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Let’s talk about sex, baby Let’s talk about you and me
Pornografien (Teil 1)
In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit
eben jenem historischen Moment, den viele als „sexuelle
Revolution“ bezeichnen, spielen definitorische,
soziale sowie auch wirtschaftliche Aspekte in
Bezug auf Sex und Sexualität während der zweiten
Hälfte des 20. Jahrhunderts eine erhebliche Rolle.
Betrachtet man sie in ihrer Gesamtheit, so ermöglicht
dies ein besseres Verständnis des historischen
Wandels eines Massenartikels, von dem manche
behaupten, er sei neben Katzenvideos und -Fotos
der einzige Inhalt, für den das Internet geschaffen
wurde : Pornografie.
„Die sexuell Konservativen warnten uns: Erlaubt
ihr einen Nackten; wird ein zweiter (gewöhnlich
vom anderen Geschlecht) bald folgen, und es wird
nichts als Ärger geben.“2 Mit eben diesem Satz läutet
der US-amerikanische Filmwissenschaftler Amos
Vogel in seinem Werk Film als subversive Kunst aus
dem Jahr 1974 das Kapitel Ende des sexuellen Tabus:
Erotischer und pornografischer Film ein. Hier
spricht Vogel auf einer filmhistorischen Ebene von
einem „(wenn auch zaghaften) Sieg der Nacktheit“2 .
Dieser vermeintliche Triumph bezieht sich jedoch
keineswegs nur auf den Bereich der Kunst, sondern
ist im Zusammenhang mit den gesellschaftspolitischen
Veränderungen eben jener Zeit zu sehen.
Beim Begriff der „sexuellen Revolution“ fühlt man
sich an eine Erkenntnis aus der Lernpsychologie erinnert:
Wird man in einem emotional erregenden
Zustand mit etwas konfrontiert, so prägt man es sich
besser ein. Übersetzt man dies in eine Sprache, die
dem Kapitalismus Rechnung trägt, bedeutet das: Sex
sells. Diesem 11. Gebot kann sich auch die Wissenschaft
nicht gänzlich entziehen. Und wer ziert sich
schon gerne, wenn ihm oder ihr dann auch gleich
noch eine doppelte Ladung Zündstoff – nämlich Sex
und Revolution – geboten wird? Auf der Ebene der
Geschichtsschreibung zieht man es trotzdem eher
vor, von einer „Sexwelle“ auf der wirtschaftlichen,
denn von regelrechten Umbrüchen auf der sozialen
Ebene zu sprechen.
Es ist eine interessante Tatsache, dass obwohl der
Sinn des Beischlafs darin besteht, Menschen zusammenzuführen,
die Geschichte der Pornografie sich
eher durch Konflikte und Spaltungen auszeichnet.
Ein einheitliches Bild dieser Auseinandersetzungen
zu zeichnen, ist gar nicht erst möglich, da es dafür
zu viele verschiedene Fronten gab. Ironischerweise
besteht eines der Hauptprobleme dieses innergesellschaftlichen
Zerwürfnisses jedoch nicht in den
Argumentationsmustern der einzelnen Akteure,
Let’s talk about sex, baby
Let’s talk about you and me
Let’s talk about all the good things and the bad things that
may be…
Pornografien (Teil 1)
Gesellschaft November 63
sondern darin, dass man sich nicht einmal sicher
sein kann, ob man gerade über das Gleiche streitet.
Wenn die seit Jahrzehnten anhaltenden Diskussionen
um pornografische Darstellungen nämlich etwas
hervorgebracht haben, dann ist es die Feststellung,
dass es die Pornografie nicht gibt und nie gab.
Die Historikerin und Genderforscherin Lynn Hunt
verweist in diesem Kontext darauf, dass Pornografie
beispielsweise zwischen 1500 und 1800 oftmals
als Vehikel diente, um politische und religiöse Autoritäten
zu kritisieren, Autoren und Künstler also
mithilfe der Pornografie die „Grenzen des ’Schicklichen’
“4 ausloteten. Obwohl dies die erziehungsberechtigten
Leser und Leserinnen nun nicht dazu
verleiten sollte, zu glauben, der Porno-Konsum ihrer
Sprösslinge sei ausschließlich in einer wohlreflektierten
Autoritätskritik begründet, so illustriert dieser
Hinweis von Hunt jedoch die Notwendigkeit, den
Begriff aus einer historischen Sicht zu betrachten.
