Luxemburgs andere heilige Kuh

Einführung ins Dossier

Grundeigentum ist unbewegliches Vermögen. Man nennt es auch Immobilie. Und wie es so schön, lückenhaft und harmlos auf Wikipedia heißt, unterscheidet man „je nach Nutzung der Immobilien […] zwischen unbebauten Liegenschaften (Wald, Ackerland, Wasserflächen, Brachland), Wohnimmobilien und Gewerbe­immobilien“. Da im Dossier dieser forum-Ausgabe vornehmlich von Grundeigentum in Luxemburg die Rede ist, wird sich hier auf eine Kategorie Immobilen konzentriert, die für die hiesigen Verhältnisse von zentraler Bedeutung ist: auf von allgemeinen oder Teilbebauungsplänen erschlossenes oder aufgrund seiner Lage potenziell erschließbares Bauland zu Wohnungszwecken. 

Und weil diese Kategorie aus gesellschaftlichen Gründen, unter dem Blickwinkel von Wohnungsnot und in den Himmel wachsenden Wohnpreisen, so zentral ist, ist in diesem Dossier nicht die Rede vom Wald, seiner Parzellierung, umstrittenen Nutzung unter Auflagen und Erneuerung im Rahmen der Klimakrise. Es ist auch nicht die Rede von den Wasserflächen, die unter besonderem Schutz stehen, und dennoch unter der intensiven Landwirtschaft und dem Klimawandel leiden. Und es wird hier auch das Thema „Ackerland“ nicht behandelt, obschon das Ackerland, seit zehn Jahren bei 131.000 Hektar liegend, sich allgemein ungemein stark verteuert hat1 und am Rande der bebauten Gebiete bei starker demografischer Entwicklung des Landes einen zunehmend unsicheren Status erlangt hat, was die Planung und Entwicklung lebensfähiger Agrarbetriebe behindert, deren Zahl zwischen 2010 und 2019 von 2201 auf 1872 gesunken ist.2 Kurzum, es geht in diesem Dossier um das Grundeigentum als Wohnimmobilie und als Bauland für Wohnzwecke sowie um andere Immobilien, die es ebenso werden sollen.

Note 23

Im Februar 2019 erregte die sogenannte Note 23 vom Observatoire de l’habitat im LISER3 großes Aufsehen.4 In diesem Papier ist die Rede von 2.959 Hektar potenziellen Baulands im Jahre 2016, von einem geschätzten Wert von 20,7 Milliarden Euro, wie es der an dieser Note maßgeblich beteiligte Forscher Antoine Paccoud in einem kurz darauf erschienenen Artikel im Lëtzebuerger Land genau festhielt.5 Die Note 23 beschreibt zum ersten Mal einen bemerkenswerten Konzentrationsprozess von bebaubarem Grundeigentum in den Händen weniger Privatfirmen und Großeigentümern in einem Land, in dem 70 % der Haushalte in ihrer Eigentumswohnung leben und viele sich in einer relativ egalitären Gesellschaft, gar einer „Demokratie der Eigentümer“6 wähnten. In diesem Land hat aber das Fehlen von mindestens 34.000 Wohnungen in zehn Jahren zu einer Verdoppelung der Wohnpreise und damit zu einer sich verschärfenden Wohnungsnot geführt, die gesellschaftlich immer breitere Kreise zieht – bis hin zu den Nachkommen der oberen Mittelschichten. So erfuhr die Öffentlichkeit, dass 2016 z. B. 159 Personen 25,1 % des Baulandes besaßen, und das bei einem durchschnittlichen Wert von 21,4 Millionen Euro pro Person. Die Note 23 stellte ebenfalls fest, dass 746 Privatfirmen 442 Hektar oder 14,9 % des verfügbaren Baulandes ihr Eigentum nannten. Noch frappierender war die Feststellung, dass zehn Privatfirmen ganze 172 Hektar, 5,8 % des gesamten verfügbaren Baulandes, fast 40 % der Flächen, die überhaupt im Besitz von Privatfirmen waren, besaßen – also im Durchschnitt 17,2 Hektar. Was das bedeutet, wird klar, wenn man das Zentrum der Hauptstadt als Maßstab heranzieht: Es erstreckt sich über 22 Hektar. 

