gut bis zuletzt leben und in Würde sterben können?“6 Fünf Alters- und Pflegeheime gründeten 2017 zusammen mit Omega 90 das „Netzwierk Palliativ Geriatrie Lëtzebuerg – NPGL“.
In der von Omega 90 durchgeführten Delphes-Studie wurde festgestellt, dass die meisten Patienten ihre Wünsche für ihr Lebensende nicht in einer Patientenverfügung festgeschrieben haben. Dies macht es für die Familie und den behandelnden Krankenhausarzt schwierig, die Wünsche des Patienten bezüglich des Lebensendes zu beurteilen. Daher muss diesbezüglich noch Aufklärungsarbeit geleistet werden. Viele von uns möchten entsprechend unseren Wünschen bis zum Lebensende begleitet und betreut werden. Je nach Krankheitsverlauf können Patienten ihre Wünsche nicht selbst ausdrücken. Gerade dann ist es wichtig, im Vorfeld schriftlich festzuhalten, welche medizinischen Maßnahmen, welche Schmerzbehandlungen, welche psychologische, soziale und ggf. spirituelle Unterstützung wir im Rahmen von Palliative Care wünschen. Die gezielte Sensibilisierung soll also bewirken, dass die Menschen sich, schon vor dem Eintritt von Alter und Krankheiten, mit der Patientenverfügung und ihrem eigenen Tod beschäftigen. Ärzte spielen bei der Verbreitung dieser Informationen eine wichtige Rolle. Patienten sollten bei der Erstellung von Patientenverfügungen durch paramedizinische Fachkräfte, Ehrenamtliche und Pflegepersonal eine konkrete Unterstützung finden.
Aber auch die zuständigen Ministerien sind gefordert, weiterhin das öffentliche Bewusstsein und das Verständnis dafür zu fördern, wie eine vorausschauende Pflegeplanung und Palliative Care die Lebensqualität bis zum Lebensende verbessern kann. Dies kann z. B. durch Kampagnen, Webinars (Web-Seminare), Diskussionsrunden und Informationsstände geschehen. Es ist wichtig, die bestehenden Initiativen zur Ausbildung von Fachpersonal auszuweiten.
Weiterhin sollte eine konsistente, qualitativ hochwertige Versorgung gefördert werden. Zur Sicherung der Qualität sind Leistungsstandards, Richtlinien und Benchmarking unerlässlich. Es sollte eine Mindestqualität in den zuständigen Häusern angepeilt oder erhalten werden. Die Entwicklung eines nationalen, interdisziplinären Kompetenzrahmens für die Palliative Care würde erheblich zur Qualitätssicherung in den verschiedenen Institutionen beitragen.
So empfiehlt Omega 90 der Regierung, einen „Nationalen Palliativmedizinischen End-of-Life Plan“7 zu definieren, einschließlich
- einer Vision, strategischen Zielen und Grundprinzipien,
- verbindlicher Standards für Qualität und Kontinuität der Versorgung,
- qualitativer und quantitativer Indikatoren,
- eines Verweises auf obligatorische externe Evaluierungen,
- eines Hinweises auf obligatorische Aus- und Weiterbildungskurse.
Um eine gute Koordination für die Patienten bei Übergängen zwischen verschiedenen Behandlungsorten zu gewährleisten, sollten alle Beteiligten verbindliche Protokolle und Verfahren für die Zusammenarbeit anwenden. Omega 90 empfiehlt den Anbietern, ein Organisationsmodell zu entwickeln, das die Koordinationsfunktion in Palliative Care auf klare und transparente Weise definiert.
Diese Empfehlung gilt sowohl für die Koordination innerhalb und zwischen den Diensten, für die außerklinischen als auch für die krankenhausbasierten spezialisierten Palliativdienste. Eine elektronische Plattform könnte die Kommunikation im Rahmen der gemeinsamen Betreuungsakte und den regelmäßigen Dialog zwischen den verschiedenen Fachkräften, die Palliative Care leisten, unterstützen.
Die Kompetenzen von Teams, die das Wissen und die Methoden einer Reihe von Gesundheitsdienstleistern, Freiwilligen und informellen Pflegekräften integrieren, sollten weiter gezielt verbessert werden. Die Zusammenarbeit von Fachkräften in der Palliative Care soll weiter gefördert werden. „Best practice“-Ansätze sollten genutzt werden, um Empfehlungen zu erarbeiten, die an die individuellen Pflegesituationen angepasst sind. Diese Empfehlungen für eine gute Praxis könnten anschließend an alle Fachkräfte verbreitet werden.