Hunt zufolge wird erst durch die historische Perspektive
die Funktion von Pornografie in der modernen
Kultur nachvollziehbar und es darf ein für
allemal feststehen, dass man bei Pornografie nicht
von einem „gegebene[n] Tatbestand“5 ausgehen
kann.
Gleiches gilt für den weiter gefassten Begriff der
Sexualität. Dieser ist nicht statisch. Sexualität ist
stetig im Wandel; im Menschen selbst und in der
Geschichte. Sie ist also „ein sich historisch veränderndes,
gesellschaftliches Phänomen und damit
eine kulturell und sozial determinierte, diskursive
Konstruktion“6. An dieser Stelle reiht sich Foucaults
sogenanntes „Sexualitätsdispositiv“ ein, welches sich
dem über Jahrhunderte anhaltenden und nicht abbrechen
wollenden Diskursivierungsprozess des Sexuellen
widmet. Laut Foucault findet die Diskursivierung
sexueller Inhalte ihren Ursprung an einem
Ort, den man nicht mit dem Thema in Verbindung
Die Illustration stammt aus dem 19. Jahrhundert und wurde im Le Courier francais illustré veröffentlicht ( Public Domain).
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gebracht hätte : dem Beichtstuhl.„Wie sehr man sich
auch die Zunge abbeißen möchte : die Ausweitung
des Geständnisses […] über das Fleisch, ist nicht aufzuhalten“
7 heißt es bei Foucault.
In der Folge gingen die schlüpfrigen in Worte gefassten
Sünden durch die Wände des Beichtzimmers
und besiedelten andere Räume. Im Laufe der Geschichte
kam es zu einer Proletarisierung des Sex-
Diskurses, welcher fortan nicht mehr nur Geistlichen
und dem Bürgertum vorbehalten war. In den
1970ern konstatierte der französische Philosoph
dann eine regelrechte Diskursexplosion in Bezug auf
die Themen Sex und Sexualität. Dementsprechend
entstand eine Pluralisierung der Interpretationen des
Sexuellen, welche sich noch heute, teilweise kreativ
und unterhaltend, zum Teil jedoch auch auf eine
haarsträubende Art und Weise am Pornofilmregal
ablesen lässt.
Einer der Auslöser für die Diskussionsflut in den
1960er und 1970er Jahren ist Foucault zufolge die
Tatsache, dass Diskurse über Sex zu bestimmten
Zeitpunkten mit einem ganz bestimmten Wahrheitswert
geladen sind. Er vertritt die Meinung,
das Abendland habe zwischen den Menschen und
dem Sex eine „unaufhörliche Wahrheitsforderung“8
gespannt, welche dazu führe, dass man, motiviert
durch den Willen alles zu wissen, glaube, dem Sex
alles entreissen zu können oder gar zu müssen. Man
kam zum Schluss, im Sex läge die ultimative Antwort
auf die Frage nach dem Leben, dem Universum
und dem ganzen Rest.9 Nicht zuletzt auch auf die
vermeintliche sexuelle Revolution verweisend, geht
er davon aus, dass für viele Menschen im Rahmen
des Sexualitätsdiskurses „ [e]in Hauch von Revolte,
vom Versprechen der Freiheit und vom nahen Zeitalter
eines anderen Gesetzes [mit]schwingt“10. Man
erwarte sich von der „großen sexuelle[n] Predigt […]
ein neue[s] Jerusalem“11.
Relevant ist bei diesem Dispositiv, dass es laut Foucaults
Theorie immer im Zusammenhang mit dem Wissen
innewohnenden Machtpotenzial gedacht werden
muss. Foucault meint hiermit die Vielfalt der
Kräfteverhältnisse, welche ein Gebiet bevölkern und
organisieren, somit also „das Spiel, das in unaufhörlichen
Kämpfen und Auseinandersetzungen diese
Kräfteverhältnisse verwandelt, verstärkt, verkehrt“12 .