Note 29 

Im November 2021 wurde dann die Note 29 veröffentlicht.7 Die Ergebnisse von 2019 wurden bestätigt und die Analyse wurde verfeinert. Für 2020/21 erwies sich, dass 3.447 Personen, 0,5 % der Bevölkerung, im Besitz von 1.865 Hektar Bauland waren, 50 % der verfügbaren Fläche. Es erwies sich, dass jetzt zehn Privatfirmen über die Hälfte des Baulandes verfügten, das sich im Besitz von nunmehr nur noch 627 Privatfirmen befand. In der Mehrzahl handelte es sich um Luxemburger Firmen, die auf mehreren Ebenen im Immobilien­sektor tätig waren. Die Forscher vom LISER fanden ebenfalls heraus, dass die Einzelpersonen sehr zurückhaltend waren, wenn es darum ging, Bauland zu bebauen, während die Privatfirmen angaben, stark an einer zügigen Bebauung interessiert zu sein. „1 000 particuliers et 20 acteurs de l’immobilier pourraient mettre en construction près d’un tiers des logements potentiels estimés dans les cinq prochaines années“, schlussfolgerten die Forscher, was innerhalb von fünf Jahren zu einer Verdoppelung der Schaffung von Wohnungen in Luxemburg führen könnte. 

Namen

Anfang 2022 veröffentlichte das Ministerium für Wohnungsbau dann eine dreiseitige Notiz mit Zusatzinformationen zur Note 29.8 Damit reagierte die Regierung erklärtermaßen auf eine dringende Nachfrage seitens der Medien und lieferte „zusätzliche Verwaltungsdaten“ zu den 49 Eigentümern von über 5 Hektar Bauland, insgesamt 935 Hektar oder 25,2 % des 2020/21 verfügbaren Baulands. Kurzum: Die Öffentlichkeit erfuhr amtlich die Namen einer stattlichen Anzahl von öffentlichen oder religiösen Körperschaften, Privatfirmen und Individuen, die man durchaus als Großgrundbesitzer bezeichnen darf. Diese Geste ist in ihrer Tragweite mit der Aufhebung des Bankgeheimnisses im November 2014 zu vergleichen. Mit einem großen Unterschied: Die Lüftung des Geheimnisses, wer denn nun zu den Großgrundbesitzern im Großherzogtum gehört, ist nicht auf Druck von außen zurückzuführen, sondern auf den gesellschaftlichen und medialen Druck von innen, der von der Wohnungsnot ausgeht, die inzwischen wie gesagt auch die Nachkommen der Wohnungseigentümer bis hin in die oberen Mittelschichten betrifft. Hypothetisch könnte die Sensibilisierung dieser gesellschaftlichen Schichten für die Wohnungsfrage aufgrund ihres Hebeleffektes in den undurchsichtigen Entscheidungsmechanismen bei Immobilienfragen in Luxemburg vielleicht in einer nächsten Phase eine Rolle bei ihrer partiellen Lösung spielen, ginge alles nach rationellen Kriterien vor sich – also ohne die Faktoren Gier und Lust am Haben.

Mit diesen „compléments d’informations administratives“, wie die Mitteilung übertitelt war, wurde auch niemand an den Pranger gestellt. Die unübliche Transparenzgeste der Regierung hat eher wilden Gerüchten und Vermutungen den Hahn abgedreht. Die Presse hat sich danach hauptsächlich damit beschäftigt, die Betroffenen anzusprechen und über deren strategische Vorhaben zu berichten, soweit sie sich dazu äußerten, oder sie noch kritischer zu untersuchen, soweit sie dazu schwiegen.9 Einige waren nicht darüber erfreut, dass sie nun nicht mehr unter dem Radar Bauland zusammentragen können. Aber die Veröffentlichung der Liste gab besonders den großen Privatfirmen die Möglichkeit, ihre Forderungen nach einfacheren und verkürzten Genehmigungsprozeduren vorzutragen und darauf zu pochen, dass nicht sie diejenigen sind, die Bauland spekulativ zurückbehalten wollten. Diese Aussagen decken sich mit den Ergebnissen der LISER-Noten 23 und 29. Es sind die Privatpersonen als Eigentümer – und aus politischen Gründen die Gemeinden –, die zum Club der Renitenten gehören, die Bauland zurückhalten.

Hier lohnt sich ein tiefer Blick in den Brunnen der Vergangenheit, den unter anderem die Autoren der Beiträge zu diesem Dossier liefern. 

