Luxemburg erzählen

Einführung ins Dossier

Wer seinem Kind am Abend eine Geschichte vorliest oder erzählt, der tut das nicht nur aus Gründen der Unterhaltung oder um das Kind in den Schlaf zu plaudern. Erzählungen vermitteln auch Kenntnisse, Werte oder Anregungen, die ein Kind beim Aufwachsen benötigt, um sich in der Welt zu orientieren. Pippi lehrt die Kleinen, Autoritäten in Frage zu stellen, während der Struwwelpeter das Gegenteil vermittelt. Für jeden hat die Literaturgeschichte etwas parat. Aber auch Erwachsene brauchen Geschichten, um die Wahrnehmung ihrer Welt zu bestätigen, in Frage zu stellen oder zu erweitern. Diese Erzählungen können literarischer Art sein, aber es gibt auch politische, ökonomische und natürlich historische Narrative, die uns erklären, in welcher Welt wir eigentlich leben. 

Bisweilen nennt man sinn- und identitätsstiftende Erzählungen, die Werte, Zusammenhalt und Emotionen vermitteln, auch Narrative – mitunter wird der Begriff des Narrativs aber auch inflationär benutzt, wie Samuel Hamen befindet, der das „Narrativ“ am liebsten auf dem Müllhaufen der überflüssigen Dinge entsorgen möchte, wie Sie am Ende unseres Dossiers lesen können. Mit dem Jahrhundertwerk La condition postmoderne von Jean-François Lyotard nahm die Karriere des Begriffs Narrativ paradoxerweise ihren Anfang, obwohl der französische Philosoph in seinem Buch gerade das Scheitern der großen Erzählungen ausgerufen hatte, die in Gestalt der Aufklärung auf der einen und des Idealismus auf der anderen Seite konstituierend und legitimierend für die Moderne gewesen seien. Auch die großen Gesellschaftsentwürfe von Marx oder Habermas ließen sich mit Lyotard nicht mehr aufrechthalten. An ihre Stelle würden, so Lyotard, kleinere, auch konkurrierende Diskurse treten, mittels derer sich Individuen und Kollektive Sinn zuschrieben. Ein attraktives Angebot, weil in diesem postmodernen Fahrtwind überall und jederzeit – in Museen, im Journalismus, aber auch in der Wissenschaft – sinnstiftende, legitimierende und konkurrierende Narrative ausfindig gemacht werden konnten. 

Es war einmal ein Finanzplatz

Indes, wer die sinnstiftenden – dominierenden oder auch marginalisierten – Erzählmuster identifizieren und analysieren möchte, die eine Gesellschaft, eine Nation oder ein anderes Kollektiv repräsentieren, für den spielt es keine Rolle, ob er mit dem Begriff des Narrativs oder dem der Erzählung operiert. Das ist letztendlich Begriffshuberei. Das Entscheidende ist, nach narrativen Mustern zu suchen, mit denen in der Öffentlichkeit, in der politischen Kommunikation, in der Wissenschaft, ja sogar in Familien Sinn, Legitimität, Zusammenhang und Relevanz hergestellt wird. Viele solcher Erzählungen folgen dabei einer Vereinheitlichung des Uneindeutigen, einer Glättung der Brüche, einer Sinndeutung des Sinnlosen. So wie Kinder sich wohl fühlen, wenn eine Geschichte einen Anfang, einen spannenden Verlauf und ein Happy End hat, geht es auch Erwachsenen. Wenn wir, um ein Beispiel zu nennen, wissen, dass der Finanzplatz Luxemburg, der von bösen ausländischen Mächten und überkritischen Journalismus-Kollektiven immer wieder für seine Steuertricks angegriffen wird (siehe die zahlreichen Leaks von Lux bis Letters), der wird beruhigter schlafen können, wenn uns die Kampagne „Eis Finanzplaz“ erzählt, dass die lieben Menschen, die auf der Internetseite der Kampagne ihren Kindern erklären, was sie den lieben, langen Tag so in ihren Finanz-Jobs tun, nur daran interessiert sind, dass es allen Menschen, die in Luxemburg leben, gut geht: „Wann et eiser Finanzplaz gutt geet, da geet et dem Land an domat eis alleguer och gutt.“ Genau das ist gemeint, wenn man sagt, Narrative reduzieren Komplexität und vereindeutigen das Uneindeutige. Also, liebe woxx, schreibt euch das mal hinter die Ohren, statt gemeinsam mit der internationalen Journalie immer nur auf unserem Land rumzuhacken.

Sowohl die jüngste Finanzkampagne „Ons Wirtschaft vu muer“, bei der von den Schlagworten „digital“ und „grün“ das zweite noch mit einer Menge Leben gefüllt werden muss (die grünen Fonds sind noch ziemlich grün hinter den Ohren), als auch die Marketing-Kampagne „Eis Finanzplaz“ setzen darauf, das Land neu zu etikettieren und sind damit Bestandteile des groß angelegten Nation Branding, das seit 2013 nach innen wie, so das Ziel, nach außen ein paradiesisches Bild von Luxemburg erzählen soll. Nation Branding geht soeben in die nächste Runde, und man ist erstaunt, wie offenherzig die Verantwortlichen über ihre Ziele sprechen. 

