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Luxemburg „ohne Filter“
Die neue RTL-Serie routwäissgro beobachtet Luxemburger im Alltag und zeichnet gekonnt ein eigenes Bild der Gesellschaft.
Den grauen Alltag grauer Mäuse, nichts anderes erwartet man sich beim ersten Blick auf den Titel routwäissgro. Das hoffnungsvolle Blau der Luxemburger Fahne wird ersetzt durch einen Farbton, der etliche Nuancen bietet, und sich darüber definiert, weder (schwarz) noch (weiß) zu sein. Besonders subtil ist die Namensgebung nicht, doch passt sie zeitlich wunderbar zur Identitätssuche auf der sich Luxemburg im Jahr 2015 befindet. Ob der Lëtzebuerger Film Fong und RTL bereits ahnten, welche Debatte im Marienland toben würde, als sie der Produktion von routwäissgro grünes Licht gaben?
Man möge sich doch bitte einen Spiegel vor die Nase halten und sich fragen, wie das Luxemburg von morgen aussehen solle, forderte Premierminister Bettel Anfang des Jahres mehrmals. Luxemburg blickte in den Spiegel, war vom eigenen Antlitz angetan und stellte fest, es sei auch sonst zuverlässig, dynamisch und offen. Damit waren Referendum und Nation branding abgehakt. Für weitere Nuancen blieb kein Platz. routwäissgro bietet die Möglichkeit, dieses Versäumnis nachzuholen.
Im März 2014 orderten RTL und der Lëtzebuerger Film Fong neue Konzepte für mögliche Fernsehserien. Zurückbehalten wurde routwäissgro, eine Dokumentarserie, die vom Kollektiv 13, einem Zusammenschluss Luxemburger Regisseure, konzipiert und gemeinsam mit Calach Films produziert wurde. Die Reihe besteht aus 24 Kurzfilmen, in denen jeweils eine Person dabei verfolgt wird, wie sie ihren Alltag in Luxemburg meistert.
Die an jeweils maximal acht Drehtagen gefilmten Folgen dauern alle 26 Minuten und unterliegen einem gemeinsamen visuellen Konzept. Alles muss reine Beobachtung sein, so die Maxime. Will heißen: kein Voice-over, keine Hintergrundmusik, keine Einblendungen. Das einfache und sachliche Kamera-bild soll dazu dienen, die Subjekte kommentar- und wertungsfrei darzustellen.
Da die Filme von bekannten Namen des Luxemburger Films, wie Max Jacoby, Claude Lahr oder Laura Schroeder, gedreht wurden, ist es ein wenig bedauerlich, dass keiner der Regisseure seiner Folge einen eigenen Stempel aufdrücken konnte. So erweckt die Serie teils den Eindruck, als seien die Regisseure beliebig austauschbar. Optische Hingucker, wie die Schwimmbadszenen in Jacques Molitors Friem Kierper bilden eher die Ausnahme als die Regel.
Auf den ersten Blick und ganz im Sinne der Vorgaben verzichten alle der zehn bislang ausgestrahlten Folgen auf direkte Kritik an der Luxemburger Gesellschaft. Einzeln genommen sind die Folgen, bis auf wenige Highlights (Den Ebrima am Pescatore, Wantermäerchen) nicht einmal besonders interessant, weil sie – auch aufgrund der stilistischen Einschränkungen – meist recht eintönig sind. So fällt es schwer, abseits des Gesamtkonzeptes, einen 26-minütigen Film über die Beziehung eines Mannes zu seinem Rettungshund zu rechtfertigen. Doch betrachtet man alle zehn Folgen nebeneinander, erkennt man mehrere thematische rote Fäden, die zum Nachdenken anregen.
Wortlose Kommentare
So zeichnet gleich die erste Folge ein, um Jupp, das Subjekt des Openers, zu zitieren, „wunderprächtiges“ Bild der Luxemburger Konsumgesellschaft. Jupp kocht und isst und trinkt und raucht – ohne Ende. Sagt er zu seinem Freund, „du weess jo, ech muss all Su ëmdréien“, wirkt dies so klischeehaft luxemburgisch, als sei er einem Andy Bausch Film entsprungen. Man sieht ihn genüsslich grunzend an der Fleischtheke eines großen Nahrungshandels vorbeischlendern, und der Zuschauer ist geneigt, sich mit ihm zu freuen.
Das absurd Verschwenderische an dieser Szene wird einem jedoch spätestens in Folge 10 klar, in Anbetracht der Unmengen an Weggeworfenem, die sich im Schifflinger Recyclingcenter häufen. Dass es auch menschliche Opfer dieser Konsum- und Wegwerfgesellschaft gibt, zeigt Jean-Louis Schullers ergreifendes Porträt eines Süchtigen, der durch den Entzug hofft, seinen Platz in der Gesellschaft wiederzufinden. Es ist die Kehrseite jenes Verhaltens, welches man bei Jupp noch irgendwie lustig und heimisch fand. Die Trennlinie zwischen Habenden und Nichthabenden, Glück und Unglück, wird deutlich gezogen. Und dennoch ist ersichtlich, wie nah diese Zustände in der Luxemburger Gesellschaft beieinanderliegen.