Ein Volk von Eigentümern

Der Historiker Fabio Spirinelli erwähnt z. B. die Rolle, die Eigentum gespielt hat, als es noch zur Zeit des Zensuswahlrechts (1839-1918) eine wesentliche Voraussetzung dafür war, dass Männer passiv und aktiv an Wahlen teilnehmen durften. Mit der Industrialisierung verschlechtern sich die Wohnbedingungen der zuziehenden Arbeiter und kleinen Angestellten. „Mietskasernen“ sind verrucht. Die Regierung unter Paul Eyschen bemüht sich ab Ende des 19. Jahrhunderts um die Förderung von bezahlbarem Wohnraum, den sie sich, ihrem eigenen bürgerlichen Habitus entsprechend, idealiter als Einfamilienhaus und damit „Quell des Glücks für die Familie“ vorstellt. Ohne viel Erfolg bei den Kleinverdienern. Und auch die Kommunen stellen sich quer. Die Ansiedlung neuer Berufsschichten ist unerwünscht. Nach dem 1. Weltkrieg versucht die Regierung dann, den Vermietungsmarkt zu regulieren, der von den Eigentümern und ihrer Lobby im Parlament – alle Gruppierungen mit Ausnahme der Sozialisten – beharrlich als Eingriff in die Rechte der Eigentümer bekämpft wird. Mit dem allgemeinen Wahlrecht steht die Regierung dennoch, so Spirinelli, bei den Kleinverdienern in der Pflicht und beschließt neue Maßnahmen, die den Zugang zu Baukrediten erleichtern sollen. Für Spirinelli führt vor allem die Wohnungspolitik nach dem 2. Weltkrieg dazu, dass der Prozentsatz der Haushalte, die in ihren vier Wänden wohnen, von 49 % im Jahr 1947 auf 73 % im Jahr 2011 gestiegen ist.10 „Die Luxemburger sind dabei, ein Volk von Eigentümern zu werden“, heißt es in der Tat in der Begründung des Gesetzes von 1979 zur neuen Wohnungsbaubeihilfe, die auch Michel-Edouard Rubens Thesen mitinspiriert hat. Spirinellis Ausführungen zum Schutz von Grundeigentum gegen Enteignungen aus öffentlichem Interesse und zur strikten Auslegung der Rechte der Eigentümer durch die Gerichte machen verständlich, wieso die Autoritäten noch nie auf Enteignung zur Schaffung von Wohnraum zurückgegriffen haben und es wohl auch nie tun werden. 

„It’s the market, stupid!“

Markus Hesse, Geograf und Raumplaner, Professor für Stadtforschung an der Universität Luxemburg, geht in seinem Beitrag auf „Grund und Boden als diskursives Phänomen“ ein. „Wer die Begriffe besetzt, ist für die politische Schlacht gerüstet“, schreibt er. So strukturieren „die leitenden Ideen der neoliberalen Ökonomie der letzten Jahrzehnte (freie Märkte, Vorrang für das private Eigentum, Abbau des Staates)“ u. a. auch „als eigene Schicht von Wahrnehmung der Wirklichkeit […] den Umgang mit Grund und Boden“. Seine These: „Freiheit und Selbstbestimmung sind zentrale Elemente im Diskurs über Grund und Boden: Das private Verfügungsrecht an Grundeigentum genießt in marktwirtschaftlichen Systemen oft Verfassungsrang. Entsprechend wird der Freiheitsbegriff vor allem dann bemüht, wenn dieses Verfügungsrecht in Frage gestellt wird, oder wenn an die Sozialpflichtigkeit von Eigentum appelliert wird“. 

Hesse analysiert in seinem Beitrag die Grundzüge von drei Schichten des Diskurses zum Wohnungsmangel: was das Problem ausmacht, was seine Ursachen sind und wie es konkret gelöst werden könnte, dies unter der Voraussetzung, dass „die Besorgnis darüber […] von einer großen Mehrheit der Öffentlichkeit geteilt [wird] – auch in den politischen Parteien“. Spannend sind seine Feststellungen zur Unvollständigkeit des gängigen Mehrheitsdiskurses zur Wohnungsfrage, der noch immer auf das Eigenheim zentriert ist und die Fragen zur Art der Raumplanung und des Zusammenlebens ausklammert. Ebenso seine These, die weder von den Kommunen noch vom jetzigen Wohnungsbauminister entkräftet wurde: „Kommunale oder staatliche Bodenpolitik gibt es zwar punktuell, aber nicht als offen artikulierte Strategie. It’s the market, stupid.“ Die Forderung nach „mehr bauen“ klingt für ihn wie „die Sehnsucht nach der guten alten Zeit“. Die aber gab es nie. 