Es war einmal ein „Es“

Nun, acht Jahre nach Start der Kampagne und fünf Jahre nach Erfindung des Leitspruchs „Let’s make it happen“, sei es Zeit zu erklären, so Beryl Koltz, Filmregisseurin und Dossier-Verantwortliche im Außenministerium, wo das Nation Branding angesiedelt ist, bei der Präsentation der Kampagne für die Jahre 2021-2025 in der letzten Juni-Woche, was dieses „it“ eigentlich bedeuten soll. In den Augen des Ministeriums geht es um Vielfalt, Kreativität und Nachhaltigkeit, die in Luxemburg ermöglicht werden, dies alles unter der Maxime, dass sich Land und Leute immer neu erfinden. Dieses postmoderne Credo der flexiblen Luxemburger*innen wird sowohl historisch verankert (die Genese der hyperflexiblen Luxemburger*innen aus der Bauerngesellschaft), durchläuft den sekundären (Stahlindustrie) und brilliert im tertiären Sektor (Eis Finanzplaz), während natürlich die Digitalisierung (grün muss sie sein) den Weg in die Zukunft bahnt. 

Das alles klingt noch immer sehr vage und abstrakt, soll aber im Laufe der kommenden fünf Jahre mit ordentlich Leben gefüllt werden. forum gibt gerne Hilfestellung und nimmt mit diesem Dossier eine erste Sondierung vor. Wir haben zahlreiche Erzählungen und Narrative versammelt, die in Luxemburg zirkulieren, sich ergänzen, miteinander konkurrieren, solche, die dominieren oder marginalisiert bzw. verdrängt sind. Die ersten beiden Beiträge sind unbedingt im Zusammenhang zu lesen, deckt der erste doch auf, was der zweite im Dienst des Nation Branding reproduziert: ein merkwürdig vereinheitlichtes, teleologisches, sinnhaltiges Bild der Luxemburger Geschichte. 

Es war einmal „Es war einmal…“

Pit Péporté und Vincent Artuso rekonstruieren noch einmal die historische Meistererzählung über Luxemburg, die sich im 19. Jahrhundert entwickelt, im 20. Jahrhundert verfestigt und bis heute in vielen Bereichen gehalten hat, obwohl die Geschichtsforschung zentrale Elemente dieses Narrativs mittlerweile widerlegt hat. Nichtsdestotrotz ist sie noch immer wirkmächtig, wie der Beitrag von Sebastian Reddeker offenbart, der den Paradigmenwechsel in der touristischen Vermarktung des Landes dokumentiert. Aber auch hier, das macht eben den touristic turn aus, haben die Aspekte Offenheit und Dynamik Eingang ins nationale Marketing gefunden und erweitern die touristische Selbstdarstellung des Landes um Aspekte, die sich ein weltoffenes und ständig im Wandel befindliches Luxemburg heute gibt. Es ist spannend zu lesen, wie sich der luxemburgische Tourismussektor zwischen Beständigkeit und Dynamik aufstellt und gerade in der Verbindung der beiden Elemente dabei ist, ein Narrativ zu erschaffen, das das Land in seiner Außenwirkung in den kommenden Jahren prägen wird. 

Es war einmal ein Gerücht

Im Dossier folgen Beiträge, die ganz andere Luxemburg-Erzählungen präsentieren. Schwierigere, dunklere, widerständigere Narrative, die sich nicht vermarkten lassen, mit denen sich weder Investoren anziehen noch Touristinnen begeistern lassen. Die aber existieren und einen Blick auf die gern verdrängten Aspekte der Luxemburger Geschichte und Gesellschaft richten. Nachdem Guy Rewenig einen beliebten „Vollekssport“ der Luxemburger*innen literarisch einfängt, für den Werte wie Offenheit und Toleranz eher hinderlich sind und bei dem die Wirkmächtigkeit des Gerüchteverbreitens im Zentrum steht, geht es im Interview mit der Autorin Elise Schmit um Gerüchte ganz spezieller Art: nämlich um die bis heute kursierenden Erzählungen über den Tod des ehemaligen Gauleiters Gustav Simon, die sie in einem in diesem Jahr uraufgeführten Theaterstück unter der Regie von Anne Simon auf die Bühne gebracht hat. Schmit macht deutlich, welche gesellschaftliche Funktion diese Gerüchte in der Geschichte des Nachkriegsluxemburgs eingenommen haben, sodass man in einer Topik der wirkungsvollsten Luxemburg-Erzählungen an diesen Geschichten nicht vorbeikommt.

