Drei Wahltermine stehen auf der politischen Agenda der kommenden 18 Monate. Angesichts der Entwicklung des Wahlverhaltens u.a. im Vereinigten Königreich, in Deutschland, Frankreich und den USA versprechen diese Wahlen auch hier interessant zu werden. 2017 sieht das Bild nämlich deutlich anders aus, als dies noch beim letzten Urnengang der Fall war. Rechtspopulistische Strömungen haben europaweit massiv „Stimmung“ geschürt und Zustimmung gesammelt; die simplis-tischen Forderungen und der ausländerfeindliche Diskurs ihrer Anhänger sind salonfähig geworden. Auch in Luxemburg haben neue Akteure sich Zugang zur (Online-)Öffentlichkeit verschafft.

Das Referendum von 2015 scheint hierzulande ein Schlüsselmoment gewesen zu sein. Wurde durch dieses Instrument politischer Mitbestimmung die autochthone Luxemburger Bevölkerung gespalten? Oder wurden nur Konfliktlinien sichtbar gemacht, die unterschwellig vorher schon bestanden und kein Ventil zur Äußerung fanden? Wenn ja, was bedeutet dies für die politische Landschaft? Dies waren unsere Ausgangsfragen für das vorliegende Dossier. Sie gaben uns aber zugleich auch einen Anlass, auf die „klassischen“ und historisch gewachsenen sozialen Spaltungen (französisch „clivages sociaux“) zu blicken und die Frage aufzuwerfen, welche Spaltungen die hiesige Politik in Zukunft bestimmen werden.

Die zwei Großherzogtümer

Seymour Martin Lipset und Stein Rokkan, zwei Politikwissenschaftler aus den USA und Norwegen, entwickelten Mitte des 20. Jahrhunderts den Cleavage-Ansatz und damit einen theoretischen Rahmen, der es erlaubt, Wahlergebnisse und die Entstehung sowie Entwicklung von europäischen Parteiensystemen zu erklären. Bis heute bleiben ihre Ideen wichtige Referenzpunkte in der Politologie, auch wenn sie zunehmend als obsolet dargestellt werden. In ihrer Arbeit zeichnen Lipset und Rokkan vier große Konfliktlinien, die in den europäischen Staaten vorzufinden sind. Diese Konflikte haben nachhaltige soziale Spaltungen generiert, die so tief waren, dass sie zur dauerhaften Gründung von politischen Parteien geführt haben, um so die Interessen der sich gegenüberstehenden Blöcke zu vertreten. Abhängig von den nationalen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und historischen Bedingungen haben die Parteiensysteme und -konstellationen anschließend unterschiedliche Formen angenommen. Lipset und Rokkan unterscheiden dabei zwischen folgenden „klassischen“ Konfliktlinien: Kapital vs. Arbeit; Kirche vs. Staat; Stadt vs. Land; Zentrum vs. Peripherie. Für das kleine Luxemburg sind aber eigentlich nur die beiden ersten Linien relevant.

Spätestens im Laufe der 1970er und 1980er Jahre wurde die Vorherrschaft der drei traditionellen Parteien in Luxemburg herausgefordert und neue Gräben vertieften sich. Wie überall in Europa entstand eine Konfliktlinie zwischen jenen, die auf Produktivismus, also dauerhaftes wirtschaftliches Wachstum und die Mehrung materiellen Wohlstands setzten, um gesellschaftlichen Fortschritt zu gewährleisten, und jenen anderen, deren „postmaterialistischer“ Diskurs die Werte von Ökologie, Nachhaltigkeit und immaterieller Lebensqualität betonte. Gleichzeitig gewann der Feminismus, der die vielfachen Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen überwinden wollte, an Schubkraft. Diese neuen sozialen Bewegungen führten letztlich zur Gründung einer grünen Partei auch in Luxemburg. Der Ursprung der ADR (die als „Aktiounskomitee 5/6-Pensioun fir jiddfereen“ entstand) ist entlang einer weiteren, geradezu typisch luxemburgischen Konfliktlinie auszumachen, nämlich jener zwischen öffentlicher Funktion und Privatsektor mit ihren ehedem jeweils unterschiedlich großzügigen Rentensystemen.