Grundeigentum als obskures Objekt der (Luxemburger) Begierde

In Antoine Paccouds Artikel bekommen wir allerdings eine Idee von dem, was die alte Zeit gewesen sein könnte. Für den LISER-Forscher ist der Luxemburger Wohnungsmarkt gleichzeitig mit der Industrialisierung und den damit verbundenen Einwanderungswellen entstanden. Hier stoßen Grundbesitzer und die Neuankömmlinge, die nicht über Grund und Boden verfügen, aufeinander. Die Industrie stößt zwischen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts auf den Widerwillen der Grundbesitzer, Bauland für Wohnungszwecke zu veräußern, obschon es besonders im Süden des Landes zu einer regelrechten demografischen Explosion kommt. Die Grundbesitzer sehen die wirtschaftliche Entwicklung, die mit der Eisen- und Stahlindustrie einsetzt, von außen und wollen sich weder wirtschaftlich noch politisch verdrängen lassen.11 Paccoud wirft dann auch die Frage auf, warum die Regierung nach der Stahlkrise der 70er Jahre so viele Industriezonen gekauft und geschaffen habe, um die Industrie zu diversifizieren. Sie hat damit den Rückgang des Anteils der Beschäftigten der Industrie an der luxemburgischen Wirtschaft nicht anhalten können, die 2021 zu 69 % aus Grenzgängern besteht, und hat es zusätzlich versäumt, strategische Baulandreserven zu Wohnzwecken für die real oder potenziell zuziehenden Arbeitskräfte zu schaffen. Dennoch tragen diese Industriezonen zur Mehrwertschöpfung bei, aber, so Paccoud, mit einer minimalen Auswirkung auf das soziale und wirtschaftliche Gleichgewicht des Landes. 

Allerdings reißt das Bevölkerungswachstum nicht ab, während die Zahl neuer Wohnungen hinter dieser Entwicklung zurückbleibt. Damit wird die Wohnungsnot immer akuter, die Situation „unhaltbar“. Aufgrund der Zusammensetzung der Wählerschaft, mehrheitlich alteingesessene Besitzer, ist aber an eine Einschränkung der Eigentümerrechte im Rahmen dieser Krise kaum zu denken. Zuletzt überrascht Paccoud mit einem psychoanalytischen Exkurs zur Frage des „Mehrwerts an genießen“, des Lacanschen „plus-de-jouir“, den das Grundeigentum als Genuss des Objekts, Objekt des Verlangens und Kumulierens sowie als Maßstab des Erfolgs auslöst. Das Paradox der aktuellen soziokulturellen Atmosphäre in Gambiazeiten fasst Paccoud in zwei vielschichtigen Sätzen zusammen, die eigentlich längere Diskussionen im, weil hedonistisch-liberal, klatschreichen, aber reflexionsarmen Luxemburg auslösen müssten: „On ne nous demande même pas tellement de nous intégrer. L’idée est plutôt de former un corps social à travers une effervescence collective, où la jouissance ne doit pas être bridée.“ Luxemburgs andere heilige Kuh neben dem Auto, das Grundeigentum, ist eigentlich ein goldenes Kalb.

Mit Steuern gegen die Investitionsnachfrage 

Dass neue Gebote den Immobilienmarkt regeln, Bauland freisetzen und zur Entstehung von bezahlbarem Wohnungsraum führen, treibt den sozialdemokratischen Juristen Max Leners an, der seit drei Jahren unentwegt zu den Themen Grundeigentum und Wohnungsnot veröffentlicht und die Umrisse der Debatte wesentlich mitgestaltet. In seinem Beitrag geht es zuerst um die Frage, wem die Preisexplosion auf dem Wohnungsmarkt nutzt. Seine Antwort: zuerst den Investoren, die Wohnungen als „reines Investitionsobjekt ihrer privaten Geldvermehrung“ betrachten. Er begrüßt die ersten Schritte, die die Regierung in Sachen Immobilienkreditvergabe eingeleitet hat, um diese Investitionsnachfrage zu bremsen. Die tiefen Zinsen sind für ihn kein Preisantreiber; eher die Steuervorteile, die der Kauf einer Immobilie als Investitionsobjekt mit sich bringt. Daher fordert er „ein progressives und frühzeitig angekündigtes Auslaufen des Taux d’amortissement accéléré und eine Grundsteuer, „deren primäres politisches Ziel in der Mobilisierung des unbebauten Baulandes bestehen muss“. Sie sollte so angelegt sein, dass sie den ökonomisch hypothetischen Mehrwert, der pro Jahr durch das Brachliegen von Bauland entsteht, abschöpfen würde. Eine „signifikante Preislinderung der Immobilienpreise durch diese Steuer“ erwartet Leners aber nicht. Sie wäre „vielmehr eine Maßnahme gesellschaftlichen Anstandes“, so Max Leners zutiefst katonische Haltung. Dieses zwischen Steuerpolitik und Moralethik angesiedelte Vorhaben könnte aber durch die „ausländische Investitionsnachfrage“ vereitelt werden, die ebenfalls gebremst werden müsste. Leners spricht sich für ein der Schweizer Lex Koller nachempfundenes Genehmigungssystem als „bestmögliche Steuerungsoption“ aus, sollten ausländische Investoren zum auch dem Wirtschaftsstandort schadenden Anheizen der Immobilienkrise beitragen. 