Es war einmal ein Anderes

Narrative befinden sich immer in Konkurrenz zu anderen Narrativen. Sie sind erzählerische Mittel im Kampf um die Deutung, was ein Land ausmacht. Naturgemäß sind einige von ihnen präsenter, andere marginalisiert oder bleiben unentdeckt. Die von der niederländischen Designerin Annelys de Vet 2003 initiierte Reihe Subjective Atlas of wurde 2019 auch um einen Subjective Atlas of Luxembourg erweitert, in dem Menschen aus Luxemburg ihre ganz subjektive Sicht auf das Großherzogtum künstlerisch umgesetzt haben. Unter der Perspektive der Diversität, die nun die Weiterentwicklung des Nation Branding leiten soll, gehört diese Publikation zur Pflichtlektüre für alle Kampagnenmitarbeiter*innen. Einen Einblick in den Atlas gewährt uns in diesem Dossier Anne Schaaf.

Es war einmal die Abgrenzung

Kein Land kommt in seinen Erzählungen ohne interne Abgrenzungen und Rivalitäten aus. Ob Bayern gegen Dortmund, der italienische Norden gegen den Süden, Paris gegen die Provinz: geografische Differenzierungsangebote gehören zu jeder nationalen Story dazu. In Luxemburg setzt sich einerseits der Süden und andererseits der Norden vom Rest des Landes und insbesondere von der Hauptstadt ab (man könnte auch sagen: Nord und Süd werden von der Hauptstadt an den Rand gedrängt, das ist natürlich immer eine Frage der Perspektive, des Ressentiment-Haushalts oder der persönlichen Vorlieben). Jean Back-Hoffmann, dessen Leben von der „allgegenwärtigen Arbed!“ geprägt wurde, erzählt von den Spezifika des Lebens im Süden von der Nachkriegszeit bis in die 1990er Jahre, während der Autor, Verleger und Musiker Robert Gollo Steffen das Nord-Narrativ mit Verve und Herz nicht nur rekonstruiert, sondern regelrecht zelebriert.

Es war einmal die Literatur

Nach der Entstehung der oralen Erzählung und mit dem Aufkommen der Schrift, wurde die Literatur zum Heimatort der Erzählung par excellence. Hier verdichteten sich im Laufe der Welt- und Literaturgeschichte die Selbstreflexionen von Gemeinschaften in künstlerisch gestalteter Form. Hier haben sich Identitätsvorstellungen nicht nur gespiegelt, hier wurden sie auch verfestigt oder gar hergestellt – und immer wieder auch hinterfragt. Das Ausmaß luxemburgischer Verstrickungen in die Shoah hat die Geschichtswissenschaft zwar in den letzten Jahren aufgearbeitet, literarisch hatte sich die Thematik bislang aber nicht in der hiesigen Literatur niedergeschlagen. Das beginnt sich zu ändern, stellt Victor Weitzel in seinem Beitrag über die jüngst veröffentlichten Romane von Jemp Schuster und Guy Koenig fest. Beide heben die luxemburgische Literatur, Weitzel zufolge, auf eine neue Ebene, und zwar nicht nur thematisch, sondern gerade wegen des Themas notwendigerweise auch sprachlich. Sie würden beide, der eine mit mehr Risiko, der andere abgesicherter, der eine gelungener als der andere, literarisch sich an ein viel zu lange unbehandeltes Thema wagen. Zur Qualität der luxemburgischen Gegenwartsliteratur macht sich Pit Panther in diesem Monat übrigens seine ganz eigenen Gedanken. Mal wieder kommt ihm dabei Heinrich Heine zu Hilfe.

Spannend für unser Dossier ist natürlich auch ein Blick in die Literaturgeschichte: Daniela Lieb zeichnet in ihrem aufregenden und überraschenderweise hochaktuellen Beitrag nach, wie das Motiv der Insel in der luxemburgischen Literatur zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg literarisch fruchtbar gemacht und politisch aufgeladen wurde. In ihrem Beitrag rekonstruiert sie, wie das luxemburgische Inselmotiv nicht nur konstituierend für das Selbstverständnis der Luxemburger*innen wurde, sondern historisch auch als Utopie diente. Aus dieser historischen Utopie ließen sich, so ihr Ausblick, auch heute Funken schlagen.

Es war einmal ein Ziel

„In Luxemburg kann man Ziele erreichen“, auch dies ist eine der Botschaften, die mit der anstehenden Fortführung der Nation Branding-Kampagne vermittelt werden soll. Eine Erzählung oder ein Narrativ kann dabei helfen, diese Botschaft unter die Leute zu bringen. Aber es braucht auch eine Entsprechung im real existierenden Luxemburg, damit die Erzählung kein Traum bleibt und mehr als ein Slogan ist. Die in diesem Dossier versammelten Luxemburg-Erzählungen schlagen durch ihre Vielfalt erste Schneisen in das große Terrain der Erzählungen über ein kleines Land. In der nächsten Saison wird forum daran weiterarbeiten, Schneisen ebenso in die Widersprüche und Probleme, aber auch in die Chancen und Potenziale unserer Gegenwart zu schlagen, damit wir alle prüfen können, wo die Story nur Wunschdenken und Marketing ist und wo sie echte Punkte trifft. Vielfalt, Kreativität und Nachhaltigkeit, das sind wunderschöne Wörter: Es gilt, sie nun mit Leben zu füllen.

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