Den Halt, den die Gesellschaft bietet, sucht auch Ebrima, Flüchtling aus Gambia und Pfleger im Altenheim Pescatore. Denn Ebrima, ein fleißiger und einfühlsamer junger Mann, ist nach Luxemburg gekommen, um sein Leben selbst in die Hand zu nehmen – ein weiteres Element, das die Protagonisten der Folgen vereint. Dieses Streben nach Selbstverwirklichung dominiert auch eines der wenigen Porträts, die sich keiner sozialen Schieflage annehmen. Die 14-jährige Nadia ist eine hochbegabte Violinistin. Doch zwischen Schularbeiten, Musikunterricht und dem Teenagerdasein müht sich Nadia die richtige Balance zu finden. „Ganz vill üben, ganz vill léieren a ganz vill schlofen“, rät ihre Lehrerin ihr und man fragt sich, wieso es nicht möglich scheint, dem Mädchen ein wenig dieser Last von den Schultern zu nehmen.
Den Stellenwert des Ichs, der eigenen Ambitionen, inmitten einer Gesellschaftsstruktur, die diesen nicht zwingend dienlich ist, hebt auch die Folge „Friem Kierper“ hervor. Der HIV-positive Jean-Benoît kommt gut mit seiner Infektion zurecht, doch seinem Umfeld gelingt dies weniger. Als Franzose in einem fremden Land fällt es ihm umso schwerer, seine Perspektive anderen verständlich zu machen. Die Kulturvielfalt erweist sich für ihn teilweise als Hindernis. Doch für die Halbrussin Nadia, den Gambier Ebrima, und im beschaulichen Martelingen an der belgisch-luxemburgischen Grenze erweist sich diese Vielfalt als wichtiger Teil der Luxemburger Identität.
Fernsehen als Zeitdokument
Man könnte meinen, ähnliche Fälle, wie die in routwäissgro geschilderten, gebe es überall. Wieso sollten sie sinnbildlich für Luxemburg stehen? Doch im Ringen zwischen Mensch und Gesellschaft wird immer deutlicher, wie sehr die Möglichkeit zur Selbstverwirklichung an den Lebensort geknüpft ist. Das Rot und Weiß im Titel der Serie sind ebenso wichtig wie das nuancierende Grau.
Den Blick auf die rote Brücke gerichtet, entsteht daher einer der rührendsten Dialoge der Reihe zwischen Ebrima und einer seiner Seniorinnen. Wehmütig spricht die ältere Dame von sonntäglichen Spaziergängen entlang der drei Eicheln. Mit den aus dem Boden sprießenden Stahlbauten des Kirchbergs kann sie nichts anfangen. Dem jungen Mann aus Gambia hingegen gefällt es – er kennt Luxemburg nur so, und darin gründet seine Hoffnung. Die Frage nach der Identität Luxemburgs – ob in Bildungs-, Konsum- oder Sozialfragen – liegt im Herzen der Serie.
routwäissgro entwickelt ein Bewusstsein für den Wandel des Landes und wird so zu einem interessanten Zeitdokument. Luxemburgs Entwicklung vom Bauern- zum Bankervolk wird nicht nachgezeichnet. Der Fokus liegt nur auf dem Hier und Jetzt. Das Luxemburg im Jahre 2015 „ohne Filter“, sprich ohne politischen Spin: Die Serie zeichnet ein Bild von Parallelwelten, in denen Menschen aneinander vorbei leben. Und so mag sie in einigen Jahren als Zeitkapsel dienen, um späteren Generationen zu zeigen: All dies war Luxemburg.
Letztlich macht routwäissgro eines deutlich, nämlich, dass Farbenlehre bei der Identitätsfindung unangebracht ist. Weder Rot-Weiß-Blau noch Rot-Blau-Grün und sicherlich auch nicht das Grau des Titels können der Vielfalt eines Volkes gerecht werden. Insofern ist es richtig, dass die Serie nicht versucht, eine klare Antwort zur Frage unserer Identität zu finden. Diese Unschlüssigkeit passt zum Zeitgeist. Von Nadias Wunsch Geige zu spielen, bis hin zur Ortsbestimmung in Martelingen, suggeriert routwäissgro, dass Ungewissheit zum Alltag gehört. Und Menschen, die in den Spiegel blicken, und nicht wissen, ob sie mögen, was sie sehen, sind zumeist dann doch sympathisch.
Die ersten zehn Folgen von „routwäissgro“ können unter http://tele.rtl.lu/emissiounen/documentaire-routwaissgro/lu/ aufgerufen werden. Neue Folgen gibt es ab dem 11. Oktober bei RTL.
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