Einschränkung der Entwicklungsrechte der Grundeigentümer

Dass Grundeigentum eine begrenzte Ressource ist, thematisieren Philippe Nathan und Sergio Carvalho des Escher Architektur-Büros 2001 mit dem Projekt Soil and People, das im Rahmen von Luxembourg in Transition Szenarien für ein klimaneutrales Luxemburg entwickelt hat. In Luxemburg wird nicht gerade zimperlich mit dieser Ressource umgegangen: 0,5 Hektar werden pro Tag durch den Bau von Immobilien und Infrastrukturen verbraucht, „die vierthöchste Landnahme-Rate in Europa“. Die Architekten stellen den Lebensstil der Menschen in Frage, das Einfamilienhaus in der Vorstadt, die Ernährung, die vorwiegend auf Milch- und Fleischprodukten aufgebaut ist, usw. Ihre These: „Der Bezug vom Menschen zum Boden ist also somit essenziell nicht nur im Hinblick auf die Klimakrise, sondern auch auf die ganzheitliche Zukunft unserer Gesellschaft.“ Sie schlagen neue Wege vor: Strategien der Kohlenstoffbindung durch Bewaldung und Umdenken in der Wasserwirtschaft, Veränderung der Ernährungsart in Richtung proteinreicherer Getreide, weniger Bodenversiegelung. 

Überhaupt: Wann und wo gebaut werden soll, wird eine der zentralen Fragen sein, die eine auf Planung setzende Politik zu beantworten haben wird. Das Team Nathan/Carvalho plädiert für eine neue Planungs- und Baukultur, „welche systematisch verhindert, dass bestehendes Acker- oder Waldland der mittelmäßigen Entwicklung verfällt, jedoch zugleich unterentwickelte versiegelte Flächen identifiziert und neue Maßstäbe setzt, um diese Gebiete optimal zu nutzen und somit demografisches und wirtschaftliches Wachstum qualitativ ermöglicht.“ Dafür bedarf es der „Übertragung von Entwicklungsrechten“, was nichts anderes heißt, als dass Grundeigentümer einen Teil ihrer Rechte zum Schutze des kulturellen und landschaftlichen Erbes im Interesse der Allgemeinheit eingeschränkt sehen könnten. 

Traurige Leidenschaften 

Nach der Lektüre dieser Beiträge zum Grundeigentum drängen sich viele Eindrücke auf, und besonders zwei rote Fäden. Der eine ist die Gier derjenigen Grundeigentümer, die Bauland unnötig zurückhalten, damit einer sehr traurigen Leidenschaft nachgehen und großes gesellschaftliches Leid schaffen. Der andere ist die über ein Jahrhundert sich hinziehende Renitenz, ja eine fast anal-retentive Haltung von Staat und Kommunen, für ausreichenden Wohnraum für die faktisch und potenziell zuziehenden Arbeitskräfte des Standorts Luxemburg zu schaffen. Und doch stellen sie fast 50 % der Bevölkerung. Da mischt sich viel Ungesagtes in das angstbesetzte Thema, dass man doch Herr im eigenen Lande bleiben will. Und die materielle Unfähigkeit der meisten kommunalen Strukturen, mit der demografischen Entwicklung und ihren Folgen für Raum- und Infrastrukturplanung mitzuhalten, spielt als Hemmschuh auch eine entscheidende Rolle. Ein sozialdemokratischer Minister erklärte mir einmal, ein ganz offenes Luxemburg mit genügend Wohnungen für alle, die dort arbeiten, würde zu teuer. Zu viele neue Schulen, Straßen, Krankenhäuser, Personal seien notwendig. Das Ganze wird dann noch von der untermauerten Feststellung abgerundet, dass aus Gier und Geiz mit der begrenzten Ressource Boden fahrlässig umgegangen worden ist. Gier und Geiz paaren sich gern. Glücklich wird man dadurch nicht.  