Das Wiederbeleben des „Roude Léiw“

Die ADR, die gewissermaßen aus einer nationalen Variante des klassischen sozio-ökonomischen Cleavage entstanden ist, kann heute als Sinnbild für eine neue Form von Konfliktlinie betrachtet werden. Auch wenn die Partei nicht die gleichen Wahlergebnisse verbucht wie z.B. die AfD in Deutschland oder der FN in Frankreich, setzt sie doch ähnliche thematische Schwerpunkte (Identität, Sprache, Nation). Die Debatte über Luxemburger Identität und Sprache – insbesondere im Zusammenhang mit dem Referendum von 2015 und der rezenten Ankunft von Flüchtlingen aus muslimischen Ländern – zeigt, dass diese Faktoren im öffentlichen Diskurs zunehmend wichtiger werden. Was vorher eher im Privaten diskutiert wurde, bestimmt heute mehr und mehr die politische Aktualität.

Begriffe wie „Elite“ und „Volk“ z.B. spielen mittlerweile auch hierzulande eine wichtige Rolle. Sie werden genutzt, um zwischen „denen da oben“ und „denen hier unten“ zu unterscheiden. Nach der klaren Ablehnung der drei Referendumsvorschläge spricht man in Luxemburg – angelehnt an das Resultat der Stimmenauszählung – demnach zunehmend von einer 80/20-Gesellschaft. Im Interview über diese Konzepte mit dem deutschen Soziologen Heinz Bude stellt sich jedoch heraus, dass die genannten Gruppen – aus soziologischer und psychologischer Perspektive – nicht klar abzutrennen sind. Das „Volk“ bestehe nicht nur aus dem „white trash“, meint Bude, man treffe hingegen auf drei Gruppen: die „Ignorierten“, die „Verbitterten“ sowie die „Selbstgerechten“, welche jeweils aus verschiedenen gesellschaftlichen Schichten stammen. Sowohl „Elite“ als auch „Volk“ sind sehr heterogene Gruppen. Fernand Fehlen erklärt im Hinblick auf Luxemburg, dass, obwohl auch hier eine solche Konfliktlinie nicht abzustreiten ist, die „zufriedene Mitte“ eigentlich viel größer ist als dargestellt und das Bild eines „80/20-Clivage“ der eigentlichen Realität nicht entspricht.

Die Renaissance des „Roude Léiw“ kann zum Teil auch als Antwort auf rezente demographische Veränderungen in Luxemburg interpretiert werden: Der Dienstleistungssektor hat massiv an wirtschaftlichem Gewicht gewonnen, wobei seine Aktivitäten heute weit über die Finanzbranche hinausreichen. Das damit einhergehende Wirtschaftswachstum erfordert eine steigende Anzahl von qualifizierten Arbeitnehmern, die in Luxemburg nicht zu finden ist. Folglich ist sowohl das Volumen der Grenzgänger als auch das der nicht-luxemburgischen Arbeitnehmer und Einwohner gewachsen. Es haben sich Parallelwelten gebildet, zwischen denen es keine oder nur wenige Berührungspunkte gibt. Wie sich diese verschiedenen Gruppen untereinander wahrnehmen, erklärt Frédéric Mertz, stellvertretender Direktor des Centre d’étude et de formation interculturelles et sociales (CEFIS), in seinem Beitrag. Charles Margue, Studienleiter von TNS Ilres, erkennt objektive Spaltungen, glaubt aber nicht, dass es zum „Vulkan-ausbruch“ kommen wird, da Grenzgänger sowie ausländische und luxemburgische Bürger wirtschaftlich voneinander abhängig seien. Vielmehr sieht er einen potenziellen Konflikt zwischen gegensätzlichen Interessen der Generationen und somit indirekt auch der Eigentümer und Mieter, eine Spaltung, die in einem Interview mit dem Soziologen Louis Chauvel weiter ausgeführt wird.

