Lernen, ein Leben lang?
Ein Aufruf zur Befreiung durch Bildung
Ein Aufruf zur Befreiung durch Bildung
Aktuelle Situation: Erwachsenenbildung als Anpassung
Laut der Europäischen Kommission sind „[…] die zwei Ziele, die für das lebenslange Lernen gleichermaßen von Bedeutung sind, die Förderung einer aktiven Staatsbürgerschaft und die Förderung der beruflichen Qualifikationen, so dass die Menschen sich an die Erfordernisse der neuen Wissensgesellschaft anpassen und sich voll am sozialen und wirtschaftlichen Leben beteiligen können“ 1.
Lebenslanges Lernen hat die Funktion, die Wett-bewerbsfähigkeit in Europa sicherzustellen. Der Weg führt dementsprechend über den Ausbau des Humankapitals der Bevölkerung. Das Ziel von Aus- und Weiterbildung besteht also vorrangig in der Erhöhung der Beschäftigungsfähigkeit. Dazu bedarf es einer Anpassungsleistung an gesellschaftliche Erfordernisse. Solche Erfordernisse werden u.a. mit der Veränderung von demographischen Eckdaten, von Arbeits- und Beschäftigungsverhältnissen sowie der Orientierung an Globalisierung und Ökonomisierung begründet. 2 In Deutschland wird mit der sogenannten ‚Qualifizierungsoffensive‘ auf den Ruf nach erhöhter Beschäftigungsfähigkeit und der Anpassung an die gesellschaftlichen Veränderungen geantwortet. Letztere folgen den marktwirtschaftlichen Gesetzen und stehen im Dienst des technisch-ökonomischen Fortschritts. 3 Der Bildungswissenschaftler Ludwig A. Pongratz spricht in diesem Zusammenhang von einer aktuell herrschenden Kontrollgesellschaft. Fähigkeiten wie Flexibilität, Mobilität und Selbstausbeutung haben dabei Konjunktur. Freiheit und Herrschaft sollen nun in der Figur der freiwilligen Selbstkontrolle wahr werden. Neoliberale Bedingungen wie die des Marktes gestalten die selbstorganisierenden und selbstregulierenden Prinzipien des Staates und übernehmen die gesellschaftliche Herrschaft. 4 Der Zwang lebenslänglich zu lernen löst die Chancen des lebenlangen Lernens allmählich ab.
Bildung = Qualifikation = Bildung?
Innerhalb dieses Kontextes ergeben sich mehrere problematische Perspektiven. Wenn BürgerInnen sich qualifizieren, ‚sich bilden‘ sollen, um erwerbsfähig zu werden, wird Bildung funktionalisiert. Erwachsenenbildung ist zwar seit jeher als Instrument genutzt worden, um gesellschaftliche und sozialstrukturelle Veränderungen hervorzurufen, allerdings stand hier meist ein Moment der Befreiung im Vordergrund. Es ging um Befreiung aus menschlicher Unmündigkeit, Unterdrückung und schlechten Lebensbedingungen durch Bildung. Der Begriff der Qualifizierungsoffensive verweist jedoch weniger auf Befreiung – er birgt eine gewisse Zweigleisigkeit. Es erfolgt ein Versprechen auf positive Chancenverwirklichung bei gleichzeitiger Sanktionsandrohung. Wenn nicht lebenslang gelernt wird, kann keine Anpassung erfolgen und die individuellen Folgen werden negativ ausfallen. Somit wird Bildung von jeglichen Demokratiegedanken losgelöst und zu einer lebenserhaltenden Notwendigkeit. Lebenslanges Lernen entwickelt sich also zu einer unausweichlichen Konsequenz der gesellschaftlichen Verhältnisse: „Die Menschen sollen wollen, was sie müssen. Sie sollen den Zwang zum lebenslangen Lernen so weit verinnerlichen, dass er ihnen zur zweiten Natur wird.“5 Zusätzlich bedient sich die aktuelle Bildungsarbeit des Kundenbegriffs – betriebswirtschaftlicher Imperialismus ist nicht zu negieren. Es geht inzwischen wenig um Selbstbestimmung und Emanzipation. Dies wird nicht zuletzt in der Übernahme des ökonomischen, unternehmerischen Vokabulars von AkteurInnen der Erwachsenenbildung sichtbar. 6 Bildung wird demnach selbst zu einer Ware.