  1. Der mittlere Preis für landwirtschaftliche Nutzflächen ist zwischen 2010 und 2017 (letzte verfügbare Daten bei Statec) von 19.930  €/ha auf 34.420  €/ha gestiegen, also um 72,7 % in acht Jahren. Siehe: https://tinyurl.com/mr3caxja (alle Internetseiten, auf die in diesem Beitrag verwiesen wird, wurden zuletzt am 22. Februar 2022 aufgerufen).
  2. https://tinyurl.com/m2b4zr9b 
  3. Luxembourg Institute of Socio-Economic Research – https://www.liser.lu
  4. https://logement.public.lu/dam-assets/documents/publications/observatoire/Note23-A4.pdf
  5. Antoine Paccoud, „Un cercle vicieux qui crée de l’exclusion sociale“, in: d’Lëtzebuerger Land vom 8. März 2019, https://www.land.lu/page/article/204/335204/FRE/index.html
  6. Dass Luxemburg eine „démocratie des propriétaires“ sei und die öffentliche Hand seit über einem Jahrhundert immer wieder die Wohnungsnot und die Schaffung bezahlbarer Wohnungen thematisiert habe, ist eine These, die vom Wirtschaftsexperten der Fondation IDEA, Michel-Eduouard Ruben, seit 2018, zuletzt in einer Beitragsserie mit dem Titel „Crise du logement: Encore, toujours, tout le temps“ im Luxemburger Wort vom 5. Februar und 19. Februar 2022 – mit dem Hinweis auf die über ein Jahrhundert sich wiederholenden politischen Diskurse aus der konservativ-liberalen Ecke – beharrlich vertreten wird.
  7. https://logement.public.lu/fr/publications/observatoire/note-29.html
  8. https://logement.public.lu/fr/publications/observatoire/complement-note29.html 
  9. Bernard Thomas vom Lëtzebuerger Land veröffentlichte z. B. schlagartig hintereinander die Beiträge: „Le roi secret du foncier“ (28. Januar 2022) über die Firma Arend & Fischbach, die über 50 Hektar Bauland verfügt und ganz oben auf der Liste der Privatfirmen erscheint, „L’objet du désir“ (4. Februar 2022), in dem er einige Privatfirmen unter die Lupe nimmt, und „Réalisme extrême“ (11. Februar 2022), in dem er auf die Baulandpolitik der Stadt Luxemburg eingeht, die über 87,5 Hektar Bauland verfügt.
  10. Laut der Note 27 des LISER vom Oktober 2021 lebten 2019 67 % der Haushalte in Luxemburg in ihren eigenen vier Wänden. https://gouvernement.lu/dam-assets/documents/actualites/2021/10-octobre/07-note27/note-27.pdf 
  11. Diese Haltung der Grundbesitzer erinnert an die Ausführungen des früheren UEL-Vorsitzenden Nicolas Buck anlässlich einer Konferenz der Fondation IDEA am 10. November 2021. Dort erklärte er, die ganze Immobilienbranche sei wirtschaftlich gesehen vollkommen belanglos. Der Finanzplatz sei der Quell des Luxemburger Wohlstands. Der aber werde von den Ausländern beherrscht. Also lasse man den Luxemburgern den Grundbesitz, „wie in Korsika“. Dann folgte diese polemisch bis verächtlich ausgerichtete These: „Der Grund und Boden ist das Einzige, was den Luxemburgern noch bleiben wird.“ Und er fügte hinzu: „Was allerdings ein eminent politisches Thema ist.“ 

Als partizipative Debattenzeitschrift und Diskussionsplattform, treten wir für den freien Zugang zu unseren Veröffentlichungen ein, sind jedoch als Verein ohne Gewinnzweck (ASBL) auf Unterstützung angewiesen.

Sie können uns auf direktem Wege eine kleine Spende über folgenden Code zukommen lassen, für größere Unterstützung, schauen Sie doch gerne in der passenden Rubrik vorbei. Wir freuen uns über Ihre Spende!

Spenden QR Code