Da, entgegen der Realität, die meisten Menschen ihre letzten Tage an ihrem bisherigen Aufenthaltsort, sei es zu Hause oder im Pflegeheim, verbringen möchten, müssen erhebliche Anstrengungen unternommen werden, um den Patienten eine möglichst lange Palliative Care zu Hause zu ermöglichen. Der Ausbau der ambulanten Pflege und Palliativversorgung in den Häusern der Patienten wäre eine Priorität. Lokale Pflege bedeutet, die Koordination zwischen den verschiedenen Akteuren zu fördern, die an der Pflege des Patienten beteiligt sind. Es bedeutet auch, Sorge zu tragen, Pflegepersonal, soziale und medizinische Fachkräfte oder Familienmitglieder aus- und weiterzubilden.8
Zum Schluss möchte ich noch auf die besondere Rolle der Ehrenamtlichen eingehen. Es ist dem Engagement von zahlreichen Menschen zu verdanken, dass sich die Palliative Care in all den Jahren weiterentwickeln konnte. Auch ohne den gesetzlichen Rahmen haben sich zahlreiche Ehrenamtliche Woche für Woche an das Bett schwerstkranker und sterbender Menschen begeben, um ihnen zuzuhören, die Hand zu halten und sie zu begleiten. Omega 90 bildet jedes Jahr 20-30 Menschen für das Ehrenamt aus und bietet einen Rahmen für mittlerweile 80 engagierte Ehrenamtliche. Sie sind in ihrer Vielfalt unersetzlich in der Hospizarbeit, und ohne sie könnten die Bedingungen für ein würdevolles Sterben nur schwer erhalten werden.
Das Tätigkeitsfeld der ehrenamtlichen Mitarbeit bei Omega 90 ist vielfältig und facettenreich: Die meisten der ehrenamtlichen Mitarbeiter engagieren sich in der Begleitung Schwerstkranker und Sterbender. Sie sind für sie da, ebenso für ihre Angehörigen, schenken ihnen Zeit und gehen auf ihre Wünsche und Bedürfnisse ein. Der überwiegende Teil der Ehrenamtlichen von Omega 90 ist im Haus Omega oder auf einer der krankenhäuslichen Palliativstationen tätig. Ein anderer Teil besucht Menschen in Alten- und Pflegeheimen oder zu Hause. Darüber hinaus engagieren sich viele ehrenamtlich in der Öffentlichkeitsarbeit und in der Verwaltung. Sie alle sind in der Begleitung schwerstkranker und sterbender Menschen nicht mehr weg zu denken und sollen am Ende dieses Beitrages besonders gewürdigt werden.
Schlussfolgerung
Ob Regierung oder Anbieter der Palliative Care; alle haben in dem letzten Jahrzehnt und darüber hinaus hervorragende Leistungen vollbracht, um die Dienstleistungen auf den Stand zu bringen, auf dem sie heute sind. Auch wenn dieser Entwicklungsprozess weiter gehen muss, um den Herausforderungen der Zukunft Stand zu halten, so kann man doch zuversichtlich sein, wenn man auf das große Engagement aller Beteiligten blickt. Ich möchte meinen Beitrag mit einem Zitat von Albert Schweitzer schließen:
„Das Wenige, was Du tun kannst, ist viel, wenn Du nur irgendwo Schmerz und Weh und Angst von einem Wesen nimmst.“
- https://www.who.int/cancer/palliative/definition (alle Internetseiten, auf die in diesem Beitrag verwiesen wird, wurden zuletzt am 19. Mai 2020 aufgerufen).
- https://sante.public.lu/fr/publications/r/rapport-loi-euthanasie-2017-2018/index.html
- Tom Haas/François Peltier: Projections macroéconomiques et démographiques de long terme : 2017-2060, Luxemburg, STATEC, 2017, Bulletin n° 3/2017.
- Guillaume Osier/François Peltier, „Demografische Entwicklungen und Situation der Pflege in Luxemburg aus Sicht der amtlichen Statistik“, in: Ralf Münnich/Johannes Kopp (Hg.), Pflege an der Grenze, Entwicklungen, Fragestellungen, Herangehensweisen, Heidelberg, Springer Verlag, 2019, S.123-136.
- www.omega90.lu/resources/pdf/PPG/PPG_II_Zwischenbericht_August.pdf
- Siehe https://www.omega90.lu/?com=1I170I0I0I
- www.omega90.lu/resources/pdf/PPG/PPG_II_Zwischenbericht_August.pdf
- http://sante.gouv.fr/IMG/pdf/031215_-_plabe56.pdf
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