Dabei entsteht ein offensichtlicher Widerspruch: Bildung ist nicht nur Anpassungsleistung, sondern auch Quelle von Widerstand und Differenzierung.7 Je höher Menschen qualifiziert sind, desto mehr Bildungsgelegenheiten haben sich ergeben. Innerhalb dieser Bildungsgegebenheiten sind Kritikfähigkeit und Kreativität auch immer enthalten. Leider reicht dieses ‚natürliche‘ Widerstandspotential nicht aus, um Veränderungen hervorzurufen und Bildung wieder als befreiend, horizonterweiternd bzw. zweckfrei zu denken.
Möglichkeiten und Aufgaben der Erwachsenenbildung
Die Anfänge der Erwachsenenbildung sind in neuzeitlichen Aufklärungsprozessen zu finden. Erwachsenenbildung war zunächst selbst-organisiert, lokal und autonom zu charakterisieren. Dabei ging es neben den Qualifizierungsansprüchen, die sich aus der Industrialisierung ergaben, zunächst um einen Befreiungsgedanken. Treffen von Gelehrten und Adeligen in den sogenannten Salons ermöglichten Diskussionen über gesellschaftspolitische Entwicklungen. Somit hat Erwachsenenbildung von Anfang an auch Widerstand bedeutet. Dies gilt es auch heute nicht auszumerzen und die Erwachsenenbildung gänzlich an die aktuellen Verhältnisse anzupassen. 8
Somit besteht heute eine Aufgabe der Erwachsenenbildung weiterhin darin, eine faktische Bestandsaufnahme über die Verfasstheit der Gesellschaft zu tätigen. Dabei soll bewusst gemacht werden, welche Herrschaftsmechanismen aktuell die gesellschaftlichen Entwicklungen bestimmen. Dazu gehören das Herstellen eines Bewusstseins über gesellschaftliche Tatsachen, die Entwicklung von Autonomiespiel-räumen sowie die Mobilisierung von Widerstands-potentialen – Reflexions- und Kritikfähigkeit gehören ebenfalls dazu.
Zudem soll das Politische wieder Einzug in die Erwachsenenbildung erhalten. Inhaltlich und methodisch bedeutet dies, ein an Differenz und Gegensätzen ausgerichtetes Konzept in die Programme der Erwachsenenbildung einzuführen. Dazu gehört Orientierungswissen in Form von Aufklärung über gesellschaftliche Ursachen und Wirkungszusammenhänge, z.B. Kinderarbeit, Macht- und Herrschaftsverhältnisse, Verbleiben der Gewinne von Unternehmen, also über Verknüpfungen vom eigenen Leben und den gegenwärtigen Zwängen.9 Der Philosoph und Bildungswissenschaftler Oskar Negt schlägt dementsprechend vor, bestimmte Schlüsselqualifikationen in die vorherrschenden (Erwachsenen) Bildungsprogramme zu integrieren. Dabei bestimmt er Erfahrungslernen zu einer Grundfähigkeit, um alles weitere anspruchsvolle Lernen und Begreifen zu vollziehen und Zusammenhänge herzustellen. Es soll eine zusammenhängende Weltauffassung möglich werden sowie der Bezug der gesellschaftlichen Entwicklung im Zusammenhang mit dem eigenen Leben. Dazu gehören dann unter anderem die technologische Kompetenz als Unterscheidungsvermögen und Wissen um die gesellschaftlichen Ursprünge und komplexe Wirkungen von Technologien. Auch Gerechtigkeits- und Identitätskompetenz sowie ökologische und historische Kompetenz sollen als Ziele von Bildung dienen. Dabei unterliegt Bildung keinem instrumentellen Nutzen, sondern sie soll dazu beitragen, „[…] die Verhältnisse human, gerecht und demokratisch zu gestalten“, wobei von Verwertungsinteressen Abstand genommen wird10. Es geht somit um ein gelungenes Miteinander in einer Gesellschaft und nicht um die Funktionalisierung des Menschen im Dienste von (markt)wirtschaftlichen Dynamiken.
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