Historische Spaltungen heute

Trotz neuer soziopolitischer und wirtschaftlicher Entwicklungen bestehen weiterhin auch klassische Spaltungen. Dies wurde spätestens beim Streit um die Kirchenfabriken deutlich. Das „C“ der CSV scheint demnach wieder an Bedeutung gewonnen zu haben. Ob es sich tatsächlich um ein Revival des Konfliktes zwischen Kirchenanhängern und Vertretern eines laizistischen Staatsverständnisses handelt, analysiert Pierre Lorang in seinem Beitrag. Eine ähnliche Überlegung kann auch für den Konflikt zwischen Ökonomie und Ökologie gelten. Grüne Werte sind heute in den meisten Partei- und Wahlprogrammen wiederzufinden, frei nach dem Motto: „Ein bisschen grün (washing) kann nicht schaden.“ Haben grüne Ideen also genügend Legitimität gewonnen, dass sie sich in den Mainstream eingegliedert haben? Braucht es etwa mehr „deep green“? Jean Huss, Mitbegründer von déi gréng, erinnert sich an die Entstehung der Partei in den 1980er Jahren zurück und untersucht, ob deren Weiterbestand tatsächlich durch die genannte Spaltung zu erklären ist.

Im Fall des Geschlechter-Cleavage konnten die Schwellen, die Lipset und Rokkan zur Parteibildung postulieren, nicht überschritten werden. Feministische Interessen konnten und können zwar artikuliert werden und haben u.a. zur Frauenquote geführt, jedoch kam man/frau kaum über dieses Stadium hinweg. Männer verdienen im Durchschnitt weiterhin mehr und Frauen werden immer noch von vielen – oft auch von ihresgleichen – nach wie vor als das schwache Geschlecht angesehen. Enrica Pianaro von Rosa Lëtzebuerg stellt jedoch die Sinnhaftigkeit einer starren Konfliktlinie zwischen Mann und Frau grundsätzlich in Frage. Für sie gibt es mehr als nur zwei Gruppen, die sich gegenüberstehen.

Die Spaltung von morgen

Schlussendlich ist eine letzte Konfliktlinie hervorzuheben, welche eine neue Dimension in die Wahlforschung hineingebracht hat – und dies in mehreren Hinsichten. Die Rede ist vom sogenannten „digital divide“, dem Graben zwischen den „digital natives“ und jenen Menschen, die es verpasst haben oder denen es nicht möglich war, auf den Zug der neuen digitalen Technologien und Kommunikationsformen aufzuspringen. Nicht nur smarte Mobilität, smarte Verwaltung und smartes Wohnen stellen besonders ältere Menschen vor unüberwindbare Herausforderungen, auch neue Formen der politischen Kommunikation in Online- und Offline-Partizipationsprozessen können Menschen mit nur wenig Kenntnissen über dessen Nutzung ausschließen. Zugleich besteht ein Risiko anderer Natur, denn materieller Zugang heißt nicht gleich korrekte Nutzung. So riskieren laut Jos Bertemes, ehemaliger Direktor des SCRIPT, neue digitale Technologien nicht nur die Kluft zwischen Jung und Alt zu vertiefen, sondern vor allem zwischen Menschen mit hoher und niedriger Bildung und Einkommen. Dies wiederum wird jedoch einen Rückkopplungseffekt auf deren Informationswelt und Wahlentscheidungen ausüben. Womit wir dann wieder bei den Parallelwelten, der 80/20-Gesellschaft, dem „Elite vs. Volk“-Diskurs, deren Ursprüngen und neuen Erklärungen für das Wahlverhalten angekommen wären.

Kim Nommesch

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