Im Kontext der sich pluralisierenden Diskurse und
jenes Machtpotenzials, ist auch die Aussage des Literaturwissenschaftlers
Walter Kendrick zu verstehen,
welcher hervorhebt, dass Pornografie kein Ding,
sondern ein Argument ist.13 Und eben dieser verbale
Vorschlaghammer wird bis heute gerne in vielerlei
Situationen benutzt. Sei es, um etwas Tolles mangels
Wortschatz als „voll porno“ zu bezeichnen oder um
den einzig wahren Grund für den baldigen Weltuntergang
zu benennen.
Möchte man also begreifen, warum dieses Thema
ein derart großes Konfliktpotenzial in sich trägt, so
muss man sich Folgendes schlicht und ergreifend
eingestehen: Bei Sex und somit auch bei Pornografie
handelt es sich um emotionale Themen, zu denen
quasi jeder eine persönliche, wenn auch oftmals
eher durch eigene Normvorstellungen, denn durch
wissenschaftliche Befunde geformte Meinung hat.
Demnach bleibt der große definitorische Konsens
aus. Es kann ja auch nicht jeder wie Woody Allen die
Meinung vertreten, dass Sex nur schmutzig ist, wenn
er richtig gemacht wird. Obwohl eine Welt voller
Woody Allens definitiv einen nicht zu verachtenden
Unterhaltungswert hätte.
Wenn es hoch kommt
Die Diskussionen über pornografische Darstellungen
fanden aber keineswegs nur im Privaten statt,
sondern wurden auch an höhere Stellen getragen.
Die Psychologen Eysenck und Nias geben 1978
an, dass obwohl der Vietnamkrieg die Tagesaktualität
bestimmte, viele Abgeordnete mehr Briefe von
Wählern erhielten, in denen sich über unbestellt zugesandte
Pornografie beklagt wurde, als welche, die
den Krieg zum Inhalt hatten.14 Somit befand man
sich in einer Situation, in der nicht nur Politiker unter
Zugzwang gerieten, sondern in der sich auch die
Forschung mit hohen Erwartungen konfrontiert sah.
L’Arétin français, Londres, 1782 (Keine Urheberrechtsbeschränkungen
bekannt).
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1 Dies sind Textzeilen aus dem Song „Let’ s Talk about Sex“ von
Salt’n’Pepa
2 Vogel, Amos: Film als subversive Kunst, St. Andrä-Wördern
1997, S.212.
3 Ebd.
4 Hunt, Lynn : „Obszönität und die Ursprünge der Moderne (1599-
1800)“, in: dies. (Hg.): Die Erfindung der Pornografie. Obszönität
und die Ursprünge der Moderne, Frankfurt am Main 1994, S. 7-43,
S. 8.
5 Ebd., S. 8 f.
6 Miersch, Annette: Schulmädchen-Report. Der deutsche Sexfilm
der 70er Jahre, Berlin 2003, S. 56.
7 Vgl. Foucault, Michel: Sexualität und Wahrheit 1. Der Wille zum
Wissen, 14. Aufl., Frankfurt am Main 1977, S.25.
8 Ebd., S. 79.
9 Später sollte sich jedoch herausstellen, dass die Antwort darauf
eigentlich 42 ist.
10 Foucault (1977), S.14.
11 Ebd., S. 15.
12 Ebd. S. 93.
13 Vgl. Kendrick, Walter: The Secret Museum. Pornography in
Modern Culture, Kalifornien 1987, S. 31.
14 Vgl. Eysenck, Hans Jürgen; Nias, David: Sex, violence and the
media, London 1978, S. 91.
15 Vgl. Albrecht, Hans-Jörg; Hotter, Imke (Hgg.): Rundfunk und
Pornografieverbot. Eine (auch rechtsvergleichende) Untersuchung
zur Reichweite des Pornografieverbots im Rundfunk im weiteren
Sinne (BLM-Schriftenreihe Bd. 68), München 2002, S. 20-51, hier:
S. 30.
16 Vgl. Selg, Herbert: Pornografie. Psychologie Beiträge zur Wirkungsforschung,
Bern 1986, S. 145.
17 Vgl Bremme, Bettina: Sexualität im Zerrspiegel, Münster 1990,
S. 96 f.
18 Bovenschen, Silvia: „Auf falsche Antworten gibt es keine richtigen
Antworten. Anmerkungen zur Pornografie-Kampagne“, in:
Classen, Brigitte (Hg.): Pornost. Triebkultur und Gewinn, München
1988, S.56-67, hier: S. 59.
Denn Letztere war es, die nun endlich Aufschluss
darüber geben sollte, ob die Pornografie nachhaltige
Schäden beim Konsumenten verursachte oder nicht.
Dies brachte natürlich auch neue Anforderungen an
den Gesetzgeber mit sich, der etwas in Worte fassen
sollte, über das nicht einmal ansatzweise Einigkeit
bestand. Hier braucht man sich nur Beispiele aus der
Bundesrepublik anzuschauen: Seit 1973 versteht beispielsweise
das deutsche Strafgesetzbuch unter harter
Pornografie (§ 184,3) den sexuellen Missbrauch von
Kindern, sexuelle Handlungen von Menschen mit
Tieren und Sexualität in Verbindung mit Gewalt.
Dieser juristische Begriff ist jedoch keineswegs mit
der sogenannten „Hardcore-Pornografie” gleichzusetzen,
welche man aus dem Alltagsdiskurs kennt.
Der Strafrechtssonderausschuss des Deutschen Bundestages
hat Pornografie im gleichen Jahr als Darstellungen
definiert, welche die im Einklang mit
allgemein gesellschaftlichen Wertvorstellungen gezogenen
Grenzen des sexuellen Anstands eindeutig
überschreiten.15 Da der Zeitraum der sogenannten
„sexuellen Revolution“ sich aber nicht gerade durch
innergesellschaftliche Harmonie auszeichnete, erwies
es sich als äußerst schwierig, hier Grenzen zu
ziehen, geschweige denn sie juristisch zu definieren.
Der Psychologe Herbert Selg spricht in seiner Zusammenfassung
der Forschungsergebnisse zur Wirkung
der Pornografie außerdem die Problematik an,
dass auch zehn Jahre später ebenfalls weder von den
Wirkungen noch von den Konsumenten die Rede
sein kann. 16
Die Historikerin Bettina Bremme verweist in diesem
Kontext nicht ohne Grund darauf, dass bis in die
späten 1980er ein Streit zwischen Regierungs- und
Oppositionsparteien herrschte, der prinzipiell darin
bestand, dass die einen mangels hinreichender Belege
für die Schädlichkeit von Pornografie zu einer gesetzlichen
Lockerung tendierten, während die anderen
umgekehrt aufgrund mangelnder Beweise für die
Unschädlichkeit strengere Restriktionen forderten.17
Die Literaturwissenschaftlerin Silvia Bovenschen erahnt
bei manchen sogar eine Art „restaurative Sehnsucht
[…] nach jenem alten konservativ-christlichen
Beurteilungsschema demzufolge alles, was über eine
sittlich normierte unumgängliche Thematisierung
der Sexualität im Dienste der Fortpflanzung hinausgeht,
dem Pornografieverdikt anheimfällt“18 .
Ich hoffe nun einen kleinen Eindruck davon vermittelt
zu haben, dass wir es bei Pornografie oder
eher den Pornografien nicht mit dem zu tun haben,
was manche ungemütliche Zeitgenossen vor vielen
Jahren als „Schmutz und Schund“ bezeichneten. Gerade
weil Pornografie – wie nun gesehen – ein sehr
wandlungsfähiges Argument darstellt, wird es auch
im nächsten Teil der Reihe um Konflikte gehen. Wir
begeben uns auf das kulturelle Schlachtfeld der „Sex
Wars“ und werden sehen, dass man es in einer Diskussion,
in der es um nackte Menschen geht, niemals
mit nur zwei homogenen Gruppen zu tun hat.
Dementsprechend wird es in der folgenden forum-
Ausgabe um eine wichtige Front in diesem Konflikt
gehen, nämlich jene der Feministinnen. Diese
ermöglichten und verhinderten gleichzeitig vieles
durch ihre Art und Weise, den Pornografie-Diskurs
zu führen. Allem voran mussten die Damen aber
aufpassen, dass sie auf der Frontlinie nicht selbst
unter Beschuss kamen, denn einig war man sich in
der weltweiten Frauenbewegung der damaligen Zeit
nicht. So heißt es also nächstes Mal: „Wie Porno zu
PorNO wurde …“. u
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